Frei Lesen: Abu Telfan

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Wilhelm Raabe

Abu Telfan

Fünftes Kapitel

eingestellt: 2.7.2007



Das helle Lachen des Hoffräuleins verklang hinter der Waldecke, und mit gesenktem Kopfe schritt Leonhard Hagebucher auf dem Pfade, welcher die Wiese entlang dem nahen Dorfe zuführte, weitbeinig fort. Das Schwesterchen hatte sich an seinen Arm gehängt und trippelte atemlos an seiner Seite und blickte von Zeit zu Zeit stumm, aber liebevoll-ängstlich zu dem ernsten, fast finstern Gesichte des Bruders in die Höhe.

Es waren am heutigen Tage grade drei Wochen seit dem Wiederkommen des afrikanischen Gefangenen verflossen, und wie kein Kind im Dorfe Bumsdorf den geheimnisvollen, staunenden Schrecken vor dem großen, braunen Mann, der mit den Menschenfressern aus einer Schüssel gegessen hatte, vollständig überwunden hatte, so war auch für Fräulein Lina Hagebucher dieser Bruder immer noch ein hohes, unsägliches Wunder und Mysterium und konnte für noch längere Zeit nicht in seiner ganzen Fülle und Bedeutung ausgedacht werden. Was Nippenburg und Bumsdorf aber im ganzen und großen anbetraf, so nahmen sie, obgleich ein Mann, der aus dem unbekannten innersten Afrika heimgekehrt, jedenfalls etwas Ungewöhnlicheres war als der abenteuerlichste Amerikafahrer, das Ding bereits viel kühler und gelassener, und die liebe weitere Verwandtschaft, die sich heute im Hause des Steuerinspektors versammeln sollte, nahm es sogar sehr kühl und sehr gelassen. Dem Manne aus dem Tumurkielande wuchsen mit den Haaren auf dem à la Tumurkie geschorenen Schädel auch die unangenehmeren europäischen Gefühle wieder, und wir müssen ihm die volle Berechtigung zugestehen, auf manchem Wege und auch auf diesem durch das Dorf Bumsdorf den Kopf hängen zu lassen.

Er hatte viel geduldet bis zu seiner Befreiung durch den Herrn Kornelius van der Mook; dann war er in dem Hause seiner Eltern erwacht und hatte jene seltene Minute des vollen, sichern Glückes gekostet. Aber schnell wie immer war dieser Augenblick vorübergegangen – ein Morgenschlummer, ein sonniger Tag in der Geißblattlaube, am Abend ein Gang durch die Wiesen und Kornfelder nach dem Walde! Schon das nächste Erwachen brachte wieder das erste leise Anspülen bitterer Fluten, und nach acht Tagen war Leonhard Hagebucher vollständig daheim, das heißt, er wußte Bescheid, und Bescheid zu wissen gehört und stimmt gewöhnlich nicht im geringsten zu und mit dem Glück. Wohl saß er noch in der Geißblattlaube an der Landstraße und freute sich der Sonne des Vaterlandes, der Stimmen und Schritte der alten Eltern, des lieblichen Lachens der kleinen hübschen Schwester, wohl suchte und fand er in Stadt und Dorf hundert und aber hundert freundliche Jugenderinnerungen; man kam ihm immer noch an den meisten Orten mit Gruß und Handschlag herzlich entgegen, und es gab immer noch viele Leute, welche seiner Odyssee mit Herzklopfen lauschten und dankbar für alles waren, was er in dieser Hinsicht zu bieten hatte; aber – aber dem Unbehagen wuchsen doch täglich mehr züngelnde, saugende Polypenarme, mit welchen es die Seele des müden Wanderers fester und immer fester umschlang. Nun wußte die Welt bereits, daß der Sohn des Steuerinspektors Hagebucher als ein armer Mann aus der Fremde heimgekehrt sei, und die wundervollen Illusionen, welche sich Nippenburg gemacht hatte, waren schnell in ihr Gegenteil umgeschlagen, und man teilte einander unter bedächtigem Kopfschütteln mit, daß ein Vagabond in alle Ewigkeit ein Vagabond bleiben werde und daß es vielleicht um vieles besser gewesen wäre, wenn die Mohren dahinten am Äquator den unnützen Menschen bei sich behalten hätten. In der Kiste, welche dem armen Leonhard auf einem Schubkarren gen Bumsdorf nachgefahren worden war, befanden sich keine Säcke voll Diamanten und Perlen, keine Schachteln voll Goldstaub, sondern höchstens einige afrikanische Merkwürdigkeiten zum Andenken für die näheren Freunde und Verwandten. Herr Leonhard Hagebucher konnte aus dem Inhalt dieses Reisekastens keine Villa bauen und nicht nunmehr im Schatten seines Parkes, an seinem eigenen Herde und in der Gesellschaft eines liebenden Weibes aus den bessern Ständen seine Tage verbringen. Keine Nippenburger Mutter hätte einem solchen in der Luft stehenden Individuum ihre Tochter zur Ehe gegeben, und das war noch das allerwenigste: Leonhard Hagebucher hatte während seiner Gefangenschaft im Tumurkielande so ziemlich alles vergessen, was dem Menschen in unsern zivilisierten Zuständen zu seinem Fortkommen verhilft, ja ihn nur notdürftig auf der Stelle aufrecht erhält. Jede Wissenschaft, jede Kunst, jede Technik war über ihn hinausgeschritten; wo sonst die hohen Wasser sich umgetrieben hatten, da war jetzt öder Sand oder fruchtbares Ackerland, und wo vordem Sand und Wiesen gewesen waren, da jagten sich jetzt die Wellen. In Abu Telfan im Tumurkielande hatte den armen Gefangenen nichts gestört als die physische rohe Gewalt und die Sehnsucht nach der Freiheit, das Heimweh nach dem Vaterlande; jetzt in der Heimat fing alles an, ihn zu stören und zu beunruhigen; er war fremd geworden in der Zivilisation, in Europa, in Deutschland, in Nippenburg und Bumsdorf; eine unendliche und in jeder Weise begründete Angst vor den Dingen und vor sich selber mußte sich seiner bemächtigen – ein Schritt weiter, und er konnte sich nach dem Tumurkielande leise zurücksehnen: die Würde und Freiheit, die Bildung und Sitte des europäischen Menschen imponierten ihm viel zu mächtig. Lassen wir ihn übrigens jetzt vorerst seinen Weg zum Dorfe fortsetzen, und sehen wir derweilen, wer von der Freundschaft und Verwandtschaft zum großen Rat und Kaffee im Hause seiner Eltern ankam oder schon angekommen war.

Angekommen war in ihrer gelben Kutsche die Tante Schnödler, zu welcher eigentlich auch ein Onkel Schnödler gehörte, der jedoch, da die Tante das Geld hatte und er – der Onkel – dieses weder durch Talente, Energie noch die geringste männliche Grobheit ausglich, nicht mitgerechnet wurde. Sie, die Tante Schnödler, die Kusine der Mutter Leonhards, saß bereits, jede Situation beherrschend, in dem Paradezimmer des Hauses Hagebucher auf dem Kanapee und fand es, wie Ludwig der Vierzehnte, sehr provozierend, daß man sie sowohl auf den Kaffee als auch auf den Neffen aus dem »Kaffernlande« warten ließ.

In Sicht auf der Landstraße war der Onkel, Kaufmann und Stadtverordnete von Nippenburg, der Herr Stadtrat Hagebucher, ein Mann von körperlichem und geistigem Gewicht, der drei Töchter in seinem Ehestande erzeugt hatte und im Gänsemarsch mit denselben gen Bumsdorf zog: heiterer als im vorigen Jahre, wo noch seine Selige stets den Zug anführte und er ihn nur beschloß. Es kamen zwei jüngere Vettern, welche jedoch auch bereits Haare auf ihrer Beamtenlaufbahn gelassen hatten und welche, obgleich der Staat ihnen ihren Gehalt quartaliter mit einem gewissen Hohn, mit zweifelloser Ironie auszahlte, sich den idealsten wie den materiellsten Mächten, den Schwärmern für die Republik Deutschland wie der reichsten Bankiers- oder Fabrikantentochter gewachsen glaubten. Eine solche wohlhabende Fabrikantentochter und Kusine, Fräulein Leonore Sackermann, langte aus entgegengesetzter Weltgegend unter den Fittichen ihrer einen sehr guten Kartoffelspiritus produzierenden Eltern vor dem Hause des Steuerinspektors an. Hoch zu Roß kam der Wegebauinspektor Wassertreter, ein dreiundsechzig Jahre alter, verächtlicher Junggesell, welcher sich von Amts und Wetters wegen dem Trunke ergeben hatte und es besser hätte haben können, wie die Base, Fräulein Klementine Mauser, die ebenfalls allein, aber zu Fuße anlangte, zur unbehaglichen Zeit der Äquinoktialstürme ihrem jungfräulichen Kopfkissen ärgerlich anvertraute.

Wer kam noch? Schließen wir die Liste, nachdem wir sie kaum begonnen haben! Es versammelte sich so ziemlich der ganze Vetter Michel, und Herr Leonhard Hagebucher trat in den geweihten Kreis und bot ihm, wenn nicht den bekannten deutschen »guten Abend«, so doch das arabische Selam aleikum, das Heil sei mit euch, worauf die Tante Schnödler erwiderte:

»Wir danken dir, Herr Neffe, und freuen uns, dich anständig und christlich in Rock, Hose und Weste wieder unter uns zu haben. Du bist einst zwar ohne Abschied weggegangen, aber hier sind wir, wie es sich geziemen will, und heißen dich in verwandtschaftlicher Kompanie willkommen in Nippenburg und sind uns vermuten, daß du nun wohl endlich genug von der Vagabondage und Unreellität und sonstigen Phantasterei haben wirst. Sag n Wort, Schnödler.«

»So ist es, Minette«, sprach der Onkel Schnödler, und mehr wurde nicht von ihm verlangt, würde im Gegenteil sehr übel aufgenommen worden sein; Leonhard aber fühlte sich lebhaft an jene Audienzen erinnert, welche ihm vor kurzem noch Madam Kulla Gulla, die Schwiegermutter seines Besitzers im Tumurkielande, so häufig erteilte und welche stets damit endigten, daß ihm fünfundzwanzig auf die Fußsohlen zudiktiert wurden.

Es war ein großer Tag! Wenn auch die jungen Kusinen, gleich den Kindern von Bumsdorf, noch immer mit einer aus Schrecken und Mitleiden gemischten Verwunderung auf den Vetter blickten, so hatte doch die ältere Verwandtschaft jegliche mysteriöse Scheu gründlich abgeworfen und zog ihren autochthonen Lebensanschauungen und Gefühlen alle Schleusen. Das germanische Spießbürgertum fühlte sich dieser fabelhaften, zerfahrenen, aus Rand und Band gekommenen, dieser entgleisten, entwurzelten, quer über den Weg geworfenen Existenz gegenüber in seiner ganzen Staats- und Kommunalsteuer zahlenden, Kirchstuhl gemietet habenden, von der Polizei bewachten und von sämtlichen fürstlichen Behörden überwachten, gloriosen Sicherheit und sprach sich demgemäß aus, und der Papa Hagebucher wäre der letzte gewesen, welcher für seinen Afrikaner das Wort ergriffen hätte.

Es war ja der Tag des Papa Hagebucher. Er hatte diese Versammlung berufen, um sich von ihr in seinen innersten Anschauungen recht geben zu lassen. Er mochte den Verlust des Sohnes noch so sehr bedauert, ja betrauert haben: die plötzliche und so gänzlich anormale Rückkehr mußte ihm naturgemäß doch noch fataler werden. Die frohe Überraschung ging allmählich in eine mürrische, grübelnde Verstimmung über; – berechnen ließ sich hier nichts mehr, denn sämtliche Ziffern waren ausgelöscht, nur ein Fazit stand zuletzt klar da: »Der Bursche lief fort, weil er einsah, daß man ihn hier nicht gebrauchen könne; man hat ihn auch dort nicht gebrauchen können, er ist heimgekommen, und ich habe ihn wieder auf dem Halse!«

Klar war die Rechnung, doch nicht tröstlich, und es war jedenfalls wünschenswert, daß die liebe Freundschaft und Verwandtschaft ihre Unterschriften oder drei Kreuze zu dem Wahrspruch hergebe. Man hatte sich denn doch zu rechtfertigen vor der Welt, und das konnte nicht besser bewerkstelligt werden, als wenn man sie von Anfang an mitverantwortlich machte. Es war auch keine Kleinigkeit, wenn man sich hinter der grünen Gardine des Ehebetts auf das Urteil der Tante Schnödler, die Meinung des Bruder Stadtrats oder des Vetter Sackermanns berufen konnte – man trug die Verantwortlichkeit jedenfalls nicht gern allein.

Es war ein sehr großer Tag, und Lina Hagebucher hielt zuletzt ganz ängstlich die Faust ihres Bruders, denn sie konnte viel schärfer als die Mutter für ihn fühlen und beobachtete mit Zittern, wie seine Stirn von Augenblick zu Augenblick dunkler wurde und es immer grimmiger aus seinen Augen wetterleuchtete. Jeder hatte seinen Rat zu geben und gab ihn gern und ausführlich. Es war gar nicht so schwer, sich anständig durchs Leben zu bringen, wenn nur der gute Wille dazu vorhanden war; verschiedene Wege führten noch aus der Nichtsnutzigkeit hinüber in die wünschenswerteste Respektabilität, und ein jeder stellte sich mit Vergnügen als Wegweiser auf den Kreuzweg, vorzüglich die Tante Schnödler, welche sich räusperte und sprach:

»Es ist nicht genug, daß der Mensch den Schneider kommen und sich ein neu Habit anmessen lasse; es gehört noch mehr dazu, um wieder ein anständiger großherzoglicher Staatsbürger und Untertan zu werden. Da könnte jeder Lumpazi kommen, der sein alt zerlumpt Wams am Grabenrand zum öffentlichen Ekel abgetan und das gestohlene neue angezogen hat! Der Mensch und wilde Indianer muß auch geistlich nach dem Balbierer schicken und keine Gesichter schneiden, wenn Leute zu ihm reden, die im Lande geblieben sind und sich in Gottesfurcht fünfundzwanzig Jahre redlich genährt haben, was ich übrigens nur beiläufig und zum Besten von der fernern guten Freundschaftlichkeit gesagt haben will. Was ich nun dem Leonhard raten will, das ist, er tut alles hochmütige und ausländische Wesen ab und fängt da wieder an, wo er aufgehört hat, das heißt, da es mit einem Pastor nunmehr wohl nimmermehr was werden wird, so geht er zum Vetter Stadtrat, läßt sich von neuem in die Schreiberei einschießen und kanns mit der Zeit und der Nachhülfe von der Verwandtschaft wieder zu einem nützlichen Mitgliede vons Gemeinwesen und bis zum Ratsskribenten bringen.«

»Als wozu der Herr Neffe wenig Lust zu haben scheinen, wenn man nach seiner Miene urteilen dürfte«, sprach der Onkel Hagebucher mit einem wenig freundlichen Seitenblick auf den Verwandten aus Abu Telfan.

»Sprich n Wort, Schnödler! Sage deine Meinung, Leonhard! Lasset euch aus, Steuerinspektor und Kusine Hagebucher! Sagen Sie item, was nötig ist, Vetter Sackermann!« rief die Tante Schnödler. »Ich aber sage, daß wir hier in Nippenburg nicht im afrikanischen Mohrenlande leben und daß kein Mensch es prätendieren kann, daß wir uns in die Mohren schicken; sondern die Mohren werden sich in uns schicken müssen, wenn sie mit uns hausen wollen. Ratsschreiber zu Nippenburg – hundertundfünfundsechzig Taler jährlich bar, achtzig Taler Sporteln und zwei Klafter Holz – und solch ein Gesicht! Sind wir vielleicht ein regierender König im Mohrenlande gewesen? Wenn das ist, so haben wir freilich nichts mehr zu sagen, und es handelt sich freilich nur um ein Retourbillett auf dem Postwagen und der Eisenbahn nach Afrika, und ich empfehle mich dem Herrn Potentaten ganz gehorsamst und sage nichts mehr.«

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