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Wilhelm Raabe

Das Horn von Wanza

Erstes Kapitel

eingestellt: 28.7.2007

Vorwort



Hoffentlich ist die Geschichte vom Horn von Wanza in den zwanzig Jahren seit ihrem ersten Erscheinen nicht so sehr veraltet, daß das heutige Publikum eine nochmalige Ausgabe als eine Unhöflichkeit auffassen könnte. –

Wilhelm Raabe

Braunschweig, im Brachmond 1901

Erstes Kapitel



Den Possenturm bei Sondershausen in weiter Ferne vor Augen, wanderte der Student auf der Landstraße dahin. Auf einem der Berggipfel des südlichen Abhanges des Harzes hatte man ihm gesagt: »In der Richtung liegt die Ortschaft; aber zu sehen ist sie von hier nicht. Na, Sie werden schon hinkommen, wenn Sie sich so in der Mitte zwischen der Goldenen Aue und dem Eichsfelde halten und dann und wann unterwegs nachfragen. Da unten im Lande sind sie ganz bekannt damit. Glückliche Reise.«

»Wie die alte Tante ausfallen wird, soll mich wundern. An mir solls nicht liegen, wenn sie mich nicht zum Haupterben einsetzt oder doch ein angenehmes Kodizill an ihr Testament meinetwegen hängt«, sagte der Student. »Was aber das ›alte Haus‹ sagen wird, darauf bin ich wirklich gespannt. Wenn sie den alten Knaben auch dort den weisen Seneka nennen und ihn seiner Weisheit wegen bei sich zum Bürgermeister gemacht haben, so ist das in der Idylle dort die einzige Philisterbande, die jemals eine vernünftige Idee gehabt und sie in die Erscheinung geführt hat. Ganz riesig ists aber unter allen Umständen von ihr.«

Damit war er abwärts gesprungen vom Rabenskopfe durch den Tannenwald und den frischen, sonnigen Septembermorgen, dem ihm augenblicklich noch so wenig bekannten Ziel seiner Wanderschaft entgegen. Es ist aber jedenfalls immer sehr hübsch und herzerfreuend, wenn einem ein solches Ziel so – bald nach Sonnenaufgang – in einer so bunten, flimmernden, schimmernden, taublitzenden Ferne gezeigt wird und noch dazu mit dem Wort:

»Sie werden einen schönen Tag behalten, Herr Student.«

Es war ein erkleckliches Stück weiter gegen Norden hin, wo dieser Studiosus der Philologie, Herr Bernhard Grünhage, zu Hause war. Zum erstenmal hatte er am gestrigen Abend von den südlichen Harzbergen in die Gegend zwischen dem Kyffhäuser und der Porta Eichsfeldika hinausgesehen, und wie es eigentlich kam, daß er heute diese Gegend nunmehr durchwanderte, das muß jetzt vor allen Dingen erzählt werden. Die alte Tante läuft weder dem Studenten noch uns weg. Es ist eine seßhafte alte Tante, die schon fast an die siebenzig Jahre durch die Dinge hat an sich herankommen lassen und – wie wir finden werden – noch lange nicht die Absicht hat, ihnen auszuweichen. Sophie Grünhage hieß sie mit Vor- und Hausnamen, und »Frau Rittmeistern« wurde sie tituliert, und dies war eigentlich alles, was die Familie in Gifhorn an der Aller von ihr wußte. Im Familieninteresse befand sich der Student auf dem Wege zu ihr, und das war das Lange und das Kurze von der Sache. Daß er das »alte Haus«, den weisen Seneka, dort gleichfalls seßhaft wußte, war ihm ein Trost.

Der junge Philologe war der zweite in einer Reihe von fünfen, doch nicht lauter Philologen. Die übrigen allesamt waren Mädchen, und die Mutter war tot, und die vier Mädchen führten dem Papa den Haushalt; der Papa aber ging mit diesem Haushalt, wie Friedrich Hölderlin sich ausdrückt, »auf schmaler Erde seinen Gang«.

Der Vater Grünhage war ein Landarzt in einer sehr gestanden Gegend der norddeutschen Ebene; und wie sie in seinem Hause »anständig durchkamen«, wußten sie manchmal eigentlich selber nicht ganz genau anzugeben. Doch sie kamen lustig durch, und das ist immer die Hauptsache. Rezepte gegen ihre irdischen Bedrängnisse und Beschwerden brauchten sie sich nicht von irgendeinem Philosophen verschreiben zu lassen, bis jetzt hatten da immer noch die allergewöhnlichsten Hausmittel ihre Wirkung getan.

»Kinder, macht mir den Kopf nicht warm«, pflegte der alte Doktor bei außergewöhnlich andringlichen Gelegenheiten zu sagen. »Hippokrates ist ein großer Mann, aber hiervon schreibt er nichts. Seht zu, wie ihr fertig werdet; aber das bitte ich mir aus, hippokratische Gesichter will ich heute abend an euch vier Gänsen nicht sehen, wenn ich von der Praxis komme und vom Gaule steige. Wer zieht ihn mir heute in den Stall? Immer die Fidelste! Nun, an welcher ist denn diesmal die Reihe?«

Das fröhliche Gesichtchen, das sich dann stets aus der Schar der Grazien dieses Doktorhauses verdrängte und »An mir! an mir, mir!« rief, genügte schon allein, um dem zu Klepper steigenden Pater familias des schmalen Haushaltes und der vielköpfigen Familie die berechtigtste Anwartschaft auf einen verdrießlichen, seufzer- und sorgenvollen Abend in die nebelweiteste Ferne zurückzudrängen.

Nun war aber in den letzten Zeiten und vorzüglich im letztvergangenen Winter, wenn nach einer mühseligen Tagfahrt der Gaul von einem der Mägdelein in den Stall gezogen worden war, mehr als einmal die Rede auf »die Tante in der Güldenen Aue« gekommen, und so mitten in der Torf- und Heidegegend hatte das Wort stets einen ungemeinen Wohllaut an sich gehabt. Doch allerlei Bedenklichkeiten knüpften sich gleichfalls daran, und davon trug wohl der selige Herr Rittmeister Grünhage die meiste Schuld, doch nicht alle. Vom Hörensagen kannten alle vier Mädchen im Doktorhause den Onkel Rittmeister und wußten, was für ein gefährlicher Mensch er gewesen war, und der Doktor selber hatte nur zu oft gesagt: »Kinder, seid mir nur still von ihm; ich habe das Vergnügen, ihn persönlich gekannt zu haben, meinen Herrn Bruder.« – Aber die Tante! Die hatte der Papa nur ein einziges Mal, und zwar auf ihrer Hochzeit Anno achtzehnhundertneunzehn in Halle an der Saale zu Gesichte bekommen, und er kratzte sich jedesmal, wenn die Rede darauf kam, hinteren Ohr, und das war fast noch unheimlicher.

»Ja, grade fünfzig Jahre müssen es her sein heute, als der Bruder Hochzeit mit ihr machte«, sagte der Doktor. »Na, hoffentlich werden sie besser zueinander gepaßt haben, als es sich an jenem vergnügten Abend anließ. Sie war aber um ein ziemliches jünger als der Bruder Dietrich, und an ihrem Hochzeitstage schien sie wirklich selber noch nicht recht zu wissen, wie sie eigentlich zu dem Pläsier kam, von dem tollen, exwestfälischen Kürassier auf den Sattel genommen zu werden. Übrigens, was geht uns hier das alles eigentlich an? Es ist immer Käthe, welche alle Augenblick die Unterhaltung darauf bringt. Hat das Mädchen mehr Familiensinn als wir anderen, oder will das gute Kind erben? Was meint ihr, Gesindel, sollen wir unsere Alte einmal von wegen der letzteren angenehmen Phantasie auf die Post setzen und nach Wanza an der Wipper schicken, mit Vollmacht, alles zu nehmen, was man ihr geben will?«

Nun war »unsere Alte«, das gute Mädchen, die Käthe, in der Tat die Älteste von den fünfen, und die Verständigste war sie unbedingt auch. Sie allein wußte ganz genau, was der Haushalt heute kostete, gestern gekostet hatte und morgen kosten werde, und den größten Familiensinn in der Familie hatte sie gleichfalls. Es war eben nur »eine von des Vaters gewöhnlichen Redensarten«, wenn er sie damit aufzog.

»Lacht nur«, sagte sie, »das Vergnügen habt ihr wenigstens billig, und so gönne ich es euch von Herzen. Wenn ich übrigens unser Bernhard wäre, so probierte ich es doch einmal und wendete einen Teil meiner Ferien dazu an, um mich zu erkundigen, ob die Grünhages dort hinter den Bergen dem lieben Gott als ebenso kurioses Volk wie wir hier aus der Kiepe gehüppt sind. Ist es keine Sünde, ein Gericht Kohl aufzuwärmen, so kann es auch keine Sünde sein, eine entfernte Verwandtschaft wieder aufzufrischen. Und was nun die gegenseitige mögliche Beerbung anbetrifft, so hat es doch keiner von uns hier schriftlich, ob die Tante sich nicht da gleichfalls ihre Illusionen in betreff unserer macht und wir ihr nicht auch manchmal in ihren angenehmsten und liebsten Träumen vorkommen.«

Allgemeiner Jubel hatte diese letzte »großartige Wendung« des guten Mädchens begleitet. Halb und halb hatte man sie immer im Verdacht, daß sie die Kapitalistin in der Familie sei und bei ihrer Haushaltsführung stets ein Erkleckliches in der mysteriösesten Weise »auf die Kante lege«.

Dem sei nun, wie ihm wolle, auf ein unfruchtbar Feld fielen die Worte der Alten selten. Da schlug manches im Frühjahr Wurzeln, was im Sommer in die Blätter schoß und im Herbste Frucht trug.

»Kinder, an mir soll es nicht liegen, wenn ich unserer Alten die alte Schachtel in der Güldenen Aue nicht in den Haushalt schlachte!« rief der Student. »Schon seit einem Jahre ist unsere Couleur in Göttingen darüber aus Rand und Band: sie haben das alte Haus, den weisen Seneka, unsern Exsenior, richtig bei sich zu Hause zum Bürgermeister gemacht, nachdem er durch jedes andere Examen gefallen war; und die Regierung hat ihn wahrhaftig auf seinem kurulischen Stuhl bestätigt, nachdem sie sich freilich eine erkleckliche Weile darob bedacht hat. Es ist zu gottvoll! Und – kaum glaublich, daß er selber dran glaubt! Ich aber muß das sehen!... Morgen bin ich auf dem Wege zum weisen Seneka; die Tante Grünhage nehmen wir mit, wie sie sich gibt. Hurra!«

»Jawohl, hurra«, brummte der Doktor und Hausvater. »Gefragt werde ich bei der Sache natürlich mal wieder gar nicht, aber – dagegen habe ich nichts, würde ja auch doch nur überschrieen. Na, die Tante! Uh, die Tante Sophie! Auf das Nachhausekommen des Jungen freue ich mich ausbündig, wenn auch auf nichts Weiteres!«

»Auf den weisen Seneka freue ich mich ausbündig«, lachte der Student. »Das wäre ein Mann für unsere Alte! Zumal jetzt, wo er Bürgermeister geworden ist und eine Frau ernähren kann. Welche von euch Mädchen will mir sonst noch ihre Photographie für ihn mitgeben?«

»Dummes Zeug!« sprach das gesamte Vierkleeblatt bis zur neunzehnjährigen Martha herunter wie aus einem Munde. »An unsere Tante Sophie Grünhage in der Goldenen Aue, aber nicht an deinen abgeschmackten, dummen weisen Seneka wirst du expediert. Schade, daß keine von uns gehen kann.«

»I, seht mal!« grinste der liebe Bruder.

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