Frei Lesen: Abu Telfan

Kostenlose Bücher und freie Werke

Kapitelübersicht

Erstes Kapitel | Zweites Kapitel | Drittes Kapitel | Viertes Kapitel | Fünftes Kapitel | Sechstes Kapitel | Siebentes Kapitel | Achtes Kapitel | Neuntes Kapitel | Zehntes Kapitel | Elftes Kapitel | Zwölftes Kapitel | Dreizehntes Kapitel | Vierzehntes Kapitel | Fünfzehntes Kapitel | Sechzehntes Kapitel | Siebzehntes Kapitel | Achtzehntes Kapitel | Neunzehntes Kapitel | Zwanzigstes Kapitel | Einundzwanzigstes Kapitel | Zweiundzwanzigstes Kapitel | Dreiundzwanzigstes Kapitel | Vierundzwanzigstes Kapitel | Fünfundzwanzigstes Kapitel | Sechsundzwanzigstes Kapitel | Siebenundzwanzigstes Kapitel | Achtundzwanzigstes Kapitel | Neunundzwanzigstes Kapitel | Dreißigstes Kapitel | Einunddreißigstes Kapitel | Zweiunddreißigstes Kapitel | Dreiunddreißigstes Kapitel | Vierunddreißigstes Kapitel | Fünfunddreißigstes Kapitel | Sechsunddreißigstes Kapitel |

Weitere Werke von Wilhelm Raabe

Pfisters Mühle | Die Leute aus dem Walde | Deutscher Adel | Das Horn von Wanza | Der Marsch nach Hause |

Alle Werke von Wilhelm Raabe
Diese Seite bookmarken bei ...
del.icio.us Digg Furl Blinklist Technorati Yahoo My Web Google Bookmarks Spurl Mr.Wong Yigg


Dieses Werk (Abu Telfan) ausdrucken 'Abu Telfan' als PDF herunterladen

Wilhelm Raabe

Abu Telfan

Zweiunddreißigstes Kapitel

eingestellt: 2.7.2007



Man konnte nicht sagen, daß der Mann vom Mondgebirge, der Siebenschläfer aus dem Tumurkielande sich als Herr der Situation fühlte, als er, mit dem Bedürfnis, das Ohr an das Schlüsselloch zu legen, vor der Tür der Majorin stand, und doch mußte er sich gestehen, daß er und die Frau Klaudine die einzigen Leute seien, deren Umgang und Zusprache nunmehr der unglücklichen Gattin des Barons Glimmern allein gemäß waren. Hier gab es zwei Menschen, um welche das Schicksal, gleichsam in der Absicht, ein Problem dadurch zu lösen, einen Kreis gezogen hatte; und aus Millionen war Nikola Glimmern jetzt allein berechtigt, diese düstere Grenzscheide, welche das drängende Gewühl des Lebens von der tiefinnern Einsamkeit dieser beiden Verschollenen trennte, zu überschreiten.

Die Tür öffnete sich ein wenig. »Gott sei Dank!« rief die Frau Emma, zog den Afrikaner in das Gemach und flüsterte, indem sie mit zitternder Hand auf die Freundin wies:

»Sehen Sie! Helfen Sie!«

Im glänzenden Hof- und Ballkostüm, mit nackten Schultern und Armen, schritt Nikola von Glimmern auf und ab, die weite Schleppe rauschend hinter sich herziehend, wunderbar schön in ihrer verwilderten Pracht und doch unendlich betrüblich anzusehen.

Sie weinte nicht. Ihr zartes, weißes Spitzentuch hatte sie längst in Fetzen gerissen, sie lachte durch die weißen, fest aufeinandergesetzten Zähne, und so kam sie auf den Afrikaner zu, faßte seinen Arm und keuchte:

»Was flüsterte sie? Was sagte sie zu Ihnen? Weshalb spricht sie nicht laut und deutlich wie sonst?«

»Nikola?!« rief die Frau Emma.

»Sie werden jetzt alle in meiner Gegenwart nur leise, ganz leise sprechen, und ich werde mich daran gewöhnen müssen. Verzeih mir, Gute, es wird gewiß eine Zeit kommen, wo ich nicht mehr so dumm nach dem frage, was sich von selbst versteht. Guten Abend, lieber Freund; man wird Sie hoffentlich nicht meinetwegen aus dem Bett geholt haben; es ist recht kalt hierzulande, und die Sonne unter den Palmen muß Sie jedenfalls ein bißchen verwöhnt haben. Es ist wohl auch ein wenig spät, und wer es vermag, der soll schlafen, und kund und zu wissen sei, daß wir bei Todesstrafe hiermit verboten haben wollen, Feuer vor der Tür der Schnarchenden zu rufen, ehe das eigene Dach derselben brennt.«

»Ich war sehr wach und munter, als ich von dem Feuer in des Nachbars Hause vernahm«, sagte Hagebucher, wie ein Arzt, welcher an einem Krankenbette Stadtneuigkeiten erzählt und wohl weiß, was er tut. »Ich war recht munter und lebendig und hatte nicht nötig, mir die Augen zu reiben. Ich sah in einen Korb, wie der Mann auf dem Brett der Guillotine, in einen leeren Korb, und eine sehr liebenswürdige junge Dame, von der sich nichts Böses sagen läßt, hatte mir denselben vorgeschoben, nachdem ich meine Absicht ausgesprochen hatte, sie zu meiner Frau zu machen und glücklich mit ihr zu sein, solange der Tag oder vielmehr das Leben dauern mochte. Aber, wie gesagt, sie dankte höflichst und gab mir zu verstehen, sie sei schon längst und recht gut versorgt; – da war es keine Kunst, diese böse Sturmglocke nicht zu überhören.«

In beschaulicheren Zeiten würde die Frau Emma bei solcher Mitteilung die Hände hoch über den Kopf gehoben haben; in dem jetzigen Augenblicke begnügte sie sich damit, den Namen jener jungen Dame zu nennen und die Frau Nikola anzusehen. Die Frau Nikola aber stieß die Hand Leonhards von sich und sagte:

»Ich höre allerlei Worte, aber es wird mir so schwer, irgendeinen Sinn damit zu verknüpfen. Da sprach jemand von heiraten und glücklich sein, von Feuerlärm und jenem Korbe vor dem Fallbeil. Wartet nur, ich besinne mich schon auf die Phrase! Cracher au panier nannten das die Damen, welche mit dem Strickstrumpf in der Hand der lustigen Komödie auf dem Revolutionsplatze zusahen. Sie sollten nicht Hochzeit machen, ohne mich um Rat zu fragen, Hagebucher; ich bin eine kluge Frau und könnte viele Leute als Zeugen dafür aufrufen, wenn ich mich nicht vor den Stimmen der Menschen so sehr fürchtete.«

»Wir gingen einmal von der Katzenmühle fort«, sagte Hagebucher ruhig. »Das heißt, Sie ritten auf dem Prospero und ich lief nebenher auf der Landstraße, und da sprachen wir vieles von den Tagen, die da kommen könnten. Sie trugen das schwarze Brod der Frau Klaudine am Busen mit sich fort, und ehe wir uns auf der Höhe hinter Fliegenhausen trennten, redeten wir miteinander von einem Reiche der Freiheit, Ruhe und stolzen Gelassenheit, dessen Bürgerbriefe wir zu besitzen glaubten. Wir redeten auch davon, daß wir einst von neuem zusammentreffen würden, und vielleicht in einer schlimmen, todbringenden Stunde. Da wollten wir uns dann gegenseitig an jenes lichte Reich und an jenen Freibrief erinnern, und das stille Auge in der Waldmühle sollte über uns beide wachen. Jetzt, Nikola, jetzt wollen wir uns und der Welt halten, was wir uns und ihr versprachen. Sind Sie nicht mehr die frühere Nikola, die mit Lachen behauptete, in allen Ketten frei bleiben zu können? Blicken Sie auf, blicken Sie in sich: in unserm Reiche hält man den Sieg grade dann am festesten, wenn die Widersacher am lautesten Sieg über uns kreischen. O besinnen Sie sich, Nikola Einstein, was Sie waren und was Sie sind.«

»Das ist freilich die Frage, aber besinnen kann ich mich nicht darauf. Sie reden von Träumen, die ich vor hundert Jahren träumte, wie von einem Wirklichen; doch es hat keinen Sinn für mich. Was bin ich? Ein armes, geschlagenes Weib, keine Heldin, die an einem Sommerabend auf einem weißen Pferde durch den Wald reitet und den Rausch und die Lieblichkeit der Natur für ihren eigenen Mut, ihr eigenes Denken und Fühlen ausgibt! Eine alte Jungfer, welche ein Zauber in den letzten Illusionen der Jugend festhielt, war ich, als wir zuerst zusammentrafen, und heute bin ich eine alte, kranke Frau, welche ihr Reich nur in dem ganz Gewöhnlichen hat und mit demselben auf Nimmerwiederaufstehen zusammenbricht. Schütteln Sie nicht den Kopf. Sie wissen so gut wie alle andern Leute Bescheid und wissen wie alle andern, daß das Leben, welches heute so lustig mit uns fährt, doch das einzig wahre und wirkliche ist. Du bist eine verständige Frau, Emma, und du hast es immer gesagt; jetzt überzeuge auch jenen und laß dir den Dank in Seufzern und Tränen auszahlen. Jetzt sind wir so weit, als wir kommen mußten, um dem Publikum mit unserm Dasein den rechten Nutzen zu stiften. Die Sache ist recht lehrreich; die ewige Gerechtigkeit tritt so trefflich, ganz im rechten Augenblick und an der rechten Stelle aus der Kulisse und gibt jedem sein Teil nach seinem Verdienste. O es ist ein recht süßer und erquicklicher Gedanke in allem Elend, daß man zuletzt doch nichts weiter ist als ein Bild in dem großen Abc-Buch der Welt und daß der ihr am besten diente, welcher sein Ich am Schandpfahl am nacktesten ihren Blicken, Worten und Steinwürfen darbot. Mein Kopf, mein armer Kopf! Wer hätte gedacht, daß es so pochen könnte in den Schläfen? Gebt mir ein Riechfläschchen, ich will mir die Stirn mit Kölnischem Wasser reiben und so ruhig und vergnügt sein, als ihr nur wünschen mögt. Seht, wir können uns wohl loben; wir haben unsere Sache gut gemacht, und nun wollen wir gehen und uns in den Winkel setzen. Sie greifen doch schon nach Hut und Regenschirm und ziehen ihre Kleider zusammen und rücken auf den Sitzen. Gute Nacht, gute Nacht!«

»Nikola, Nikola, fasse dich, mein Herz! Das streift ja an den Wahnsinn, meine arme Seele!« rief die Majorin, indem sie laut schluchzend die Freundin in die Arme schloß; doch Nikola sprach weiter:

»Hab keine Sorge um meinen Verstand, mein Kind, den konservier ich mir gut, nur zu gut. Aber weine nur, Emma, ich gäb ein groß Stück von meinem Verstand, ums auch zu können; aber ich kann es und darf es nicht. Es ist auch dumm, zu weinen, wenn man kein Recht dazu hat. Ja freilich, kleine Frau, du hasts gut, und Gott segne dir dein Glück. Du hast alles immer ganz und vollständig gehabt, das Lachen wie das Weinen, und hast dich bei dem einen wenig um das andere gekümmert. Dich rief man nicht von allen Seiten, wenn du auf deinem eigenen Schemel stillsitzen wolltest, und zerrte dich nicht an den Flügeln herbei, wenn du den schrillen Ruf überhörtest. Du konntest ruhig deines Weges gehen, gute Leute haben dich zurechtgewiesen, und gute Leute begleiteten dich. Ich wünschte wohl, ich hätte meine Gedanken und auch meine Kinder wiegen dürfen wie du; sintemalen das nun aber nicht hat geschehen können, mein Herz, so mache dich morgen früh auf die Beine, bestelle meiner gnädigen Frau Mama einen schönen Gruß von mir und sage ihr, ich sei mit jenem sonderbaren Herrn Hagebucher aus dem Tumurkielande auf und davon gegangen und bitte, daß man es mir nicht übelnehmen wolle. Sage auch, ich habe es hier nicht länger aushalten können und ich sei fest überzeugt, daß unter den obwaltenden Umständen die frische Luft und eine veränderte Umgebung sehr wohltätig auf meinen Charakter und meine Stimmung wirken müßten. Du kannst einen Wink fallen lassen von den sieben Zwergen hinter den sieben Bergen oder sonst einer bekannten Gegend des Märchenlandes, wohin weder Briefe noch telegraphische Depeschen von der Postverwaltung expediert werden. Flüstere auch ganz leise, es sei ja nun doch alles verspielt und keine weitere Aussicht, auf diesem Wege zu noch höherer Ehre, Würde und Vergnüglichkeit zu gelangen, und da, wiederum unter so bewandten Umständen, Prinzeß Marianne, Hoheit, gewiß nichts gegen ein solches Verschwinden einzuwenden habe, so werde auch Mama sicherlich sich dreinzufinden wissen. Wenn du willst, kannst du dann noch beifügen, ins Wasser gehe die Nikola auf keinen Fall und wenn das ein Trost sei, so stehe er zur Verfügung; auch schreiben werde die Nikola, sobald sie dazu imstande sei, und sofern man es ihr nicht zu schwer mache, wolle sie auch weiterhinaus eine gehorsame und in allen Dingen geduldige Tochter bleiben. Du wirst den ministre plénipotentiaire schon zu agieren wissen, Frau Emma Wildberg; und mein ehrliches Wort – ja, ihr da alle, mein ehrlich, ehrlich Wort! –, keinen Roman aus meinem Elend machen zu wollen, gebe ich auch. Sage, es sei meine Absicht, die Wildnis, das Wurzelngraben und Eichelnessen sehr ernst zu nehmen, und daher könne man nichts Besseres tun, als mich meines Weges gehen zu lassen. Dann mache dein Kompliment, kehre nach Hause zurück, wirf zur Beruhigung des Gemütes einen Schuh hinter mir her, und dann setze dich in eine Ecke, denke nach über eine lehrhafte und rührende Historie für deine Kinder und laß sie beginnen: Es war einmal ein feines junges Mädchen, das hieß Nikola und erlebte allerlei mit Feen, Zwergen, Zauberern, wilden Drachen, mit Gold und Silber und Demanten, und es ging verloren im Walde, man weiß eigentlich nicht so recht auf welche Weise; doch es ist sehr rührend und lehrhaft, davon zu sagen.«

So redete Nikola von Glimmern und drückte die geballten Hände gegen die Stirn und schwieg erst in äußerster Erschöpfung und aus vollkommenem Atemmangel. Leonhard Hagebucher ließ sie auch ruhig reden und machte nicht ein einziges Mal den Versuch, sie zu unterbrechen. Erst als sie leise schluchzend in den Kissen des Diwans der Frau Emma lag, sagte er, aus dem Fenster blickend:

»Es fängt an zu schneien. Bismillah, wer seine Fußtapfen verbergen will, dem wird jetzt ein treffliches Reisewetter gegeben, und es ist auch meine Meinung, Frau Majorin, daß die Frau Nikola und ich die Stadt mit dem frühesten Morgen verlassen und über Nippenburg und Bumsdorf den Weg zur Katzenmühle einschlagen. Es ist jetzt sehr still in den Wäldern um Fliegenhausen, die Erfahrung davon hab ich neulich mitgebracht. Die Natur hat den Finger auf den Mund gelegt, und niemand braucht Furcht zu haben vor dem Jauchzen und Jubilieren der Felder und Wiesen. Wir klopfen an die Tür der Frau Klaudine und wundern uns, wie mancher Ton, der uns jetzt schrill und schneidend ins Ohr klingt, hinter uns verhallte. Die Frau Majorin kennt die Katzenmühle nicht; aber die Frau Nikola kennt sie: es ist kein besserer Ort auf Erden, um ein großes Leid dahin zu tragen; und was Eisen und Feuer nicht heilen können, das wird mit linder Hand Unsere Liebe Frau von der Geduld, die Frau Klaudine, heilen. Viele Worte sind darüber nicht zu verlieren, den Weg zu wissen ist die Hauptsache; übrigens verspreche ich der Frau Emma, die Frau Nikola gut zu führen und sie unterwegs auf das angenehmste von meinem eigenen Leidwesen, welches ich diesmal zur Katzenmühle trage, zu unterhalten.«

Die Majorin faßte den Afrikaner an beiden Schultern und gab ihm einen herzhaften Schmatz.

»Sie sind ein Prachtmensch, Hagebucher!« sprach sie.

Nikola richtete sich auf und sagte, indem sie dem Freunde die Hand reichte: »Auch Sie wieder? Sie sprachen schon vorhin von einem Leid, das Ihnen geschehen sei. Aber ich bin so taub und so blind! Was hat man Ihnen wieder angetan?«

Leonhard fühlte jetzt beinahe einige Gewissensbisse, daß er sein kleines Malheur in solchem Augenblicke dem Unglück dieser Frau, wenn auch in der besten Absicht, an die Seite geschoben habe. Allein das Mittel hatte doch seine Wirkung getan und das Weib des Barons von Glimmern aus der allertiefsten Betäubung emporgezogen.

»Ich werde Ihnen und der Frau Klaudine das Weitere in der Mühle erzählen; jetzt aber lassen Sie uns überlegen, wann und auf welche Weise wir unsere Fahrt bewerkstelligen sollen.«

Es kostete Mühe und viel Überredungskunst, manches gute und auch einige harte Worte, um die aufgeregte Nikola zu überzeugen, daß man nicht in dieser Stunde und in einem solchen Zustande des Leibes und der Seele aufbrechen könne, daß man wenigstens den Morgen erwarten müsse. Nicht immer siegt unter ähnlichen Umständen der ruhige Pulsschlag über den fiebernden; der Schmerz und der Zorn sind fast ebenso hartnäckige Gegner des Verstandes als die Liebe; aber dieses Mal siegte Hagebucher zuletzt doch. Gleich einem matten, ausgeweinten Kinde ließ er Nikola auf den Kissen und in der Obhut der Majorin und ging zu den beiden Herren zurück. Er fand dieselben noch in derselben Stellung, in welcher er sie vor einer halben Stunde hinter sich ließ.

»Wie geht es den Damen? Wie geht es meiner armen Kusine?« rief der Leutnant. »O Hagebucher, ich habe schon sehr häufig recht bänglich an einer Türe gewartet, doch noch niemals in einer solchen absoluten Auflösung wie jetzt. Auch mir wären die schwedischen Hörner augenblicklich lieber als manches andere, und obgleich ich ein guter Kerl und leicht zu überzeugen bin, etwas sei wahr oder etwas gehöre ins Reich der Fabel, so kann ich – kann ich mit dem besten Willen nicht an diesen Herrn van der Mook glauben, und was die Meinung des Majors betrifft, so fragen Sie ihn selber darnach.«

Der Major schüttelte den Kopf und zeigte sich von neuem als ein wohlbelesener Kriegsmann. Er zitierte:

                                                    »Dies
Gibt wie ein Traubenschuß an vielen Stellen
Mir überflüßgen Tod.«

»Ich denke nicht!« meinte Leonhard und konnte trotz aller Not und Sorge ein Lächeln über das so ungemein charakteristische Gebaren der beiden militärischen Herren nicht unterdrücken. »Viktor Fehleysen lebt und ist heimgekehrt, und, wie ich glaube, uns allen zum Heil. Sie, Freund Bumsdorf, werden zuerst die Gelegenheit haben, den Wiederauferstandenen zu begrüßen. Wir greifen mit beiden Händen nach der Hülfe, welche Sie uns anboten; Sie müssen auf der Stelle nach der Katzenmühle, und es wird Ihre Sache sein, auf welche Art Sie die Mühle am sichersten und schnellsten erreichen. Auf der Stelle müssen Sie aufbrechen, um den Herrn van der Mook von allem, was hier geschah, in Kenntnis zu setzen. Er wird begreifen, was er zu tun hat, und Nikolas Ankunft nicht am Herde seiner Mutter erwarten. Geben Sie ihm von allem Nachricht, vorzüglich von der Flucht Glimmerns und der wilden Verfolgung des Leutnants Kind. Der nächste Eisenbahnzug in der Richtung geht erst morgen ab; Sie werden den Weg also zu Pferde zurücklegen müssen. Wird sich das tun lassen?«

»Ich führte dem Alten den Prospero bei ganz ähnlicher Witterung und ebenfalls in tiefster Nacht aus!« rief der Leutnant, zum erstenmal seit längerer Zeit wieder das Glas ins Auge kneifend und freundlich den Afrikaner dadurch betrachtend. »Das Verbrechen gelang vollkommen, das heißt, der entrüstete Greis holte mir den Gaul erst hier am Ort wieder aus dem Stalle. Hagebucher, ich danke Ihnen herzlich, Sie haben mich durch diesen Auftrag von neuem zu einem Mann gemacht. Ich werde reiten, wie noch niemals ein vernünftiger Mensch ritt. Lassen Sie mich sehen – ein Uhr vorüber! Ich werde den armen Roland dransetzen, und wenn er und ich nicht den Hals brechen, so bin ich um sechs Uhr in Nippenburg und zwischen sieben und acht Uhr vor der Katzenmühle.«

»So sind wir gerettet. Nach Mittag werde ich mit der Frau Nikola vor der Tür der Frau Klaudine anlangen«, sagte Leonhard.

Der Leutnant hatte bereits den Säbel zurechtgerückt und griff jetzt nach der Mütze. »Empfehlen Sie mich meiner Kusine – in einer Viertelstunde sitze ich im Sattel. Ich würde Pegasus und das Roß der vier Haimonskinder für sie zuschanden reiten. Ach, armer Roland!«

»Der Herr Papa wird den Ritterdienst gleichfalls zu schätzen wissen«, sprach Hagebucher tröstend, und Herr Hugo von Bumsdorf ließ das Glas vom Auge fallen, rief: »Es ist wahr« und fügte hinzu: »Lieber Freund, ich setze sowohl als Kavalier wie als Mensch das gute Vieh ohne Gewissensskrupel dran und werde mit Vergnügen auch in Ihrem eigenen Hause Ihre demnächstige Ankunft melden. Au revoir unter gemütlicheren Umständen!«

Er sprang fort, und der Major sagte:

»Ihre Botschaft ist in guten Händen, Hagebucher. Ich werde übrigens dafür sorgen, dem Tollkopf den nötigen Urlaub nachträglich zu verschaffen; aber was kann ich weiter tun? Ich fühle mich so nutzlos und möchte doch auch meinesteils gern in diesen ernsten Augenblicken handelnd eingreifen.«

Hagebucher zuckte die Achseln:

»Was können wir alle tun? Wir breiten unsere Mäntel auf dem Wege aus, aber der Weg selbst führt nichtsdestoweniger nach Golgatha. Wenn die Kraft, das schlimme Verhängnis zu ertragen, nicht in der eigenen Brust des Opfers wäre, so würde alles, was wir zur Milderung der Krisis vollbringen können, gleichgültig, ja vielleicht zum Schaden sein. Gehen Sie jetzt zu den Frauen; es wird sich Gelegenheit zu manchem guten und ernsten Wort finden. Ich werde meine eigenen Vorbereitungen zur Reise treffen. Wenn Sie die – Kranke bewegen könnten, sich für einige Augenblicke niederzulegen, würden Sie ein großes Werk verrichten.«

Wie dem Leutnant von Bumsdorf gab der Afrikaner nun auch noch dem Major Wildberg einen gedrängten Bericht über die Heimkehr Viktor Fehleysens, trat dann noch einmal in das Zimmer der Frau Emma und fand daselbst nichts verändert. Er versuchte es auch keineswegs, von Vernunft, Seelenstärke und Philosophie zu schwatzen, sondern nahm nur still und herzlich Abschied von der Majorin und zeigte an, daß er um acht Uhr mit einem Wagen vor der Tür halten werde. Nikola von Glimmern schien ihn kaum zu bemerken, und so verließ er das Haus und fand seinen Weg langsam zur Kesselstraße zurück.

< Einunddreißigstes Kapitel
Dreiunddreißigstes Kapitel >



Die Inhalte dieser Seite sind Eigentum der Öffentlichkeit.
Sollten trotzdem Urheberrechte entgegen unserem Wissen verletzt worden sein, bitten wir Sie mit uns Kontakt aufzunehmen.