Wilhelm Raabe
Alte Nester
Zweites Buch, Erstes Kapitel
eingestellt: 12.7.2007
Es ist nichts leichter, aber auch nichts schwerer, als eine gute Grabrede zu halten. Ich für mein Teil aber bleibe unter allen Umständen gern davon und lasse jedem beliebigen anderen das Wort. In dem vorliegenden Fall sprach der Vetter Just am Grabe, und er hielt seine Rede mit dem Regenschirm als Kanzeldach über sich, und der Regen fiel, während er so vor sich hinbrummte, fein und leise nieder auf den kleinen, frischen Hügel zu unseren Füßen.
Wir beide,
der Vetter Just Everstein und ich, standen noch allein neben diesem Hügel. Die übrigen Trauergäste hatten bereits wieder ihre Kutschen bestiegen und waren abgefahren – Durchlaucht, der Herr Vetter **, unter ihnen. Der gutmütige Mann hatte es sich nicht nehmen lassen, gleichfalls, wenn auch etwas inkognito, seiner kleinen Verwandten das letzte Geleit zu geben. Er und der Vetter Just hatten in dem ersten Wagen den winzigen Sarg auf dem Rücksitz vor sich gehabt, und der Vetter Just konnte
späterhin die Bemerkungen, die der andere Vetter während der Fahrt gemacht hatte, nur loben. Das leichte aristokratische Unbehagen darüber, daß die Leiche nicht in dem Erbbegräbnisse zu Dorf Werden beigesetzt werde, hatte der Bauer vom Steinhof ebenso leicht dem illustren Herrn hingehen lassen und das feste Versprechen desselben, auch fernerhin der armen Mutter nach seinen »beschränkten Verhältnissen« ein treuer Freund bleiben zu wollen, durch die Bemerkung, daß man der guten Freunde nie genug
haben könne, entschieden gewürdigt. Aber ebenso entschieden hatte er dann seine Meinung dahin ausgesprochen, das beste werde sein, er, der Vetter Just, nehme fürs erste die Frau Baronin mal mit sich nach dem Steinhofe:
»Und wenn auch nur, um den Nerven in der Nähe der alten Heimat Zeit zu gönnen, sich zu beruhigen.« – – –
Doch nun zu der Grabpredigt, die der Vetter Just der Kleinen hielt.
»Müde zu Bette gebracht«, murmelte er. »Keine Mama kann
doch die Decke wärmer überlegen als Mutter Erde. Von dir gesagt, Fritz, klänge das gar nicht neu; aber für mich als Landwirt ist hier das Allerälteste immerdar das Neueste und klingt auch so. Meinst du nicht? – Nun sagt die Mama: ›Schlaf wohl und träume einen hübschen Traum, mein Herze; oder noch besser, träume gar nicht, denn das letztere soll das Gesundeste sein.‹ – Hast du etwas weiteres bei dieser traurigen Gelegenheit zu bemerken, Doktor? Wenn die Kinder zu Bette
gegangen sind, pflegen doch gewöhnlich die Erwachsenen von ihren wichtigen Geschäften und Angelegenheiten zu reden oder holen die besten Ratschläge für den nächsten Morgen hervor.«
»Sage du nur, was du zu sagen hast, Just, – sowohl über die Schlafenden wie über die Wachenden.«
»Zu sagen habe ich eigentlich nichts«, meinte der Vetter, mehr zu sich selber als zu mir gewendet. »Ich habe nur immer gefunden, daß solch ein Kinderbegräbnis ein eigen Ding ist. Du hast wohl
weniger Gelegenheit als ich gehabt, dabei anwesend zu sein; auf den Zwischenstationen zwischen der alten und der neuen Welt, in den jungen Ansiedelungen im Walde und dann und wann auch ein bißchen im Sumpfe hat man freilich mehr dergleichen. Der Mensch muß überall wie jedes andere Gewächs aus dem Boden herauswachsen, um ihn mit der dazu passenden Luft und dem Witterungswechsel von Anfang an gleich vertragen zu können und behaglich drauf zu leben und alt darauf zu werden. Ich habe den Steinhof
auch nur deshalb zurückgekauft, und ich nehme unsere Irene einzig und allein aus demselben Grunde mit mir dahin zurück, und – du bist auch auf dem alten Stammgrund willkommen, alter Eingeborener, – natürlich, wenn es dir deine Zeit erlaubt und du dich noch nicht bis zum Ekel an unseren früheren Verhältnissen hier akklimatisiert hast.«
Da hätten wir denn wohl hiermit eine Grabrede für die Mehrzahl der Erdenbewohner; denn für wie lange ist es dem Menschen gestattet, in dem
Boden zu wurzeln, aus dem er aufwuchs, dachte ich. »Ach, nicht nur um die Kinderbegräbnisse ist es ein eigen Ding, sondern um die Begräbnisse und Grabstätten der Menschheit überhaupt! Und inmitten der Gespräche, die geführt werden von den Erwachsenen, wenn die Kinder zu Bette gegangen sind, sind wir hiermit auch bereits, Vetter Just.«
»So ein armes, geplagtes kleines Wesen!« brummte Just Everstein kopfschüttelnd. »Es sieht uns in seinen Schmerzen fragend an und sagt: bitte, bitte!
– Ist das nicht wunderbar und schrecklich? Da stehen wir denn nachher, wie wir beide hier jetzt, und holen aus tiefer Brust Atem, und niemand kann uns das verdenken! Ich habe solche schlimmen, tiefen Atemzüge wohl hundertmal in Neu-Minden getan, und es war auf dem Nachhausewege doch nur ein leidiger Trost, daß immer noch so viele von ihnen da waren und übrigblieben, daß wir uns sogar wegen eines Schulmeisters für sie Sorgen machen mußten. Und dabei die Mütter, die übriggeblieben sind und
bei der leeren Wiege sitzen oder das verlassene Spielzeug und die Schreibbücher in ihrer Schürze zusammentragen! Sieh, da habe ich es uns denn so zurechtgelegt, daß Frau Irene ihren hiesigen Hausstand ganz aufgibt. Ich habe, wie du weißt, die Kleine in ihren Schmerzen, wenn es niemand anders, und auch die Mutter nicht, vermochte, zur Ruhe gebracht, und ich meine, wenn mir nur Zeit gelassen wird, bringe ich das auch mit der Mutter fertig. Ob ich einmal zu der Familie gehört habe, weiß ich nicht
und kümmere mich auch nicht darum; aber für den letzten männlichen Stammhalter der Eversteins halte ich mich in dieser Zeit doch! Ein bißchen enge zusammenschachteln werden wir uns auf dem Steinhofe wohl müssen; aber viel Gepäck nehmen wir ja nicht mit, und jedenfalls halten wir vorher Auktion, und im Notfall baue ich an. Ich bin gottlob drüben oft genug mein eigener Baumeister gewesen, um einen Kostenanschlag aufstellen zu können und mit wenigem einen hinreichenden Unterschlupf herzustellen. Es
sind ja auch nur zwei Köpfe mehr, wenngleich freilich zwei Frauenzimmerköpfe. Aber da wollen wir uns dem anderen Geschlechte gegenüber doch auch nicht zuviel auf unsere Praktik zugute tun. Du hast keinen Begriff davon, Fritz, wie es gerade die Weiber sind, die sich in der Not zusammenzudrücken wissen, wenn sie auch sonst noch so viele überflüssige Kisten, Kasten und Hutschachteln mit sich herumschleppen und die Räumlichkeit auf dem Schiff, im Postwagen und auf der Eisenbahn beengen. Mit uns
Mannsvolk ists genau das Umgekehrte. Geht es uns gut, so haben wir in einem Winkel mit einer Zigarre genug; aber geht es uns schlimm, so brauchen wir in unserer Phantasie zum mindesten das halbe Weltall, um Ellbogenraum für neue Dummheiten zu gewinnen. Im Grunde aber ists für alle ein und dasselbige, einerlei, ob wir als Mann oder Weib durch die Welt laufen. Und, Gott sei Dank, die Phantasie ist auch in Irene Everstein noch hellauf – nicht ganz und gar nach der dunkeln Seite hin! Du,
liebster Fritz, kennst die Frau noch nicht lange genug wieder, um dieses beurteilen zu können, denn dazu gehört mehr als ein erster Blick und zwei und drei Besuche im Hause. Und dann – unsere liebe Eva! Wie wird die mir helfen und beistehen! Und hätte ich wohl ohne das Zutrauen zu ihr den Mut gehabt, bloß so auf meine eigene Verantwortung in solch ein betrübtes Menschenschicksal mit Rat und mit Tat einzugreifen? Sie und – daß wir den Winter so ziemlich hinter uns haben, das sind die
Kerne, aus denen mein Trost aufwächst. Säße das gute Mädchen nicht im Dorfe Werden und würden nicht demnächst die Wälder wieder grün, so hätte die Sache freilich eine ganz andere Farbe. Aber nun geht die Sonne jeden Morgen früher wieder auf und am Abend später unter; und – ich sehe es kommen! Fritz, es ist mir eine wahre Beruhigung, daß ich es kommen sehe, und zwar im ganz natürlichen Verlaufe der Tage, von den Wochen und Monaten bis zum Eintritt des nächsten kürzesten Tages gar nicht zu
reden! Die Stunde kitzelt mich schon im voraus, wo Mamsell Martin die erste vergnügte Katzbalgerei mit Jule Grote anfängt – natürlich unter der gehörigen Oberaufsicht, auf daß die feinen und bissigen Anspielungen der beiden lieben alten Damen nicht in die reguläre Beißerei ausarten. So ein bißchen kribbelndes Gewürz in die Suppe ist den langen lieben Tag über gar nicht zu verachten. Meinst du nicht, Doktor? – Der Grasgarten bleibt selbstverständlich so, wie er ist; aber für meinen
Bauern-Kohlgarten nehme ich aus einer eurer Buchhandlungen hier ein Exemplar von Wredows Gartenfreund mit. Wir treiben Adams Gewerbe im Ernst und zum Spaß, denn nichts anderes in der Welt zieht die abgeplagte Seele so ins Gleichmütige hin als das stille Aufmerken auf das Keimen, Blühen und Vergehen des Vegetabilischen, und wärs auch nur am Unkraut unter der Hecke. Zeit muß man freilich dazu haben, und die soll sie haben, Irene meine ich; – fürs erste soll niemand vom Steinhofe zu sehr auf
die Suche nach ihr gehen, wenn sie mal nicht gleich auf den ersten Ruf zum Essen kommt. Solange ich das hindern kann, wird sie nicht zu Tische gerufen, wenn sie keinen Appetit hat; – den Verdruß kenne ich aus eigener Erfahrung! Die Menschen fordern nur zu gern gerade die zum Tanze auf, welche der Schuh drückt. Der Teufel mag es wissen, was für ein Vergnügen das ihnen macht! Davon weiß ich, der übergeschnappte dumme Junge vom Steinhofe, gleichfalls das meinige zu Protokoll zu geben, wenns
verlangt wird; aber auch hierin will ich nicht ganz umsonst zwischen meinen Misthaufen gesessen und auf der Leiter in der Rauchkammer mit dem Messer zwischen Jules Würsten und Speckseiten gewirtschaftet haben – wütend vor Überdruß! Hoffentlich verstehst du mich recht, Fritze, und weißt auch hierin, was ich sagen will.«
Er bediente sich mit Vorliebe alle Augenblicke dieser sehr unnötigen Anfrage bei meiner Begriffsfähigkeit. Alte Gewohnheiten legt man eben nicht so leicht ab.
Doch nun beugte er sich nieder zu dem winzigen Grabhügel der kleinen Leonie von Rehlen und hob eine Handvoll des feuchten Sandes auf, ließ sie wieder, wie verstohlen, fallen und sah mich einen Moment lang, wie verlegen, von der Seite an.
»Nun guck einmal«, brummte er, »der liebe Gott weiß es, wie fest einem seine Gewohnheiten ankleben, und er wird auch wohl hierauf bei der letzten Abrechnung ein wenig Rücksicht nehmen. Selbst auf dem Kirchhofe kanns unsereiner nicht lassen,
den Boden nach seiner Frucht, Güte oder Nichtsnutzigkeit zu studieren. Dies hier ist eigentlich purer Sand; aber – nicht nur für den sachverständigen Landwirt, sondern auch für den Pastor, einerlei ob er Ökonomie treibt oder nicht, bleibt es doch immer, wie Schiller sagt, der dunkle Schoß der heiligen Erde! Und nun – schlafe sanft darin, mein liebes, kleines Mädchen!... Mit deinen armen krummen Füßchen hätten dich wohl wenige zum Tanze aufgezogen, und du verlierst auch wenig dabei.
Es kommt für alle Menschen eine Zeit, wo sie sich vor nichts mehr fürchten als vor dem, was man in der Welt Vergnügen zu nennen pflegt. – Man hat viel um dich geweint, mein kleines Kind; aber gelacht hat keiner über dich. Auch du hast viel geweint; – nun liege im Frieden; – gelacht hast du über niemand. – Ich schwatze wohl in die Kreuz und Quer, Doktor Fritz? Nimm es nur nicht übel, alter Freund. Wer weiß, was uns nachgeredet wird in puncto des Weinens und Lachens, wenn
auch wir zu Bette gegangen sind und wir gleichfalls als stille Leute liegen und jeglicher Wind frei über uns hinblasen darf. Komm, wir wollen den anderen nach, Doktor; das nützlichste und fruchtbarste Wetter ist ziemlich häufig das unangenehmste, macht einen trotz Regenschirm und Überrock naß bis auf die Knochen und bringt einen bis auf das Knochenmark hinein zum Frösteln.«
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