Wilhelm Raabe
Alte Nester
Viertes Kapitel
eingestellt: 12.7.2007
Ich bin im Verlaufe der Tage in des Lebens Ernüchterungen wie andere tief genug hineingeraten, aber meine in Blau, Silber, Grün, Gold und Purpur schimmernden Märchenjahre habe ich auch gehabt. Hier beginnen sie und verwandeln mir auch den heutigen Tag in sein vollständiges Gegenteil. Daß ich ein poetisch Gemüt sei, das hat nachher wohl niemand von mir behauptet (ich habe wenigstens alles dahin Einschlägige vorsichtig und fest für mich selber behalten), aber damals war
doch manches Gedicht – echte Naturdichtung – in mir und um mich, und alles Heimweh – die Quelle aller Poesie –, das ich in leereren Tagen gefühlt habe, stammt aus dieser Zeit und geht dahin.
Wir grübeln viel, wir gebildeten, klug, das heißt dumm gewordenen Menschen, über den Schein in dieser Welt, der sich den Anschein des Wesens gibt: ach, wenn er nur schön war, dieser Schein, wer möchte ihn missen wollen aus seinen Tagen? Wer möchte nicht dumm, das heißt klug
gewesen sein, wenn auch nur in den Tagen, da er noch jung war?!...
Ich bin natürlich zuerst nur mit in den Kauf genommen worden auf Schloß Werden. Ich kam als ein Appendix meiner Mutter dahin; und es war mir ganz recht so, und es war gut so; es war alles ganz vortrefflich. Die Welt am siebenten Schöpfungstage konnte unserem Herrgott nicht um das mindeste besser gefallen; das Behagen des einen wäre hier freilich ohne die Seligkeit des anderen gar nicht möglich gewesen!
»Gib
mir deine Hand, Junge; ich will dir alles zeigen, was ich habe«, sagte Komtesse Irene Everstein. »Du kommst aus der weiten Welt, und ich bin hier immer bei Papa gewesen. Mach dich aber nicht mausig; Ewald wird dich sonst durchprügeln, wenn Eva nicht dabei ist.«
Ich habe erst später, als wir »in das Griechische kamen«, erfahren, daß der Name Irene eigentlich Friede oder die Friedliche bedeutet; aber Namen und Sachen, Worte und Begriffe passen nicht zu jeder Zeit aufeinander. Es ginge
so sonst ja wohl auch ein wenig zu glatt ab in dieser doch einmal auf das Rauhe gestellten Welt.
»Weißt du, Junge«, sagte das Kind, »ich bin die Prinzessin aus dem Bilderbuche, ich bin die Fee, ich zaubere. Wenn du nicht artig bist, so verwandle ich dich in einen schnurrenden, buckeligen Kater. Wenn du aber Ewald was davon sagst, so prügele ich selber dich, denn ich will nicht, daß Ewald über mich lacht. Mein Vater lacht niemals über mich, o, und ich will genau aufpassen, was deine
Mutter tut, wenn sie aufgehört hat zu weinen. Aber deine Mutter ist gut, und so kannst du auch gut sein. Du kannst ja auch mit Eva gehen, wenn Ewald und ich dir nicht gefallen.«
Der trübe Tag vermag nichts dagegen; die Namen, die hier zum erstenmal auftauchen, liegen doch im ewigen Sonnenschein, und andere werden dazukommen; wartet es nur ab, daß die Nebel sinken: man sieht auch von der besten Aussichtsstelle nicht an jedwedem Tage, den Gott gibt, die Höhen über den Tälern leuchten
vom Großglockner bis zum Monte Rosa.
Es sind die beiden Kinder des Försters Sixtus im Dorfe Werden, von denen die Rede ist. Von dem Papst Sixtus dem Fünften stammte der alte Herr in Grün nicht ab; aber der Zufall hatte ein altes Buch in seinen Besitz gebracht: Leben des berühmten Papsts Sixti V., beschrieben durch Gregorio Leti. Aus dem Italienischen übersetzt. Frankfurt, bei Thomas Fritschen, 1720; und darauf hat oft seine brave schwere Hand, zur Faust geballt, gelegen, und heute
klingt mir noch der Brummseufzer in den Ohren:
»Das war ein Kerl, Fritze! Alle Hagel, der ist ja gerade so mit seiner Satansbande umgesprungen wie der Doktor Luther hier bei uns mit uns, mit seiner, und wie ich mit euch umgehen werde, ihr Raubzeug und Teufelskinder, wenn ihr es mir zu bunt macht. Fritze, da sieht mans wieder, daß der Herrgott mehr von einer Sorte im Sacke hat und nur hereinzugreifen braucht, um einen rauszulangen und hinzustellen, wo er zu brauchen ist. Aus dem Buch
hat mir mein Junge vorlesen müssen und nachher mein Mädchen, und bei Gelegenheit kannst du auch an die Reihe kommen, aber die Hauptstellen lese ich doch lieber für mich allein, die passen für euch naseweises Geziefer jetzt noch nicht. So nen Papst laß ich mir gefallen, und es ist mir eine Ehre, daß er meinen Familiennamen sich angenommen hat.«
Ich habe später über manchem anderen, in der Menschen Kunde abschmeckend gewordenen Tröster mit beiden Armen aufgestützt gelegen, aber nie
wieder über einem so wie über diesem. Das langweilige Buch in dem edeln Deutsch von siebenzehnhundertzwanzig ist gottlob in meinen Besitz übergegangen und nimmt einen griffgerechten Ehrenplatz in meiner Bibliothek hier in Berlin ein. Ich brauche es nur wie ein richtiges Zauberbuch aufzuschlagen, um über seine vergilbten Blätter hinweg alles vor mir lebendig zu haben, was damals mein Leben nicht bloß bedeutete, sondern war. Treffe ich auf eine Daumenspur des Alten am Rande der Blattseite, so ist
es noch besser und gibt die wärmere Farbe. Freilich eine wärmere Farbe! Ich ergreife hier mit beiden Händen die Gelegenheit, zu versichern, daß hier nichts, gar nichts allzu reinlich, zierlich und frisch lackiert aus dem Putz- und Schmuckkästchen der Romantik entnommen ist. Wir rochen um uns her alle Gerüche und sahen alle Dinge, wie sie die Menschen und die Natur im ewigen Hervorbringen vergänglich hinstellen. Alles war seit lange im Gebrauch gewesen und wurde weiter abgenutzt; und wenn ich
vorhin von den Livreen des Schlosses Werden gesprochen habe, so stelle der Leser sich dieselben ja nicht zu farbenfrisch und tressenglitzernd, sondern ganz im Gegenteil vor. Wir trugen sämtlich unsere Kleider so lange als möglich und schämten uns eines Flickens an der rechten Stelle wenig. Wir trugen den Frühjahrsregenschmutz, jegliche Gewitterspur und alles, was Herbst und Winter da geben, überallhin, wo eine Tür offen war. Wir hatten alle Wünsche, die nur durch mehr irdische Güter, als wir
besaßen, befriedigt werden konnten, und der Herr Graf war da durchaus nicht ausgenommen, sondern auch im Gegenteil. Das Schloß war kein pomphaft Epos und die Försterei keine geleckte Idylle. Sie trugen inwendig und auswendig gleichfalls ihr Flickwerk und ihre Erdgerüche an sich und um sich, und was die letzteren anbetraf, so hatten der Wald mit seinen Buchen- und Tannendüften und die Wiesen mit ihrem Heugeruch recht häufig das Beste dazuzutun, um die Atmosphäre für fremde heikle Nasen zu
verbessern.
Da ist so eine Daumenspur – hier auf Seite 595:
»Wer unter dem itzigen Papste dem galgen entgehen will, der muß kein bedencken tragen, sich in ein kloster einzusperren, solte es auch das allerunglückseligste seyn.«,
und ein süßer Duft weht über die Stelle, aber ein ganz eigentümlicher. Es war ein braver Tabak, den der Alte bei seiner absonderlichen Lektüre verqualmte, und ich erkenne die Sorte heute noch mit
innigstem Behagen wieder auf Spaziergängen und im Eisenbahnwagen dritter Klasse. Rauchte ich selber, so würde ich nur diese rauchen! Und nun, um es kurz zu machen und es mit dem treffendsten Idiotismus zu nennen: wir waren allesamt und auf Meilen in die Runde ein schmuddeliges Volk, ausgenommen vielleicht der Herr Graf, meine Mutter und Evchen Sixtus; Komtesse Irene Everstein dagegen nicht ausgenommen. – Wir waren ein ganz unromantisches Völklein; aber zu seinem Recht
soll das hübsche Wort »romantisch« doch auch hier gelangen, und wir hängen es wie gewöhnlich an ein Haar. Ach, es gibt sich leider nichts leichter, als in irgendein Handwerk hineinzupfuschen!
Irene war eine Goldblondine, die die Leute ansahen und für sanft hielten; Eva war dunkel und sanft, und Ewald hielt allen seinen Schulmeistern einen braunen Lockenkopf zum Dreingreifen und Zerzausen hin. Von dem, was der Herrgott auf meinem Schädel wachsen ließ, rede ich lieber nicht; aber
stimmungsvoll wars! Es stimmte merkwürdig gut zu allem übrigen, und die gütige Vorsehung erhalte es mir so lange als möglich, wenn nicht der Schönheit, so doch der Nützlichkeit wegen.
Es kam aber keinem von uns darauf an, wie er eigentlich aussah. Auch was die Mädchen angeht, so macht es mir heute den Eindruck in der Erinnerung, als ob sie sich wenig darum gekümmert hätten; wenn ich dieses auch nicht als feste Behauptung hinstellen darf.
Die Sonne lag uns auf den Köpfen bei
jeglicher Witterung, und so trieben wir uns um in den Wäldern, auf den Wiesen und Feldern, in der Schulstube und in den Gängen und Sälen von Schloß Werden. Was jenseits der Berge war, davon wußten wir gar nichts; und wie das so häufig geht, haben wir alle später viel davon erfahren – mehr jedenfalls, als zu unserem Glücke nötig war. Andere freilich haben das vielleicht dann und wann unser Glück genannt; da ist eben mit der »anderen« Anschauungen und Einbildungen nicht zu
rechnen.
Das rechte Licht! War es das rechte Licht, das damals über unsere Köpfe und Tage fiel?
Darüber ließe sich viel sagen; und am Ende ist es gar nicht der einzelne Mensch mit seinen zwei Augen, der etwas darüber zu sagen hat. Nur die auserwähltesten Geister sind es, die hier und da in höchst seltenen Fällen ihre Meinung ausdrücken dürfen. Sie können dann wie der Maler der Heiligen Nacht den Schein vom neugeborenen Erlöser in der Krippe ausgehen lassen oder wie auf der
Rubensschen Heuernte, die der alte Goethe seinem Eckermann entzückt vorweist, die Sonne von den Dingen zwei Schatten geradeweg einander entgegenwerfen lassen.
Auch die allerniedrigsten oder einfachsten Geister reden da oft das Richtige. Aber alle zwischen der Höhe und der Tiefe liegende Verständigkeit der Erde hält einfach am besten den Mund und läßt sich bescheinen – schwitzt und ärgert sich, wenn es ihr zu heiß wird, und kriecht in die Sonne und lobt sie im Vorfrühling und
Spätherbst oder im Winter, wenn die Knochen dürr werden, die Zähne wackeln oder ganz mangeln und die romantischen Locken verwehen »gleich den Blättern der Bäume«, wie Vater Homer davon sang, nicht in einem seiner schläfrigen Augenblicke, sondern an einem der hellsten ionischen Sonnentage, wo er nicht schlief.
Bin ich von der Daumenspur in dem kuriösen Geschichtsschreiber Gregorius Leti zu weit abgekommen? Ich glaube nicht.
Da sitzt der Alte noch vor mir in seiner
Amtswohnung am Ende des Dorfes. Alle Türen und Fenster des Hauses stehen offen, und alle Lichter, Töne und Düfte haben freiesten Zutritt, Vieh und Mensch und also auch der Herr Graf. Da kommt er, ein wenig schwerfällig auf seinen Stock sich stützend und seinen Weg mit den Fußspitzen vorsichtig vorausfühlend. Ein gewisser Lehnstuhl wird ihm hingerückt, und da sitzt er, und eines von beiden wird sofort geschlossen, entweder die Tür oder das Fenster, meistens aber beides.
»Wie steht das
Befinden, alter Freund?«
»Danke, Herr. Ohne die verflixten Holzwrogen könnte man es vielleicht wohl zu einem hübschen Alter bringen; aber nun sehen Sie mal diese Schandliste von Frevlern! Und alle aus dem Dorf! Und jeder Halunke mit einem Handbeil unter der Weste, und jedwedes Subjektum vom schönen Geschlecht mit einer Säge unterm Unterrock. Und die letzten sind die schlimmsten, denn sie ruinieren den Forst von unten auf. Kein junger Trieb ist da vor der ältesten Wackelliese sicher,
und von den jungen Spitzbübinnen will ich gar nicht reden. Da möchte man doch lieber Papst in Rom sein; und meinen Namensahnherrn wünsche ich mir auf vier Wochen hierher an meine Stelle.«
Der Herr Graf lächelt matt und seufzt:
»Wäre es mein Wald, so würde ich sagen, sehen Sie durch die Finger, Sixtus. Jetzt sehen Sie allein zu, wie Sie Ihr gutes Herz und die Feuerungsbedürfnisse unserer braven Nachbarn mit Ihrer Amtspflicht in Harmonie bringen. Das Kind ist auch wieder den
ganzen Morgen durch aus unserem Gesichtskreise verschwunden und hilft wahrscheinlich ebenfalls beim Holzstehlen. Frau Langreuter ist in Verzweiflung und kündigt mir sicherlich demnächst ihr Gouvernantentum. Was haben Sie von Ihren Sorgen zu Hause?«
»Nichts! Sie haben gesagt, sie seien in den Sommerferien, und sind auf und davon. Mein Evchen wollte eigentlich nicht; aber es mußte. Der Junge muß mir zu Michaelis sicher auf die Schule; der Pastor kommt nicht mehr mit ihm zu Rande. Das
Fritzchen da hab ich nur allein noch am Hoftor erwischt und gesagt: ›Hier; halt mal!‹ und ihn mit an meine Rechnungen gesetzt. Da sitzt er, Herr Graf, und nun fragen Sie ihn selber einmal, wo die anderen stecken!«...
Das »Fritzchen«, das war ich – der Weltweisheit Doktor Friedrich Langreuter, und der Herr Graf dreht seine silberne Dose zwischen den Fingern, nimmt bedächtig eine Prise und wendet sich in der Tat an mich und fragt:
»Wo ist Irene, mein
Sohn?«
Und bei dieser Frage öffnet es sich vor mir breit, weit, sonnig, grün, Berghügel und Berghügel, Tal und Tal, und dann einmal zwischen zwei Bergen das Glitzern einer Flußwindung, und dann auf der Ferne rundum ein blauer, lichter, magischer Dunstschleier, den man – wie Ewald behauptet – sich am besten zwischen seinen ausgespreizten Beinen durch besieht: da ist Eva Sixtus und ihr Bruder Ewald und Irene Everstein und – ich auch, Friedrich Langreuter, der
Weltweisheit Beflissener! Den unsterblichen Göttern sei Dank, daß dem so war, daß wir einmal so da waren! – – –
Wir wissen noch nichts von den Vermögens- und Familienverhältnissen des Herrn Grafen und von unseren eigenen noch weniger. Wir leben in den Tag hinein, und wie kann man besser oder vielmehr angenehmer leben? – Wenn die Frage: Wo ist Irene, wo sind Ewald und Eva, wo sind die anderen? von neuem gestellt werden wird, dann hat sich alles
geändert und nicht zum Besseren. Wir leben dann nicht mehr in den Tag, in das Licht hinein: wir wissen dann leider ganz genau, mit welcher Regelmäßigkeit die Dämmerung und die Nacht kommen und wie es am hellsten Mittage dunkel werden kann über dem Menschen und seinem Zubehör.
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