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Wilhelm Raabe

Altershausen

VI.

eingestellt: 10.7.2007



Der eine hinter dem andern überschritten die zwei Freunde vom Bahnhofe her die Landstraße, ließen das Bahnhofshotel, von dessen Schwelle aus ein etwas kurios aussehender Portier dem Stadtsimpel Ludchen eine Faust wies, zur Linken und von der Brücke an das, was seit sechzig Jahren an Baulichkeiten zu Altershausen hinzugekommen war, im Rücken. Wie wenn ein Theatervorhang mit griechischem Tempel und der dazu gehörigen Staffage drauf emporrollt und dahinter auf der Bühne Wilhelms Schreibstube aus den Geschwistern erscheint, so war das!... Von dem leise hinsickernden Bach, der doch zur Rechten der Brücke den dreieckigen Teich bildete, bis zu den Resten der mittelaltrigen Stadtmauer das Wiesental entlang und den grauen Dächern drüber und dem stumpfen Turm der Stadtkirche - von den Wäldern und Berggipfeln im Halbkreis rundum gar nicht zu reden - alles, alles, wie es war vor sechzig Jahren, alles, wie Fritze Feyerabend es hier gelassen hatte, mit seines Schicksals Faust am Kragen, auf seinen Lebensweg hingedreht und fürdergestoßen:

»Nicht zu viel umsehen, Kind! Marsch, Junge!« - - -

Er hatte sich stets auf seinen klaren Kopf etwas eingebildet, der Wirkliche Geheime Obermedizinalrat Professor und Doktor Friedrich Feyerabend: augenblicklich sahs in ihm nebelig aus, und so wars recht gut, daß über ihm, beim Wiedereinzug in die erste Erdenheimat, wenigstens der Abendhimmel seine Schönheit, Heiterkeit und Klarheit weiter behielt.

So schönes Wetter, und - beide alte Kinder von Altershausen noch dabei! -

Von Schritt zu Schritt wurde das Vergangene lebendig. Sogar die Pflastersteine unter den Füßen fingen an zu reden, nicht bloß die Häuser, die Mauern, die Fenster, die Türen und Torwege und die Treppen und Bänke davor - alles, alles sagte:

»Guten Abend, Herr Geheimer Obermedizinalrat! Herrje, sehen wir dich auch mal und so wieder, Fritze Feyerabend?«

Da schrillte es hinter ihnen:

»Ludchen! Ludchen! Ludchen Bock!«

und der Schattenführer mit Schwester Karolines elegantem Reisekoffer auf der Schulter wendete sich erbost und drohte mit der Faust:

»Infame Kröten! Da sind die anderen Jungens wieder! Mit Steinen soll man nicht schmeißen, der Rektor hats verboten und die Polizei auch, aber - wenn ich einen fasse!«

Er setzte das Gepäck nicht ab und ging auf die Jagd nach den »anderen Jungens«; er steckte diesmal nur die Zunge ihnen aus, und - Geheimrat Feyerabend hätte beinahe dasselbige getan.

»Ludchen! Ludchen, Ludchen Bock!« schrillte es wieder von den nächsten Straßenecken im Ton von vor sechzig Jahren, wie wenn eben die Uhr im Kirchturm Mittag geschlagen, Rektor Pastor primarius Schuster das Buch zugeklappt, Haselnußstock, Kreide und Hasenpfote beiseite geschoben hätte und die Welt wieder einmal ihnen gehörte - ganz Altershausen ihnen! das Universum als Beigabe - ihnen, den beiden Hauptschlingeln der Gegend und Umgegend: Fritze Feyerabend und Ludchen Bock!...

»So wirf doch die dumme Verkleidung durch Zeit und Raum ab und Linchens dumme Bagage da über Kaufmann Quirinius Gartenzaun! Wir wollen hinter ihnen her! Du da herum, ich hier um die Ecke - an Mordmanns Planke fassen wir ein paar!« hätte Geheimrat Feyerabend beinahe gerufen, er faßte sich jedoch wenigstens so weit, daß er nur sagte, und zwar leise zu sich selber:

»Ärgere dich nicht, lieber armer Kerl! Sie machen es überall einem so und halten es für ihr Recht und haben vielleicht recht!«

Ein Zeichen, daß er sich nicht nur aus seiner wissenschaftlichen Erfahrung, sondern auch aus seinen eigenen Erlebnissen heraus hier auf dem Wege zum Ratskeller von Altershausen zurechtfinden konnte, wie auf jedem Wege zu allen menschlichen Wonneburgen rund um den Erdball! - Wir brauchen es wohl nicht hervorzuheben, daß er längst von seiner Wissenschaft aus seufzend »unheilbar!« gesagt hatte und wußte, wie er sich auch diesem Schicksal gegenüber zu benehmen habe.

»Wie alt bist du eigentlich, Ludchen?« fragte er, als der greise Freund Schwester Karolinens Koffer doch für einen Augenblick auf der Steinbank vor Schuster Pfannkuches Hause absetzte und mit dem Rockärmel den Schweiß von Stirn und kahlem Schädel wischte.

»Wie alt Ludchen ist, Herre?« grinste der arme Blödsinnige vergnüglich. »Das weiß keiner als Minchen! Ich weiß es nicht; aber ich zwinge die anderen Jungens noch alle. Minchen allein hats behalten, die anderen Großen haben es vergessen, auch der Herr Superdent und der Herr Rektor, die es aufgeschrieben haben. Sie aber sind auch gestorben und schön begraben - ich bin mit den anderen Jungens dabei gewesen auf dem Kirchhofe.«

Da nun schon Jung-Altershausen anfing, sich um die zwei Freunde zu sammeln und auch die »Großen« an die Fenster und Türen kamen, so wäre er gern weitergegangen; aber die Antwort, die ihm sein Freund Ludchen nicht geben konnte, kam aus dem Haufen.

»Siebenzig Jahre ist er alt. Er ist bloß mal auf den Kopf gefallen und so auf dem zwölften stehengeblieben.«

»Was wissen Sie denn, Meister Pfannkuche?« greinte Ludchen. »Was Sie wissen, weiß ich auch und mehr! Es hat einer im Blatt gestanden, der von hier ist, - Minchen hats vorgelesen und gesagt: Junge, das ist ja Fritze Feyerabend, und nun auch siebenzig!... Herr Pfannkuche, als ob ich Fritzen nicht kennte - besser als Sie, der ihn gar nicht kennt. Auf dem Markt wohnt er - haben seine Eltern mit ihm gewohnt, und Minchen hat gesagt: ›Ludchen, das ist nun ein großer Doktor geworden - wie schade, daß er es nicht schon war, damals als wir unser Unglück hatten. Er war aber nur mit dir aus einem Jahr.‹«

»Er meint den Herrn Geheimen Rat Feyerabend, den berühmten Arzt, von dem neulich in allen Zeitungen gestanden hat. Ja, der ist hier aus Altershausen, da hat der arme Junge recht. Ich reiche nicht bis dahin hinunter in die Zeit, aber es wird wohl richtig sein, daß sie ihrerzeit gute Freunde gewesen sind, der Herr Geheimrat und unser Ludchen Bock.«

»Wohl möglich, Herr Pfannkuche; aber der alte Mann ist müde. Ist es noch weit bis zum Ratskeller?«

»Bloß da um die Ecke, mein Herr.«

Nimmer hatte ein erlauchter Fremdling sein Inkognito so krampfhaft festgehalten, wie der Wirkliche Geheime Obermedizinalrat Professor Doktor Feyerabend das seinige jetzt.

Fünf Minuten später schwang Ludchen Bock seines Freundes Reisegepäck wie ein Dreißigjähriger von der Schulter herunter und Schwester Lines Lederkoffer dem herbeieilenden Hausknecht vom Ratskeller in Altershausen zu:

»Ein Herre für die Nacht, Tönnies.«


 

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