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Wilhelm Raabe

Das Horn von Wanza

Zwölftes Kapitel

eingestellt: 28.7.2007



Er kam herein; und nun ersuche ich meine Leser, jetzt einmal mit mir zu überlegen, wie viele unserer besten Bekannten wir uns in Wahrheit je ganz genau angesehen haben? Viele sinds sicherlich nicht. Wir leben auch in dieser Beziehung meistens in einer Selbsttäuschung, verlassen uns darauf, daß wir ja »Augen im Kopfe« haben, und merken es selten, wie wenig wir im Grunde diese Augen gebrauchen oder gebrauchen können.

Und wie wir sehen, so werden wir gesehen! Ach, es stimmt wohl nichts die gute Meinung, die man von seiner Persönlichkeit, seinem Selbst hat, philosophisch-melancholisch so tief herunter als diese unumstößliche Wahrheit: selbst die Liebe, die Freundschaft machen es nicht möglich, dich genau zu besehen! – Es ist aber eine wenn auch trübselige, so doch recht nützliche Erkenntnis für manche etwas zu hoch gespannte gute Meinung und Ansicht des das Beste über sich denkenden Erdensohnes. Und andernteils liegt auch keine geringe Beruhigung für ebendenselben gekränkten Erdensohn in dem Achselzucken, mit dem er unter Umständen sagt: »Was wissen sie denn eigentlich von dir?«, damit abschwenkt und im unerschütterten Bewußtsein seines Wertes mit zu den Sternen emporgerichteter Nase weiterwandelt. Wir aber sind auf diesen tiefsinnigen Kapitelanfang einfach durch ein Wort des Wanzaer Bürgermeisters gekommen, der seinem Freunde Grünhage eben zuflüsterte:

»Jetzt wollen wir uns den alten Hahnen doch mal ganz genau betrachten. Seit gestern abend ist mir wenigstens das ein wahres Bedürfnis.«

»Mir auch!« rief der Student, und –

» Uns auch!« sagen wir. Gestern morgen während seiner Unterhaltung mit der Frau Rittmeisterin haben auch wir noch viel zu flüchtig über ihn weg- und an ihm vorbeigesehen.

Das linke Bein zog er immer noch ein wenig nach, obgleich die Kugel von Saint-Amand nicht mehr drin festsaß. Man hat wohl schon früher seinen Spaß über lahme Nachtwächter und dergleichen gehabt; aber die Stadt Wanza konnte sich ruhig des ihrigen wegen auslachen lassen; sie hatte doch den richtigen Mann getroffen.

Hier stand er nun vor den beiden jungen Leuten, mit einem Gesicht wie der Maserpfeifenkopf in der Brusttasche seiner Zotteljacke – freilich ein alter Hahn, dem in mehr denn vierundsiebzig Lebensjahren jede Witterung bei Tag und Nacht zu kosten gegeben worden war. Zu den Riesen gehörte er grade nicht. Er hatte unter den Jägern bei Leipzig und bei Ligny mitgetan, und das dunkle, scharfe Auge, das damals hinter Busch und Baum, im Graben und in dem Qualm der brennenden Dörfer dazugehört hatte, das hatte er behalten wie die Frau Rittmeisterin ihr helles, blaues, klares. Und sowohl Dorsten wie der Neffe Grünhage fanden jetzt noch mehr als eine Ähnlichkeit zwischen dem Meister Marten Marten und der Tante heraus, vor allem übrigen die unbeugsame Lebensheiterkeit, die nicht ohne Kampf mit dem Wind und Wetter dieser Welt erworben worden war, aber nun auch wie ein warmer Rock ihnen fest auf dem Leibe saß und ihnen, wie die Frau Rittmeisterin sich ausgedrückt haben würde, erst in ihrem letzten Stündlein vom Freund Hein mit dem Fell über die Ohren gezogen werden konnte. Praktisch gescheit sahen sie auch beide aus, Marten Marten und die Tante Sophie. Mit der Photographie oder derartigen modernen Kunststücken war beiden nicht recht beizukommen; aber da existiert in Neu-Ruppin ein Mann, der könnte es vielleicht.

Einem Kinde, welchem der Nachtwächter von Wanza an der Wipper, Marten Marten, mit seiner Laterne abends in der Gasse begegnete, mußte er unbedingt wie aus dem Bilderbuche oder dem Monde herausgeschnitten vorkommen. Dem mußte er in den Traum folgen wie irgendein anderer Held der Kindheit: der eiserne Heinrich, Robinson Krusoe, der treue Johannes, Sindbad der Seefahrer, der Doktor Allwissend und vor allen Dingen wie ein greiser grüblerischer Zauberer, der alle Künste aller vier kunstreichen Brüder in seinem Wissen und Können vereinigte.

Und wer der alten Bildermacherfirma zu Neu-Ruppin einmal einen Gefallen tun kann, der tue es auch um des Meisters Marten willen! Seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts weiß sie allein, wie eine Schlacht, ein preußisch, österreichisch, türkisch oder französisch Regiment zu Fuß und zu Pferde aussieht. Sie allein hat es heraus, wie man ein Theater aufbaut und mit Figuren bevölkert; sie allein weiß Bescheid mit dem Fuchs- und Gänsespiel, mit allen Naturgeschichten in Wald und Feld und überhaupt mit dem glorreichen bunten Guckkasten, Welt genannt. Was weiß das altkluge Volk auf der Höhe seines ästhetischen Kunstgeschmacks davon, wie bunt die Welt dem richtig sehenden Auge sich darstellt?!...

»Neu-Ruppin bei Gustav Kühn! Wie von einem Bilderbogen!« murmelte der Bürgermeister von Wanza, seinem philologischen Freunde den Ellenbogen in die Seite stoßend. »Setzen Sie sich, Vater Marten.«

»Dieses würde sich doch wohl nicht recht schicken, Herr Burgemeister.«

»Nun höre ihn einer!« rief Dorsten lachend. »Wie der Mann aus dem Monde, dem das lange Stehen mit Dornbusch, Hund und Laterne endlich zuviel geworden ist, steht er hier vor uns, und gestern abend ist bis Mitternacht bei der Frau Rittmeisterin nur von ihm zu seinem Lob und Preis die Rede gewesen, und jetzt ziert er sich so! Schieb ihm meinen Kurulischen unter, Grünhage. Fürs erste sind wir noch nicht mit Ihnen fertig, bester Herr Nachtrat.«

»Von mir haben Sie gestern abend bei der Frau Rittmeistern geredet?«

»Wie die Extrapost, in welcher der böse Feind das arme Seelchen und damals wahrscheinlich ganz allerliebste Kreatürchen, unsere jetzige brave Tante Sophie, hierher nach Wanza brachte, auf hiesigem Posthofe bei Sturm und Unwetter ankam und wie Sie, Marten, und der helle Satan und westfälische Kürassier die junge Frau auf der Hellebarde zwischen sich nach Hause trugen. Wenn Ihnen Ihr linkes Ohr gestern nacht nicht fortwährend geklungen hat, so begreife ich das nicht. Fragen Sie nur den Jüngling und Neffen da, wie Ihr Lob gesungen worden ist.«

Der Alte, auf dem Rande des Stuhles, den ihm der Student hingeschoben hatte, sitzend, schüttelte den Kopf.

»Es ist lange her, und man sollte wohl meinen, daß endlich Gras drüber gewachsen sein könnte, meine Herrens; aber es wacht immer doch von neuem wieder auf. Je ja!«

»Nur über den biedern Westfälinger ist bis jetzt, Gott sei Dank, Gras gewachsen. Die Frau Rittmeistern, meine Tante, und der Meister Marten Marten aber feiern in ein paar Tagen den Anfang ihrer Freundschaft im Jahre achtzehnhundertneunzehn; und – wir möchten mitjubilieren, Meister Marten!« rief der Student, die Hand des Greises fassend. »Und mir müssen Sie Ihrerseits von dem Onkel Grünhage erzählen. Seit gestern abend liegt der Familienname wie eine Last auf mir, und ich wohne bei der Frau Rittmeisterin, und sie hat mich in der Giebelstube einquartiert, wo der Lehnstuhl und das Nähtischchen stehen. Die Aussicht aus dem Fenster ist vortrefflich; aber nach den Geschichten vom vergangenen Abend ist der Blick über Wanza und auf den Thüringer Wald doch nicht das Ganze. Sie aber wissen von dem Ganzen, Meister Marten, und ich habe es meinem Vater versprochen und meinen Schwestern, daß ich ihnen einen ganz genauen Bericht über die Wanzaer Tante nach Hause bringe; und der alten Frau ist es recht, daß auch Sie mir von ihr erzählen, und Sie müssen mir erlauben, daß ich Sie besuche und mir –«

»Mir noch einmal Wanza beim Lichte Ihrer Laterne besehe«, lachte Dorsten, der Bürgermeister von Wanza. »Übrigens sind dieses meines Erachtens Privatangelegenheiten, die durchaus nicht hier in diese nur den kommunalsten Angelegenheiten gewidmeten Räume gehören. Ich bitte dich, mir zu verzeihen, Grünhage«, fuhr er im geschäftsmäßigsten Tone fort, »wenn ich dir bemerke, daß du total vergessen zu haben scheinst, wo du dich augenblicklich befindest. Nachtwächter Marten!«

»Herr Burgemeister?« fragte der alte Mann, in demselben Moment neben dem »kurulischen Sessel«, auf welchem der Vorsitzende des Magistrats wie selbstverständlich Platz nahm, aufrecht stehend wie im Jahre dreizehn an einem Beiwachtfeuer vor einem dem Kaiser Napoleon gegenüber die Vorpostenkette abreitenden Wachtoffizier.

»Ihr vollständiger Name?« fragte der Bürgermeister, in einem sehr antiquarisch aussehenden Schriftenkonvolut blätternd.

»Martin Johann Anton Marten hat ihn mir meine Mutter in mein Gesangbuch geschrieben. s wird also wohl so recht sein!«

»Wann geboren?«

»Ja, das ist wohl noch schwieriger ganz genau herauszukriegen. So ums Jahr siebenzehnhundertfünfundneunzig meine ich, Herr Burgemeister. Haben Sie es in den Papieren da, so würde es mir selber kurios sein, es zuletzt noch in Erfahrung zu bringen. Daß die Kirchenbücher von St. Cyprian Anno achtzehnhundert mitsamt der damaligen Pfarrei verbrannt sind, haben Sie ganz gewiß in den Akten und Kostenberechnungen. Meine Mutter wird Tag und Jahr wohl gewußt haben; aber ich bin ja schon als unmündig Kind durch ihren Tod von ihr gekommen, und nachher hat sich niemand mehr darum gekümmert. Das wäre auch wohl zuviel verlangt gewesen.«

»Hm, lieber Alter«, brummte Dorsten, gänzlich aus seinem Amtstone herausfallend, »es soll manche Leute geben, die viel darum geben würden, wenn sie ihren Geburtstag nicht wüßten und ihn also auch nicht zu feiern und sich an ihm zu ärgern brauchten. Was ich sonst über Sie und Ihre Familie im Städtischen Archive finde, läßt freilich manche Lücke unausgefüllt, genügt aber doch, um uns allgemach weiter und in der Verhandlung zum Zwecke zu führen. Im Jahre achtzehnhundertsieben hat man eine Witwe Wilhelmine Matten, geborene Rapmund, auf kommunale Kosten beerdigt. Ich kann nicht sagen, daß die Leichenkostenrechnung hoch ist, aber in den Akten haben wir hier Schreiner, Träger und Totengräber bis zu zwei Groschen für das Einlegen der Leiche in den Sarg –«

»O Herr, das ist ja wirklich und wahrhaftig meine selige Mutter gewesen!« rief der Greis. »Ach, lieber Herr, das ist so lange her – o Herr Burgemeister, lassen Sie mich mal den Namen der alten Frau – o nein, sie muß als eine ganz junge Frau gestorben sein! –, lassen Sie mich mal ihren Namen geschrieben sehen! – Das wacht nun so auf, und ich bin derweilen ein so uralter Kerl geworden, und wir armen Leute leben immer so in den Tag hin! Wenn mir übermorgen in der Kirche der Herr Pastor ihren Namen von der Kanzel zuriefe, könnte es mir nicht heftiger in die Knochen fahren als eben jetzo, wo Sie ihn mir nennen, Herr Burgemeister!«

Mit zitternder Hand nahm der Alte das gelbe, mit vergilbter Dinte ausgefüllte Formular der Armenverwaltung von Wanza, das ihm der augenblicklich regierende Bürgermeister mit ungewohnter Zartheit zureichte. Der Meister Matten wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn und buchstabierte den Namen der im Jahre sieben auf öffentliche Unkosten begrabenen Frau und das, was in der Rechnung dazugehörte.

»Ja, es wird wohl meine Mutter gewesen sein«, sagte er, das Dokument zurückgebend. »Ich danke Ihnen, Herr Burgemeister; es ist sicher ganz richtig so, wenn es mir auch nur ganz dunkel ist. Daß ich nachher auf Stadtkosten aufgewachsen und mildtätig erzogen bin, weiß ich genauer.«

»Haben wir dazu ziemlich deutlich schwarz auf weiß. Eine recht mildtätige und ungemein nette Erziehung ist es sicherlich gewesen. Passen Sie mal auf, Marten Marten! Du kannst auch ein wenig mit Achtung geben, Grünhage; die Geschichte wird von jetzt an historisch wie kulturhistorisch merkwürdig.«

Er räusperte sich und las:

»Protokoll de dato den Zwölften Maji achtzehnhundertundneun. Erschien im Termin der Scharfrichter und Abdeckermeister Gottfried Moritz Rasehorn und erklärt von neuem zu Protokoll, daß er, wie er schon vorgetragen, mit dem ihm von hochlöblicher Stadtgemeinde zugewiesenen Burschen Marten Marten nicht zu Verständnis, Nutzen und Räson zu kommen vermöge, sintemalen der Junge, verlogen, faul und widerspenstig, jedwede Pflicht und Schuldigkeit, Gehorsam und Dankbarkeit hintansetze, boshaft vergesse und das Gnadenbrot und Unterkommen nicht verdiene, was ihm die Stadt bei besagtem Meister G. M. Rasehorn ausgemacht habe. Gibt auf Befragen, was jetzt wieder mit dem Jungen vorgefallen sei, zu Protokoll, daß besagter junge Marten Marten seit dem vergangenen Tage mitsamt Reitenden Försters Eulemann blindem und kollerigem Gaul vom Anger verschollen sei, mit besagtem Eigentum diebisch abgeritten und bis jetzo nicht über sein Verbleiben besagtem Meister G. M. Rasehorn Kunde geworden sei. Bittet also letzterer ehrerbietigst, wo die jetzigen schweren und gefährlichen Zeitläufte es möglich machten, mit aller Macht den Ausreißer und des Herrn Reitenden Försters Gaul zu verfolgen, einzuholen und besagtem Meister G. M. Rasehorn zu beliebigem und zweckdienlichem Verhalten zurückzuerstatten oder besagten Jungen Marten Marten von seinen Händen zu nehmen und eine andere Unterkunft auch Erziehung zum gemeinen Nutzen, wenn angängig, auszumachen. In pleno Senatu, Wanza, am 12. Mai 1809.«

»O ihr Herren, ihr Herren«, rief der alte Mann, beide Hände zu der gebräunten Balkendecke, die vor sechzig Jahren schon auf die Abfassung des eben verlesenen Schriftstückes herabgesehen hatte, emporhebend, »ihr lieben jungen Herren, dieses ist so wahr und wahrhaftig hier auf dieser Stelle dem Schreiber in die Feder gesagt worden, wie ich jetzo hier stehe und mit bebendem Herzen es ruhig angehört habe! Vom Schindanger bin ich damals auf des Herrn Reitenden Försters zum Abstechen hergegebenem Braunen in die weite Welt hineingeritten, um aus meiner Wut und meinem Elend herauszukommen. Zu dem Schinder hatte mich die Stadt als Lehrling aus dem Armenhause gegeben. Die Zeit ist mir immer gewesen, als hätte ich einen Mord darin begangen; und nun kocht das wieder auf wie ein Topf, der vom Feuer gehoben gewesen ist und jetzt wieder auf die Kohlen geschoben wird. Von gefährlichen Zeitläuften spricht die Schrift und der Meister Rasehorn? O Herr Burgemeister, lassen Sie auch das Papierstück mich in meine alten Hände nehmen! Sie reichen das leicht her, aber mir wiegt es heute noch wie ein Berg. Der Knecht hatte mich an diesem elften Mai morgens mit der Sonne mit dem Gaul nach dem Anger voraufgehen lassen; er wollte nachkommen mit dem Messer. Nun ist es mir, als passierte es jetzt erst. Ich war eben wohl erst vierzehn Jahre alt, aber doch schon wie toll in meinem Grimm bei Tage und meinen Tränen bei Nacht. Und da, auf dem Schindanger mit der hellen Gottessonne über mir und dem Wind von den Bergen her, ist es wie eine Verrücktheit auf den Jungen, nämlich auf mich, gefallen, und ich bin auf dem dummkollerigen Gaul des Herrn Reitenden Försters freilich durchgegangen, mit dem Diebsruf hinter mir, wie hier der Schreiber geschrieben hat. Von dem Herrn von Schill ist damals alles Land ringsum gerüchtweise voll gewesen; und ich dachte mir, wenn einer dich wieder ehrlich macht, so ist der das, und nimmt er dich mit als seinen schlechtesten Knecht und am liebsten in den blutigen Tod, so ist dir geholfen jetzt und für alle Zeit. Es waren wohl nur Gerüchte, daß uns der Herr Major von Schill mit seinen Reitern auf dem Marsche nach Bayern hin zu dem Erzherzog von Österreich, der von da ihm entgegenkommen sollte, so nah sein sollte, ganz wie neulich bei Langensalza, aber es gab sie doch jeder von Mund zu Munde weiter. Der Herr von Schill mit seinen Husaren war wohl von Preußen gegen die Wipper zu ausgerückt, aber er war doch nur bis Köthen gekommen, wo er den Herzog, der mit dem französischen Kaiser in einem Bett schlief und ihn, den Herrn Major, einen Räuberhauptmann und seine Leute eine Räuberbande geschimpft hatte, von Haus und Hof gejagt hatte. Aber dann war er gleich nach Bernburg rechts abgeschwenkt und gegen Stralsund weiter, allwo sie ihm am letzten Tage des Monats den Kopf abgeschnitten haben. Das ist ein heldenmütiger Ritt gewesen, von dem heute noch gesungen wird; aber, meine Herren, nun denken Sie an mich einmal, an meinen Ritt auf meinem tollen Gaul hinter dem Schill und seinen Husaren auf der Suche. Eigentlich ist es zum Lachen, aber doch wieder mehr als bloß zum Lachen. Und des Herrn Försters Eulemann Braunem muß ich es lassen, er ging mit dem Kopfe zwischen den Beinen, aber auch wie toll durch das grüne Land, über Weg und Steg, daß der Staub wirbelte und die Steine flogen, gleichsam als wolle auch er in einen ehrlichen Tod jagen. Unser Herr Schill hätte mich sicher mitreiten lassen, wenn ich ihm so gekommen wäre; doch es konnte ja nicht sein. Den ersten Tag hielt sich das Vieh unter mir, und in der Nacht lagen wir in einem Walde; am andern Morgen aber knickte der Braune unter mir zusammen und schleuderte mich mit dem Kopf gegen einen Wegweiser, von dem ich nicht mehr ablesen konnte, wohin er zeigte. Da habe ich in einem Dorfe zwischen Kelbra und Wallhausen in einem Kuhstalle wochenlang ohne Besinnung gelegen, und der Bauer, der den barmherzigen Samariter an mir spielte, hat wohl wenig Löbliches von mir denken müssen, denn was ich in meiner Unbesinnlichkeit geredet habe, das hat nur vom Abdecker, von der Diebsjagd und den Franzosen geklungen. Aber das Leben hat zuletzt doch die Oberhand in mir behalten und der Bauer mich als Pferdejungen bis in das Jahr zehn. Gut habe ich es nicht gehabt, aber mir doch keine bessern Tage gewünscht; denn hier ging mir doch keiner meiner Schulkameraden aus dem Wege und rief mir über die Hecke sein ›Schinder, Schinder, Schinderknecht!‹ zu, wie es mir in Wanza als mein Schicksal gegeben war. Heute ist auch dieses anders, und die Menschen sind auch hierin vernünftiger geworden; aber damals wars wirklich schlimm. Herr Burgemeister, nehmen Sie mir das Blatt wieder ab; seit ich es halte, ist die alte Angst, daß mich ein Wanzaer auf meinem Bauerhof wiedererkenne, wieder auf mir und nimmt mir hinterm Pfluge den Atem und in der Nacht den Schlaf! Ach, gütiger Himmel, meine Herren, und aus der ewigen Angst ist damals auch richtig die pure Wahrheit geworden. Der alte Schinderruf ist mir von neuem in die Ohren geklungen, und sie haben mich wegen Pferdediebstahl mit einem Strick um die Handgelenke nach Wanza zurückgeliefert! Es brauchte weiter nichts dazu, als daß der Freiknecht, dem ich von seinem Anger mit seinem unglückseligen Eigentum durchgegangen war, von unserm Meister mit dem Arzneikasten durchs Land geschickt wurde, und das hat sich nach Gottes Willen so gemacht, wie ich heute wohl sagen kann, zu meinem Besten; aber damals habe ich mich doch auf den Boden geworfen, und sie haben mich aus meinem Stalle unter den Pferdehufen weg mit Gewalt herausschleifen müssen und auf einem Karren nach Kelbra, wo ich wenigstens halbwegs wieder zu Vernunft gekommen bin und habe zu Fuße gehen können nach hiesiger Stadt zurücke.«

»Da bin ich auch um grade zwei Menschenalter zu spät zum Bürgermeister hiesigen Ortes gemacht worden; aber so gehts immer!« brummte der jetzt Regierende; der Neffe der Frau Rittmeisterin Grünhage aber fuhr sich über die Stirn wie gestern abend, als die Tante Sophie in ihrer Erzählung bis zu dem Punkte gekommen war, wo sie in ihrem Hause am Markte die Arme auf den Tisch und den Kopf auf die Arme legte, und wo der Nachtwächter von Wanza seine Laterne auf den Tisch neben sie hinstellte, um ihr das erste Feuer auf dem Herde in ihrem jungen Haushalt, das heißt im Ofen, anzuzünden.

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