Frei Lesen: Abu Telfan

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Wilhelm Raabe

Abu Telfan

Sechsundzwanzigstes Kapitel

eingestellt: 2.7.2007



»Und da ist ja auch mein Täubrich! Und der Papa sitzt jedenfalls droben tief in der Arbeit und gräbt und wühlt im Schweiße seines Angesichts nach Wurzelwörtern. Alles steht und hängt und liegt am richtigen Flecke, und draußen vor der Haustür saß soeben ein nichtsnutziger, zerzauster schwarzer Kobold und schluchzte grimmig und hielt seinen Kopf mit beiden Fäusten, und im Hause auf der Treppe begegneten mir zwei Wichtelmännchen mit aufgestreiften Ärmeln und sagten: Dem Lumpen haben wir sein Teil gegeben und ihn hinausgeworfen mit all seinen Spinngeweben, zerbrochenen Töpfen und sonstigem widerlichen Plunder, es hat aber Mühe gekostet! – Es ist ein Vergnügen, Fräulein Serena, in so kalter Zeit heimzukommen und sich an einem so warmen Ofen die Hände wärmen zu dürfen.«

»Schüren Sie nach, Täubrich, und dann können Sie dem Papa melden, sein Herr Hagebucher sei wieder da und es habe sich wenig an ihm verändert!« lachte Serena, und Täubrich-Pascha, der in diesem Augenblick ebensogut Gänserich-Pascha hätte heißen mögen, denn er stand bald auf dem einen, bald auf dem andern Beine, schoß aus der Tür und fuhr die Treppe hinauf. Dann wurde droben ein schwerer Stuhl mit dumpfem Geräusch zurückgeschoben, und es erfolgte ein Gepolter, als stürzten sämtliche fünfundvierzig Folianten des Thesaurus antiquitatum von der Bücherleiter und sämtliche Herausgeber vom großen Meister Peter van der Aa bis auf die Doktoren Grävius und Gronovius ihnen nach. Jetzt polterte es fast noch ärger auf der Treppe, und nun stürzte der Professor Reihenschlager in das Gemach seiner Tochter und packte mit beiden dürren Händen den afrikanischen Hausfreund am Halse:

»Salve! Salve! Hab ich doch den ganzen Tag ein Ziehen um das Zwerchfell her verspürt; aber ich schobs auf das Wetter. Gottlob, daß Sie wieder da sind, Leonhard; ich stecke fest in den Dialekten des Sudan und bekomme das Fieber, wenn ich an die Somalisprache nur denke. Von dem Mädchen dort will ich nicht reden, da ich, offen gestanden, wenig auf es geachtet habe; aber der Täubrich ist während der ganzen Zeit Ihrer Abwesenheit unzurechnungsfähiger als je gewesen. Es war nicht hübsch von Ihnen, Hagebucher, uns fast ohne jede Benachrichtigung zu verschwinden und die hohe, die einzige Wissenschaft gleich einem Frühstück im Stich zu lassen. Na, kommen Sie jetzt nur mit mir auf meine Stube; ich habe Ihnen mancherlei zu zeigen und mitzuteilen, was Sie höchlichst interessieren wird.«

»Bravo, Papa! So ist es recht, nur zu!« rief Serena. »Der Herr kommt wie ein Eiszapfen von der Eisenbahn und bringt eine Kälte mit sich, die er unter dem Äquator für Geld sehen lassen könnte. Dazu hat er daheim seinen armen Vater begraben und seine Mutter und Schwester in Tränen zurückgelassen, und du empfängst ihn mit deiner Grammatik und Somalisprache und deinen Sudandialekten, als ob es nichts Weiteres und nichts Breiteres für ihn in der Welt gebe, als dir die Vokabeln aufzuschlagen. O Papa, in meinem ganzen Leben hab ich nicht einen solchen Egoisten gefunden wie dich.«

»Das ist wahr, daran dachte ich nicht!« sprach der Professor kläglich. »Ich bitte Sie herzlich um Entschuldigung, Leonhard; Sie kommen halb erfroren von der Reise und haben einen recht betrübten Trauerfall in Ihrer Familie erlebt; Täubrich soll uns eine Flasche Wein aus dem Keller holen, das Kind wird für ein gutes Nachtmahl sorgen; und Sie, Leonhard, sind, wie ich gewiß weiß, fest überzeugt, daß wir den innigsten Anteil an allem, was Sie betrifft, nehmen. Sie werden uns also von Ihrer Reise sowie Ihrem Aufenthalt in Bumsdorf und dem elterlichen Hause das Nötige erzählen, und wir werden Sie bedauern und Sie zu trösten suchen, wie es uns gegeben ist. Freilich, freilich – reden wir heute über unsere Familienangelegenheiten, morgen mögen wir uns dann guten Mutes von neuem einschiffen, um das hohe Meer der Wissenschaften zu befahren.«

»Du bist unverbesserlich, Papa«, sagte Serena; Leonhard Hagebucher drückte aber doch dem Professor die Hand, und dann drückte er dem Fräulein die Hand, und der Pascha ging auch nicht leer aus. Und des Professors Abendprogramm wurde gleicherweise ausgeführt, da es den Umständen vollkommen Rechnung trug und man dem Behagen wie der Wehmut ihr Recht dabei auf die bequemlichste Weise zukommen lassen konnte.

Die weißen Fenstervorhänge zog Serena mit eigener zierlicher Hand zu, die bronzene Indianerin, welche das abendliche Licht des Hauses Reihenschlager in mattgeschliffener Glaskugel trug, setzte Täubrich auf den Tisch, die Teemaschine fing an zu singen, und der Professor fing an zu summen, und Hagebucher fing an zu erzählen von Nippenburg und Bumsdorf, von der Mutter und der kleinen traurigen Schwester, von dem toten Vater und dem lebendigen Vetter Wassertreter, aber nicht von der Katzenmühle, der Frau Klaudine und dem Herrn van der Mook. Und Fräulein Serena Reihenschlager war sehr teilnehmend und hatte manche nachdenkliche Frage zu stellen; der Professor versuchte zwar, wie das nicht anders sein konnte, einige Male die Unterhaltung doch noch in das Koptische hinüberzuleiten, sah aber jedesmal das Unpassende und das Nutzlose dieser Versuche ein und bat fast noch eher um Entschuldigung, als ihn das Töchterlein durch ihr Achselzucken und Lippenspitzen daran erinnerte.

Es gab so viel zu bedenken und zu besprechen, ohne daß man nötig hatte, auf die vergleichende Sprachwissenschaft im allgemeinen und das ägyptische Lexikon im besondern zurückzugreifen. Der Herr van der Mook war bis jetzt noch höchst überflüssig an dem Teetisch des Hauses Reihenschlager, und daß in der Residenz während der Abwesenheit Leonhards nicht das mindeste vorgefallen war, was als Neuigkeit gelten konnte, tat der Unterhaltung keinen Abbruch. Hier war jene Vorlesung im Saale der Harmonie, welche so disharmonisch geendet hatte, ein unerschöpfliches Thema, welches in jeder andern Beleuchtung anders spielte und über welches sogar der Professor manches zu sagen hatte, was zur Sache gerechnet werden konnte. Was aber war nach den Erlebnissen der jüngsten Tage diese Vorlesung dem Afrikaner anders als ein behaglicher Stoff zu einem behaglichen Geplauder.

Sogar die dunkle Gestalt des Leutnants Kind wagte sich erst dann hervor, als es elf Uhr schlug, man Abschied voneinander nahm und Leonhard den Pascha zum Heimweg nach der Kesselstraße aus der Küche des Hauses Reihenschlager abholte. –

»Das ist ein lieber, ein sehr angenehmer und gescheiter Mensch! Und daß er kaum eine Ahnung von seiner Bedeutung für die Wissenschaft hat, könnte ihn mir noch werter machen, wenn solches möglich wäre. Ich werde noch einmal so gut schlafen in dem Bewußtsein, daß er wieder im Lande ist. Gute Nacht, Serena.«

»Gute Nacht, Papa!« sagte das Töchterlein, aber ohne den Kopf nach dem alten Herrn hinzuwenden. Sie blieb noch eine geraume Zeit vor dem Tische sitzen und stützte die feine Stirn mit beiden Händen. Eine unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Papa in den Stunden, wo er am tiefsten in die vergleichende Sprachwissenschaft versunken war, trat auf dem hübschen Gesichte hervor. Auch Serena Reihenschlager verglich allerlei, und zwar sehr gründlich, stak jedoch nicht weniger fest darin wie der vortreffliche Gelehrte in den Sudandialekten und der Somalisprache.

»Es ist doch zu arg!« rief das Fräulein halb erbost, halb weinerlich; aber in demselben Moment hob sie lauschend den Kopf. Mitternacht schlug es, und kaum war der letzte Schlag der Glocke verhallt, so sandte jener nach Südwest abgehende Eisenbahnzug vom Bahnhof seinen schrillen Abschiedsgruß herüber. Ein leises, aber immer noch schmollendes Lächeln überflog das Gesicht des Fräuleins, und dann sagte sie ernstlich entschlossen:

»Jetzt weiß ich, was ich tue; ich gehe auch zu Bett und kümmere mich um nichts!«

So tat sie; aber als sie das Kopfkissen zurechtrückte und die Decke um sich her festzog, murmelte sie, schon halb im Schlaf, zwischen einem Gähnen und einem Erröten:

»Einerlei! Wissen möcht ich wohl, was der Täubrich-Pascha dem andern Narren heute in der Nacht von mir erzählt und was der andere darauf zu erwidern hat!« – Wir, die wir auch jene beiden auf ihrem Wege nach der Kesselstraße begleiteten, wissen es und sind nicht berechtigt, der Nachwelt diese merkwürdige Konversation vorzuenthalten.

»O Herr, das sind ein paar liebe Augen!« sprach der Schneider, zum Beschluß eines langen Selbstgespräches das Wort an seinen Begleiter richtend, und Hagebucher sagte:

»Ja!«

»Ein Blitz von einem Forellenbach durch den schönsten grünen Wald! Und wenn sie ihren Mund auftut und spricht mit einem Grübchen rechts, einem Grübchen links und einem Grübchen im Kinn: Herr Täubrich, ich freue mich, Sie so wohl zu sehen, so ist das grad wie – als – als ob –«

»Spart Euch den Vergleich, Gastfreund. Was nützt es, sich dergestalt abzuquälen. Laß den Quell rauschen und halte den Mund.«

»O Herr, im Karawanserei zu Jaffa hörte ich einmal einen Märchenerzähler, der meinte, zu einer guten Musik gehörten vier Instrumente, Geige, Laute, eine Zither und eine Harfe, zu einem rechten Blumenstrauß gehörten viererlei Blumen, Rosen, Myrten, Levkojen und Lilien und zu einem rechten Leben Wein, Geld, Jugend und Liebe. Ich aber meine, mit diesen beiden Augen hätte man alle Musik, alle Blumen und alles, was zu einem fröhlichen Leben gehört, zusammen und brauchte sich um das übrige nicht weiter zu kümmern.«

»Alles Berauschende ist verboten!« seufzte Hagebucher.

»Das ist auch meine Ansicht, indessen haben wir doch viel von Ihnen gesprochen, Herr Leonhard –«

»Bismillah, was hat sie von mir gesagt?« fragte Hagebucher, stehenbleibend und dem Schneider mit solchem Nachdruck auf den Leib rückend, daß Täubrich, zusammenfahrend, sich beinahe auf den nächsten Eckstein gesetzt hätte. »Schönes Zeug werdet ihr beiden zusammengetragen haben! – Nun, heraus damit, wie denkt das liebe Kind über das Tumurkieland und den Mann aus dem Tumurkielande?«

»Ach, Sidi, häufig saßen wir in der Dämmerung traulich in ihrem Stübchen; und da – da – ja, kurios ist es, in Worten finde ichs nicht wieder, was wir eigentlich von Ihnen redeten. Das ist doch wirklich merkwürdig! Meine ganze Seele und Erinnerung ist voll davon, und nun weiß ich weiter nichts, als daß sie unbeschreiblich hübsch und schalkhaft dasaß – aber gesprochen haben wir von Ihnen, Herr Leonhard, und von der Eisenbahn und der Sehnsucht in die Ferne und hundert andern Dingen, vorzüglich aber von unsern Träumen und Nippenburg und Bumsdorf.«

Der Afrikaner lachte:

»Geben Sie sich weiter keine Mühe, Täubrich; Ihre Relation läßt nichts zu wünschen übrig. Übrigens haben wir hier unsere Gezelte erreicht, Segen begleite unsern Eintritt, und es überhebe sich keiner, welchen Lichtstrahl die Götter ihm auch vor die Füße fallen lassen mögen. Gehen Sie zu Bett, Täubrich-Pascha, und träumen Sie, wie Sie im Wachen leben. Einen bessern Wunsch habe ich nicht für Sie.«

Sie standen vor ihrer Haustür, doch es war bestimmt, daß Leonhard Hagebucher selbst fürs erste noch nicht zu Bett gehen sollte.

»Ich hörte bereits auf dem Bahnhof von Ihrer Ankunft«, sagte der Exleutnant der Strafkompanie zu Wallenburg, Kind, »und so habe ich denn hier auf Sie gewartet. Willkommen, Herr Hagebucher.«

Der Schneider drückte sich gegen die Mauer des Hauses; aber Leonhard sprach finster:

»Sie sind pünktlich wie der Teufel, wenn der Pakt ablief, Leutnant. Wohl, wohl! Seien Sie auch mir willkommen; denn das muß ich ja doch wohl sagen, da die Höflichkeit es fordert? Womit kann ich Ihnen dienen, werden Sie in dieser Nacht noch die Sturmglocke an dem Hause Glimmern läuten? Es hindert Sie niemand – vorwärts, vorwärts, lassen Sie alle Ihre Hunde los – frisch, packen Sie selber an; was Ihnen nicht zugehört, das werden Sie uns schon lassen müssen.«

»Sie sollten nicht in dieser Weise mit mir reden, Herr Hagebucher«, sagte der Leutnant. »Sie vor allen haben keine Ursache dazu.«

»Nein, nein, Sie haben recht, Herr. Sie hielten Ihren Vertrag, und wir werden den unsrigen halten; und nun, was haben Sie mir in so später Stunde noch mitzuteilen? Wollen Sie mit mir in mein Zimmer hinaufsteigen?«

Der Alte schüttelte den Kopf.

»Das Atemholen wird mir zwischen vier Wänden seit einiger Zeit immer unbequemer; auch werde ich Sie nicht lange aufhalten. Lassen Sie uns in der freien Luft bleiben.«

Leonhard schob den Pascha in die Türe des Hauses und schloß sie hinter ihm; dann legte er seinen Arm in den des alten Mannes und schritt mit ihm weiter durch die Kesselstraße; doch schon nach einer Viertelstunde kehrte er zurück, stieg schwerfällig durch all die schlafenden Stockwerke des Hauses zu seiner Wohnung empor, schleuderte den Hut zu Boden und lachte bitter und zornig:

»Also das war die Meinung?... Den Herrn van der Mook verlangt er zurück von mir, um mit ihm das Trauerspiel zu Ende zu bringen! Gleich einem Galeerensklaven, welchem der Kettengefährte abhanden kam, verlangt er nach diesem Genossen! Ho, die eiserne Kugel wird ihm allein zu schwer. Bei Gott, er soll ein Ende machen, wie er kann; aber niemand soll ihm eine helfende Hand dazu leihen! Auge um Auge, Zahn um Zahn – er hat freie Bahn vor sich und ein löbliches Ziel, was sucht er zur Seite, was blickt er sich um? Nichts, nichts hat er auf dem Wege, der zur Frau Klaudine führt, zu suchen; was kümmert es die, welche diesen Weg fanden, ob das Messer in seiner Hand zittert.«

Er blickte ergrimmt in dem Gemach umher. Der Schneider hatte ein Feuer im Ofen angezündet und die brennende Lampe auf den Tisch gestellt – zum erstenmal seit seiner Erlösung aus den Lehmhütten von Abu Telfan achtete Leonhard Hagebucher auf die schmutzigen Wände, die niedrige Decke seines jetzigen Aufenthaltsortes und verzog den Mund darob. Er fühlte sich alt, durchfröstelt, mißlaunig und voll Verlangen nach Licht, Ruhe und Reinlichkeit. Gestern erst hatte er Frau Klaudine von neuem Lebewohl gesagt, und heute schon entbehrte er sie tief und schmerzvoll und suchte krankhaft in allen Winkeln seiner Philosophie und Erfahrung nach einem Ersatz für ihre beruhigende Gegenwart und hohe, stille Weisheit. Nur einen kurzen Augenblick hatte er an diesem Abend in dem Stübchen Serenas seine eigentliche verwirrte Existenz vergessen dürfen; aber kalt und rücksichtslos griff der Leutnant Kind in die Behaglichkeit, und statt dieselbe mit in den Schlaf zu nehmen, konnte der Afrikaner sich nur auf den Rand seines Bettes setzen, um den Gewinn und Verlust der letzten Wochen gleich einem ordentlichen Haushalter in die betreffenden Schiebladen seines Daseins zu verteilen.

Es unterlag keinem Zweifel, der alte Herr in Bumsdorf war tot und begraben, und der verlorene Sohn regierte an seiner Stelle. Der Vetter Wassertreter hatte ein vorhandenes Inventarium auf das genaueste mit der Wirklichkeit verglichen und das Vermögen bis zum Stiefelknecht in der wunderbarsten Ordnung gefunden, ohne sich zu wundern. In Nippenburg wußte man schon längst, daß der Steuerinspektor Hagebucher als ein sparsamer Mann, welcher das Rechnen und die Landwirtschaft verstand, im Laufe der Jahre ein Erkleckliches zusammengebracht habe, und bedauerte nur, daß das »schöne Geld« nunmehr in so nichtsnutzige Hände gerate. Das letztere war der Vorsehung grenzenlos gleichgültig; sie hatte Mutter und Schwester des afrikanischen Abenteurers ganz warm geborgen; und wieder einmal zeigte es sich deutlich, daß auch ein zu den Honoratioren von Nippenburg gehöriger Mensch von der Bühne abtreten kann, ohne daß die Welt im geringsten dadurch aus dem Geleise kommt. Übrigens erschien seit dem Tode von Hagebucher senior Hagebucher junior doch in einem viel günstigeren Lichte vor den Augen Nippenburgs, und es gab bereits viele Leute, welche anfingen, ihm den Ärger, die Unruhe und Aufregung, die er durch sein unvermutetes Wiederauftreten auf der Bühne über das Gemeinwesen brachte, zu verzeihen, und schwache Versuche machten, ihn als einen, wenn auch »eigentümlichen«, so doch ganz respektablen Mann in der öffentlichen Meinung zu heben. Das war unserm Freund Leonhard grenzenlos gleichgültig, und mit einer kurzen Handbewegung verwies er von dem Rande seiner Bettstatt aus sowohl das Inventar wie die Glossen darüber zur Ruhe.

Die verschneite Mühle im Tal! Sie bereitete dem Afrikaner ein ganz anderes Kopfzerbrechen als das ruhig trauernde Vaterhaus. Wohl hatten es Mutter und Sohn jetzt ganz gut beieinander, und wenn eine undurchdringliche Dornenhecke um die Mühle emporgewachsen wäre wie um den schlafenden Palast des Märchens, so würde nur ein sehr unverständiger Mensch noch etwas anderes für die beiden Leute in der Mühle haben wünschen können. Aber wie lange ließ sich das Geheimnis in der Verborgenheit halten? Der Vetter Wassertreter wußte darum, und er hatte gute Wache versprochen; doch ließen sich Nippenburg, Bumsdorf und das Dorf Fliegenhausen ausschließen – nur bis zum Schmelzen des Schnees?

Und wenn nun aus dem Gemurmel ein Geschrei wurde, wenn nun plötzlich eine Stimme der Frau Nikola von Glimmern ins Ohr riefe: Die Toten sind doch wiedergekommen! –? Ihre Zufluchtsstätte war der armen Nikola in der Katzenmühle bereitet; aber konnte sie mit diesem Klang im Ohre dahin fliehen, mußte sie nicht vor dem Namen Viktor Fehleysens in die fernste Ferne zurückweichen?

Nach keiner Seite ein Ausweg! Die Luft mangelte dem Afrikaner, er sprang in die Höhe, öffnete das Fenster und beugte sich weit hinaus: »Der Feigling!« zischte er zwischen den Zähnen, und wunderlicherweise meinte er mit dem Worte den Leutnant Kind. Er verfolgte die Gestalt des Leutnants durch die Nacht; er zuckte mit den Händen, als halte er unsichtbare Fäden darin, durch welche er den alten Mann nach seinem Willen leite. Er begleitete ihn von Gasse zu Gasse; Schritt vor Schritt stieß er ihn vor sich her, bis zu der Schwelle jenes Hauses, dessen Schatten so dunkel in all sein europäisches Tun und Denken fiel. Er sah ihn – er sah ihn, wie er die Hand nach dem Messinggriff der Türglocke ausstreckte – er würde den schrillen, erschreckenden Klang dieser Glocke über die halbe Stadt weg gehört haben; mit einer zweiten Verwünschung, welche aber dieses Mal nicht dem Leutnant Kind galt, griff er hinaus in das Leere, als wolle er die harte, knöcherne Hand des Schicksals zurückreißen: Laß sie noch diese eine, eine Nacht schlafen!...

Er schloß das Fenster, trat zurück und warf sich abermals auf sein Bett. Von einem klaren Denken, einem ruhigen, leidenschaftslosen Ordnen der Begriffe – des Gewinns und Verlustes – konnte nun wieder nicht die Rede sein. Am Waldrande saß die schöne Nikola von Einstein, ordnete die Blumen in ihrem Schoße zum Kranze und sang:

Debout, ihr Kavaliere!
Ihr Pagen und Hartschiere,
Werft auf die Flügeltür!
Vor einem Fächerschlage
Wird itzt die Nacht zum Tage,
Klymene tritt herfür.

Welch eine nichtige Welt! Kein Gedanke, kein Wunsch, kein Vorsatz, die sich über die nächste Viertelstunde hinaus festhalten ließen! War das stumpfe Hinbrüten in der Gefangenschaft zu Abu Telfan oder das wilde, meinungslose Hinausstürmen in alle Welt nach Art des Herrn van der Mook nicht doch diesem vergeblichen Abquälen, diesem fieberhaften Suchen nach dem Rechten vorzuziehen, Frau Klaudine? Wem geschieht auf Erden etwas anderes als sein Recht? Lasse man es also jedem geschehen! Wer ist so dumm, sich anders als unter der Peitsche von Büffelhaut zu rühren; wer ist solch ein Narr, um nach so vieltausendjähriger Erfahrung noch immer den irrenden Ritter spielen und die Köpfe, die Herzen und Mägen der Menschheit zurechtrücken zu wollen!

Der Glücklichste, der Schuldloseste wird immer derjenige sein, welcher so vollständig in den Traum gerettet wird wie Täubrich-Pascha. Wem es aber nicht so gut zuteil wird, der rette sich selber in jenen Egoismus, welcher den Nächsten ungeschoren läßt und sich sein Nest aus den Federn, Flocken, Grashalmen und Sprossen baut, die zum freien Gebrauch in der Welt ausgestreut liegen. Wir haben neulich hohe Worte gesprochen in der Katzenmühle, Frau Klaudine Fehleysen, und trotz aller Verwirrung lag die Welt im ruhigen Glanz vor uns beiden. Aber das war in der Katzenmühle mitten im Walde, wo selbst die leisen Wasser nicht mehr die Stunden zählten. Da sitzt auch Ihr in den Traum gerettet, Frau Klaudine; aber wie soll man hier in der hochfürstlichen Residenz sich verhalten, wo der Leutnant Kind in natura auf der Schwelle der Frau Nikola sitzt?

»Ich schlafe mit dem Schwerte unter dem Kopfkissen!« rief Leonhard grimmig, und als er endlich wirklich schlief, träumte er von einem warmen Schlafrocke, einem Paar wunderschöner weicher Pantoffeln, einer langen Pfeife und einer singenden Teemaschine.

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