Frei Lesen: Abu Telfan

Kostenlose Bücher und freie Werke

Kapitelübersicht

Erstes Kapitel | Zweites Kapitel | Drittes Kapitel | Viertes Kapitel | Fünftes Kapitel | Sechstes Kapitel | Siebentes Kapitel | Achtes Kapitel | Neuntes Kapitel | Zehntes Kapitel | Elftes Kapitel | Zwölftes Kapitel | Dreizehntes Kapitel | Vierzehntes Kapitel | Fünfzehntes Kapitel | Sechzehntes Kapitel | Siebzehntes Kapitel | Achtzehntes Kapitel | Neunzehntes Kapitel | Zwanzigstes Kapitel | Einundzwanzigstes Kapitel | Zweiundzwanzigstes Kapitel | Dreiundzwanzigstes Kapitel | Vierundzwanzigstes Kapitel | Fünfundzwanzigstes Kapitel | Sechsundzwanzigstes Kapitel | Siebenundzwanzigstes Kapitel | Achtundzwanzigstes Kapitel | Neunundzwanzigstes Kapitel | Dreißigstes Kapitel | Einunddreißigstes Kapitel | Zweiunddreißigstes Kapitel | Dreiunddreißigstes Kapitel | Vierunddreißigstes Kapitel | Fünfunddreißigstes Kapitel | Sechsunddreißigstes Kapitel |

Weitere Werke von Wilhelm Raabe

Der Hungerpastor | Horacker | Die Leute aus dem Walde | Das Odfeld | Das Horn von Wanza |

Alle Werke von Wilhelm Raabe
Diese Seite bookmarken bei ...
del.icio.us Digg Furl Blinklist Technorati Yahoo My Web Google Bookmarks Spurl Mr.Wong Yigg


Dieses Werk (Abu Telfan) ausdrucken 'Abu Telfan' als PDF herunterladen

Wilhelm Raabe

Abu Telfan

Siebenundzwanzigstes Kapitel

eingestellt: 2.7.2007



»Herein!«

Mit nervöser Spannung hörte Hagebucher den schnellen Schritt die Treppe heraufkommen und vor seiner Türe anhalten; doch mit um so größerm Behagen empfing er sodann den frühen Besuch, nämlich den Leutnant Herrn Hugo von Bumsdorf, den heitern Sohn des nahrhaftesten Vaters.

»Ich vernahm soeben von Ihrer Rückkehr aus der süßen Heimat«, sprach der jugendliche Krieger, »und ich hielt es für meine Pflicht, Ihnen auf der Stelle mein innigstes Beileid zu erkennen zu geben. Sie verloren Ihren Papa, wie mir der meinige etwas melancholisch schrieb, und, wie gesagt, ich kondoliere ganz gehorsamst, obgleich ich wohl bemerken könnte, daß die Verehrung des Seligen für mich niemals so intensiv war als die meinige für ihn.«

»Ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme, Herr von Bumsdorf«, erwiderte Leonhard. »Die Ihrigen befinden sich wohl, und ich habe von allen die besten Grüße zu überbringen.«

»Schön!« sagte der Leutnant gänzlich ungerührt. »Hat Ihnen der Alte sonst nichts mitgegeben?«

»Ja«, lächelte Hagebucher, »aber etwas – etwas –«

»Etwas mehr in das Gebiet des höheren Patriarchalismus, in Campes ›Väterlichen Rat an meine Tochter‹, etwas tief in das Handbuch des Sittengesetzes Einschlagendes! O schweigen Sie still, mein Bester, wenn dieser mein arkadischer Erzeuger wüßte, wie sehr jeder Tag, jede Stunde mir hier Moral predigte, er würde sicherlich seine Ethik für sich behalten und Ihnen etwas Reelleres, etwas Verwendbareres für den arg geplagten, den sehr gedrückten und geknickten Sprößling seiner Lenden mitgegeben haben. Doch lassen wir das, reden wir von Ihrer Familie, von den armen Damen; wahrhaftig, ich nehme den innigsten Anteil an dem Schmerze derselben; wir haben so gut zusammengehalten während Ihrer Abwesenheit in Afrika. Ich verlebte so glückliche Stunden in der Fliederlaube an der Landstraße, und wenn die Kusine Nikola in Urlaub aus der Residenz und ich aus dem Kadettenhause kam, welch ein lustig idyllisches Wesen war das mit meinen Schwestern und mit Ihrer Schwester, Leonhard, auf den Wiesen, auf dem Heuwagen, in der Milchkammer! Ja, das war ein Leben, welches sich loben läßt, da brauchte man sich freilich nicht den Code moral vor die Nase rücken zu lassen, und ich sage Ihnen, Hagebucher, es ist doch kein Mensch mehr für die rationelle Landwirtschaft gemacht als ich, und, auf Parole, ich werds der Welt und dem Alten noch beweisen. Der Teufel hole mich, wenn ichs nicht tue, und zwar in der allernächsten Zeit!«

»Sind Sie Ihrer jetzigen Lebensstellung so sehr überdrüssig, Herr Leutnant?«

»Überdrüssig?! Dies Wort reicht meinen Gefühlen nicht bis an den Nabel. Überdrüssig! Keine Naturgeschichte hat je tiefer über einen neuen Namen für eine neue Insektenart nachgedacht als ich über einen neuen Ausdruck für meine jetzigen Zustände. Meine einzige Hoffnung in dieser Hinsicht ist noch Ihr koptischer Professor; wenn der mir nicht in irgendeiner ägyptischen Felsenkammer oder Pyramide eine zutreffende Keilschrift- oder Hieroglyphenbezeichnung dafür ausfindig macht, so bin ich verloren, gebe alle Öffentlichkeit und Mündlichkeit auf und beschränke mich auf stumme Zerknirschung und schweigende Verachtung. O lachen Sie nicht, Liebster, Bester! Wenn ich heute in das Tumurkieland gehen und dort eine Rede halten würde, so glaube ich fest, die Damen dort würden meinen Schmerzen ebenso gerecht werden wie die süßen Kinder, angenehmen Witwen und holden Gattinnen hier den Ihrigen!«

»Das glaube ich auch!« lachte Hagebucher. »Aber woran liegt es denn eigentlich? Sie sind jung, gesund und wissen den Papa vortrefflich zu nehmen, ohne sich dabei durch ein übertriebenes Zartgefühl hindern zu lassen.«

»Verflucht«, ächzte der tiefgebeugte junge Kriegsmann, »verflucht! Einem Sekondeleutnant glaubt man doch nichts von seinem Elend und akkompagniert die hohlsten Brusttöne seiner Verzweiflung wohl gar noch durch die ironische Versicherung, man glaube alles und begreife nur nicht, wie ein Mensch unter solcher Last des Daseins es zu einem so hohen Alter habe bringen können. O glücklich alle jene singenden, pfeifenden, tastenschlagenden Individuen, welche ihre Schmerzen durch ihre Künste ventilieren können! Aber was kann ich? Nichts kann ich! Nein – doch, Whist und Lomber; aber das sind freilich zwei Künste, durch welche es sich schwer sagen läßt, wie man leidet, in welchen man weniger seinem Herzen als seinem Geldbeutel Luft macht! Gott, o Gott, Hagebucher, wissen Sie, wie tief der Mensch sinken kann?«

»Ich glaube einige Erfahrung davon zu haben«, sprach der Mann aus dem Tumurkielande; aber der Leutnant Hugo von Bumsdorf legte ihm die Hand auf die Brust, schob ihn zwei Schritte zurück und rief:

»Sie? Ach, überheben Sie sich nicht. Was können Sie davon wissen? Sie werden schweigend sich beugen, wenn ich Ihnen mitteile, daß ich, Hugo von Bumsdorf, Sekondeleutnant im zweiten Jägerbataillon, Stunden habe, in welchen ich – in welchen ich über die – Unsterblichkeit der menschlichen Seele nachzudenken gezwungen bin!«

»Das ist freilich entsetzlich!« rief Leonhard, doch der Leutnant fuhr fort:

»Und es ist noch nicht das entsetzlichste. Denken Sie sich, ich habe sogar den Versuch gemacht, diese Frage unter den Kameraden im Kasino zur Sprache und zur Lösung zu bringen! Was sagen Sie nun?«

»In der Tat, ich kann mich nur schweigend beugen. Aber was war die Meinung der Kameraden?«

»Die Meinung der Kameraden? Ich glaube nicht, daß sie sich schon eine festere Meinung gebildet hatten, daß sie es überhaupt der Mühe wert hielten, danach auszuschauen. Mit gellendem Hohngelächter gingen sie über mich und meine Motion zur Tagesordnung über; und ich – ich ließ die Herren im hellen Sonnenschein zwischen den Nymphäen auf der Jagd nach den Wasserjungfern und sonstigen geflügelten und ungeflügelten Delikatessen und versank langsam gleich einem kranken Karpfen von neuem in meine eigene bodenlose Tiefe.«

»Ungemein anschaulich«, lachte Hagebucher. »Haben Sie wirklich noch nie versucht, diese seltsamen, diese erbaulichen Stimmungen auf dem Papier festzuhalten? Haben Sie nie versucht, mit der Feder in der Hand sich von denselben zu befreien?«

»Papier? Stimmung? Feder in der Hand? Herr, sagte ich Ihnen nicht bereits, der Gott, der mir im Busen wohnt, er kann nach außen nichts bewegen?! Beachten Sie das Zitat, es ist nicht aus dem Paul de Kock, sondern aus Goethes Faust. Sehen Sie mich nicht so groß an, ich studiere den Faust. Er liegt stets aufgeschlagen auf meinem Nachttische, und ich habe meinem Kerl strenge Order gegeben, ihn stets dort liegenzulassen. Ja, dieser Doktor Faust! Es ist kaum glaublich, aber dessenungeachtet erschütternd wahr, ich fühle mich stellenweise ihm unendlich verwandt in meinen Empfindungen, und längst ist mir die dunkle Ahnung zur vollsten, klarsten Gewißheit geworden, daß auch für mich die höchste Tätigkeit, die letzte Rettung in einem großartigen Wasserbau, ganz abgesehen von dem Ewig-Weiblichen, liege. Mit ganzer Hingebung widme ich mich augenblicklich dem Studium der Dränage, und, auf Ehre, ich werde einst Ersprießliches dadurch auf unsern heimatlichen Gefilden zu Bumsdorf wirken! Ja, drücken Sie mir nur die Hand, vielleicht ist der Augenblick, in welchem wir uns noch besser verstehen, in welchem wir einander noch näher treten werden, nicht allzufern. Ach, Hagebucher, ich habe Sie immer für einen guten Gesellen gehalten, und es würde mich sehr alterieren, wenn Sie mich vielleicht für das Gegenteil hielten.«

»Ich halte Sie für einen wackern, treuen Freund, für einen frohherzigen Kameraden und hoffe, daß dies immer so bleiben wird. Ha Monjoie, Crillon, ich glaube selber, wir werden einmal mit großem Behagen von diesen residenzlichen Tagen in der Fliederlaube an der Bumsdorfer Landstraße den Damen erzählen. Unter allen Umständen aber wollen wir uns tüchtig durchbeißen, und Ihnen, Bumsdorf, wünsche ich das beste Glück zu allen Ihren Wasser- und Landbauten.«

»Amen!« rief der Leutnant und setzte hinzu: »Sie haben keine Idee davon, wie sich der Mensch in unsern Verhältnissen abquälen muß, um zu irgendeinem Spaße zu gelangen. Von Vergnügen oder gar Gemütlichkeit ist natürlich nie die Rede, und ich kenne nur eine Person, welche noch schlimmer als unsereiner dran ist, und das ist meine Kusine Nikola von Glimmern.«

»Nikola!«

Der Afrikaner, welcher seinen Besuch schon gegen die Tür begleitete und im Grunde froh war, daß derselbe endlich Abschied nehmen wollte, schob sich jetzt wieder schnell zwischen die Pforte und den Leutnant und rief:

»Sie sollten doch noch einige Augenblicke verweilen, um mir noch ein Wort über jene Dame, deren Namen Sie soeben aussprachen, zu sagen. Sie wissen, welchen Anteil auch ich an ihrem Leben nehme, und dazu komme ich soeben von der Katzenmühle, von der Frau Klaudine. Sie werden während meiner Abwesenheit von der Stadt täglich mit Nikola in Verbindung geblieben sein; ich bitte Sie herzlich, erzählen Sie mir noch etwas von ihrem Leben. Auch ich kann sagen, daß vielleicht eine Stunde nicht fern ist, in welcher ich Ihre ganze Kraft, Ihren besten Willen für diese Frau in Anspruch nehmen werde.«

Der Leutnant legte seine Mütze wieder nieder und sah verwundert fragend auf den Afrikaner. Dann sagte er:

»Was liegt eigentlich in der Luft, was geht so spukhaft auf den Zehen, kurz, Hagebucher – was geht vor? Das ist ein Rauschen und Raunen von oben und unten, wie die Goldschnittpoeten sagen würden; es läuft eine Wolke über unsern gesellschaftlichen Himmel und wirft einen eigenen Schatten über sämtliche Klatschrosen, Mohnköpfe, Hahnenkämme und Jungfern im Grünen dieses heillosen Nestes. Ein jeder scheint etwas zu riechen, weiß jedoch durchaus nicht, was; Sie aber scheinen mir genauer in die Büchse gesehen zu haben. Was ist es, Hagebucher, was zieht sich zusammen um das Haus meines teuren Vetters Glimmern? Ich bitte, wenn es irgend möglich ist, so geben Sie auch mir das Losungswort; ich werde mir alles, alles, meinen Schnurrbart wie meinen Kopf für die Kusine abschneiden lassen. Sie zögern? Nun, so will ich Ihnen einen neuen Beweis meines Vertrauens geben, indem ich nicht weiter in Sie dringe. Aber eines fordere ich als mein Recht, Sie müssen mich rufen in der rechten Stunde.«

»Ich danke Ihnen, Freund«, sagte Leonhard ernst; »zur rechten Stunde rufe ich unter Ihrem Fenster, doch jetzt, wie lebt Nikola, seit –«

»Seit Sie Ihre vortreffliche Vorlesung hielten, um dann in so überraschender Weise zu verschwinden? O Freund, Sie könnten diese Frage zehntausend Sekondeleutnants vorlegen, und Sie würden immer die Antwort erhalten: Die Gnädige befindet sich vortrefflich, es ist eine amüsante Frau, welche es ausnehmend versteht, der Existenz die Lichtseiten abzugewinnen; gestern auf dem Ball sah sie entzückend aus, und morgen auf dem Ball wird sie selbstverständlich wiederum die Herrlichste unter den Weibern, nämlich den verheirateten, sein. Ich aber, Hagebucher, ich seufze erbost: Was hat man aus der gemacht, und was hat die Närrin aus sich machen lassen? Die Arme! Ich habe mit ihr immer so gut gestanden, und in jener Zeit, als ganz Bumsdorf mich als den verruchtesten aller Sünder total aufgab, wagte sie allein, die in Wehmut und Entsetzen zerfließende Verwandtschaft auszulachen und den schönen Glauben an den Demant in meiner Seele, den Glauben an meine edlere Bestimmung festzuhalten. Ich werde ihr das nie vergessen; aber der Teufel soll mich holen, wenn ich noch länger einen Fuß in ihr Haus setze, um mich über den Jammer zu Tode zu ärgern! Ja, was sage ich da? Muß ich nicht zu ihr gehen und neben ihr sitzen? In früheren Zeiten erschlugen die Ritter und jungen tapfern Vettern alle möglichen Drachen, welche die Damen bedrängten; heute ist der Dienst ein anderer geworden, und die Ritter kommen und sitzen neben den Damen, um sie durch ihre Sottisen auf andere Gedanken zu bringen. Bumsdorf à la recousse! Ich sitze täglich bei dem armen Mädchen und vertreibe ihr die Grillen, so gut ich kann. Und den Drachen, den Herrn Vetter, ertrage ich der Kusine wegen, welches ebenfalls zu dem veränderten Dienst gehört. Indessen am angenehmsten ists immer, wenn er Hut und Stock nimmt und sein Feuer anderswo speit. Es ist ein recht höflicher Drache, der die Welt kennt und durch seine bengalischen Naturgaben die wundervollsten Beleuchtungen der Dinge, und zwar nicht bloß bei Hofe hervorbringt. Eine hühnerologische Preisfrage wäre übrigens aufzuwerfen: Ist einem Hahne gestattet, Eier zu legen, aus denen –«

»O lassen Sie doch das! Lassen Sie den Baron«, unterbrach Leonhard den phantasiereichen Leutnant, und dieser rief:

»Gern, gern, nur allzugern! Lassen wir den exzellenten Basilisken und den ebenso exzellenten Kotschinchinesen oder Brahmaputra, seinen seligen Papa. Wir, das heißt Nikola und ich, saßen also auch während Ihrer Abwesenheit, Hagebucher, zusammen, und es fiel nichts Bemerkenswertes vor. Wir schwatzten wie gewöhnlich von diesem und jenem, grad wie ich hier mit Ihnen schwatze. Wir sprachen von Bumsdorf, dem Prospero – Sie kennen den Prospero, Leonhard, bei größerer Muße werde ich Ihnen eine Geschichte erzählen, wie ich ihn vor drei Jahren dem Alten ausführte und wie der Alte wütend ihn mir hier wieder aus dem Stall holte. Wir sprachen von der Katzenmühle, von der Frau Klaudine, der verzauberten Dame in der Mühle. Was wir sprachen? Ja, da steckt der Jammer, und wenn ich daran denke, wie vergnügt wir vorzeiten miteinander gewesen sind, so ist die Gegenwart um so schlimmer. Sie lacht noch wie sonst; aber es ist doch nicht mehr das alte Lachen. Ich glaube, wenn sie manchmal ein wenig weinen würde, so brächte das doch etwas Heiterkeit in unsere Zustände. Ach, Hagebucher, Psychologie ist sonst nicht die Wissenschaft, in der unsereiner exzelliert; doch hier ist eine Seele, welche ich vollständig begreife. Sie hat sich lange genug gewehrt und zuletzt einen ehrenvollen Vertrag abgeschlossen; aber was kann solch ein armes, gequältes Frauenzimmer beginnen, wenn man ihr die traktatmäßigen Bedingungen nicht hält? Sie kann nicht durchbrennen wie Sie, Herr Leonhard; sie kann nicht verschwinden und, sozusagen, zu einer Mythe werden gleich jenem Narren, dem Viktor Fehleysen, von dem noch so manche dumpfe Sage in der Stadt geht. Sie kann ihr Elend nicht an den Rekruten oder am Spieltisch ausfluchen oder ausgeben wie ich. Sie steht immer da, Gewehr bei Fuß, und hat sich vom Kommando Grobheiten und Anzüglichkeiten vortragen zu lassen. Und das Kommando, dann die alten Weiber, der Hof und zuletzt die Witterung mit all ihren veränderlichen Niederschlägen, die kennen kein Erbarmen, und es wäre ein Wunder, wenn sie zuletzt nicht die Oberhand über den stolzen schönen Mut meiner Kusine Nikola gewönnen. Herr, Sie sind mein Mann, Sie haben unter dem Äquator das Schweigen gelernt und mir soeben eine Probe davon gegeben. Ich achte das und verehre jeden Menschen, der mit Gelassenheit auf seine Stunde passen kann. Ich vermag es nicht, und so erlaube ich mir, hier vor Ihnen auszusprechen: Wenn das Gespenst, welches in jenem Hause umgeht, nicht bald offen, und am liebsten mittags um zwölf Uhr, während der Wachtparade zum Beispiel, hervortritt, so werde ich, Hugo von Bumsdorf, sehr unangenehm gegen diesen Herrn Vetter Glimmern, und es wird mir ein unendliches Vergnügen machen, ihm einmal zwischen Tür und Angel die Seele aus dem Leibe zu schütteln! Jetzt leben Sie wohl und behalten Sie mich lieb, Hagebucher. Morgen abend ist Ball beim Polizeidirektor Betzendorff, da werde ich Sie freilich nicht sehen; aber die Nikola will ich dort in einem stillen Winkel von Ihnen grüßen. Guten Morgen!«

Der Afrikaner bewies, daß sein junger lebhafter Freund in betreff seiner Schweigsamkeit recht habe. Er behielt alles, was er dem Davoneilenden vielleicht hätte nachrufen können, für sich und trug seine Unruhe, sein innerliches Fieber zum Professor Reihenschlager unter jenes Paar liebe Augen, welches dem träumenden Schneider Felix Täubrich so sehr gefiel. Doch vergeblich lächelte und schmollte Serena, vergeblich breitete der Professor alle seine in den letzten Monden eroberten wissenschaftlichen Resultate vor dem Hausfreunde aus, vergeblich türmte er ihm alle während derselben Zeit sich erhoben habenden Schwierigkeiten und Anstöße vor der Nase auf: Leonhard hatte arges Kopfweh von dem Besuche des Leutnants bekommen. Er mußte häufig mit beiden Händen nach den fliegenden Schläfen greifen, und des Professors koptische Vokabeln bauten durchaus keinen Damm gegen die Bruchstücke, Trümmer und weggeschwemmten Tische und Bänke, welche sich noch immer in der Erinnerung Hagebuchers auf dem ausgebreiteten Strome der Redeüberflutung des jungen Kriegers schaukelten.

»Dieses geht nicht, Tochter!« sprach der Professor, nachdem der afrikanische Freund Abschied genommen hatte, kopfschüttelnd. »Es geht wahrlich nicht, Serena. Wo bleibt die Sammlung, das logische Denken, das innige Verständnis des Notwendigen? Welch eine bedauerliche Zerstreutheit! Welch ein betrübender Nachlaß sämtlicher philologischer Seelenkräfte! O Vater Zeus und alle ihr andern unsterblichen Götter, erhaltet mir diesen Jüngling –«

»Vierzig, vierzig Jahre!« murmelte Serena, tiefsinnig über ihr Nähzeug gebeugt.

»Erhaltet mir diesen Jüngling in dem ganzen vollen Erkennen meiner und seiner hohen Lebensaufgabe. Bei den Geheimnissen von Eleusis, wozu hättet ihr ihn auch gerettet aus der Gefangenschaft jener, die das Salz nicht kennen und das schöngeglättete Ruder für eine Worfschaufel nehmen?«

»Wozu, wozu?« seufzte Serena pianissimo, fügte jedoch laut und deutlich an:

»Papa, du wirst von Tage zu Tage komischer; nimm es mir nicht übel.«

Leonhard Hagebucher machte zuerst dem verstorbenen Landesvater von Bronze auf dem Promenadenplatze seine Aufwartung und stattete sodann dem Hause des Majors Wildberg einen Besuch ab, um auch hier zu zeigen, daß er wieder am Orte sei, doch nicht aus diesem Grunde allein. Wie es ihn von den Menschen forttrieb, so trieb es ihn immer von neuem wieder zu ihnen hin – verlieren wir weiter kein Wort über einen Zustand, den jedermann aus eigenster bitterer Erfahrung kennt.

Das Haus des Majors war bald erreicht; aber es war nicht leicht, die Treppe hinaufzugelangen. Die ganze rotbackige Nachkommenschaft des biedern Strategen und der wackern Frau Emma hielt dieselbe unter der Obhut eines Kindermädchens und einer Amme blockiert und hing sich dem Afrikaner mit hellem Freudejauchzen an Arme, Beine und Rockschöße wie ein schwärmender Bienenstock an den Weisel.

»Er ist wieder da! Mama, der Mann aus dem Mohrenlande ist wieder da! Hurra, vivat! Papa, hier haben wir den Onkel mit den Elefantengeschichten und Löwengeschichten! Er ist wieder da! Hurra, Herr Mohrenkönig, erzählen Sie uns eine Geschichte von dem großen Affen und dem Krokodil und den schwarzen Männern, welche sich nie zu waschen brauchen, weil es doch nichts hilft, und welche sich nie anzuziehen brauchen, weil sie gar keine Kleider haben, und welchen Sie so lange Zeit die Stiefel putzen und die Röcke ausklopfen mußten.«

»Hurra, vivat, das wird alles zu seiner Zeit geschehen!« rief Leonhard, über den Wirbel von Kinderhänden und Kinderköpfen weg der Frau Emma die Hand reichend. Und der Major kam aus seiner Studierstube von einem Plan des Forts Sumter und versuchte es lange vergeblich, die blühende Hoffnung seines Stammes zur Ruhe zu kommandieren, bis ihm ein Tanzbär nebst einem Affen und Dudelsack in der Gasse zu Hülfe kam, worauf der wilde Schwarm natürlich die Erzählung von den Affen für das wirkliche Wunder aufgab und mit lautem Getöse die Trepp hinunter- und aus dem Hause stürzte.

»Da möchte man ja den Himmel für einen Dudelsack ansehen!« rief der Major, die Brille in die Höhe schiebend. »Grüß Sie Gott, Hagebucher; wir wußten schon, daß Sie aus der Provinz zurückgekehrt seien, und heißen Sie herzlich willkommen.«

»Treten Sie schnell herein, Herr Hagebucher!« rief die Frau Majorin. »Mir ist es immer, als hielte ich das Leben wie einen Aal in den Händen. Hier, treten Sie in meines Mannes Stube; vor ihr hat das wilde Völklein doch noch den meisten Respekt, und wir werden hier am längsten ungestört sein.«

Da saß der Afrikaner wieder einmal in dem wohlbekannten behaglichen Raume und erhielt eine Zigarre und die volle Erlaubnis zu sagen, wie es ihm ums Herz sei. Das letztere tat er denn auch, doch immer nur bis zu dem schwarzen, schweren Balken, der ihm quer über den Weg geworfen worden war und über den er nicht hinauskonnte. Er bekam auch hier gutmütige und ernstgemeinte Beileidsbezeugungen über den Tod des Vaters und hörte auch hier wieder manches, doch eben nichts Neues über das Leben der Frau Nikola von Glimmern.

»Sie kommt wie gewöhnlich«, sagte die Frau Emma, »bald im Vorübereilen, um, wie sie meint, in einem flüchtigen Augenblick sich einen Atemzug gesunder Luft zu holen, bald kommt sie zu späterer Abendzeit, wenn der Herr von Glimmern im Offizierskasino am Spieltisch sitzt; doch immer setzt sie sich am liebsten in die Kinderstube, und wenn die Kleinen zu Bett gebracht sind, spricht sie selten noch ein Wort, sondern läßt uns reden, was wir wollen. Es ist ein Elend; fragen Sie nur meinen Mann, ob er es noch lange aushält, mich für mein Teil brichts in der Mitte entzwei, und wenn ich nicht nächstens dem Herrn Intendanten einen sehr wunderlichen Brief schreibe, so weiß ich nicht, was aus meinen Nerven werden soll.«

»Die Frau hat recht, Hagebucher«, sprach der Major, »es ist in der Tat eine trübselige Historie, aber wer ist befugt, da einzugreifen, und welch ein Nutzen könnte dadurch geschaffen werden?«

Der Afrikaner sah wiederum den Schatten des Leutnants Kind an der Wand; doch schon hatte das nichts Erschreckendes mehr für ihn. Im Gegenteil, als er in der Tiefe seiner Seele den Namen des alten Mannes aussprach, verschaffte er sich dadurch einen befreienden, erleichternden Atemzug. Er nahm seinen Hut, nachdem er noch vernommen hatte, daß wohl der Major, aber nicht die Frau Majorin den Ball des Herrn von Betzendorff besuchen werde.

< Sechsundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel >



Die Inhalte dieser Seite sind Eigentum der Öffentlichkeit.
Sollten trotzdem Urheberrechte entgegen unserem Wissen verletzt worden sein, bitten wir Sie mit uns Kontakt aufzunehmen.