Frei Lesen: Das Horn von Wanza

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Wilhelm Raabe

Das Horn von Wanza

Drittes Kapitel

eingestellt: 28.7.2007



Dies taten sie nun, das heißt sie wandelten Arm in Arm wanzawärts, und zwar durch die vorhin bereits angedeutete Pappelallee; und wie die Pappeln warfen sie länger und immer länger werdende Schatten über die abgeernteten Felder zu ihrer Rechten.

»Und dessenungeachtet wird er mir immer kürzer!« seufzte der Bürgermeister von Wanza mit einem Blicke zur Seite.

»Wie sagst du?... Wieso, Dorsten?... Was sagst du da?« fragte der Student.

»Von meinem Schatten rede ich natürlich zu dir, naiver Knabe«, erfolgte düster die Antwort. »Ich glaube es auch gar nicht, Grüner, daß der arabische Wunsch lautet: ›Möge dein Schatten nie länger werden!‹ – Möge dein Schatten nie kürzer werden, heißts, oder ich lasse mich hängen. – Grünhage, meiner wird kürzer! So lang er da auch mit sinkender Sonne neben mir herlaufen mag – laß dich durch das Phänomen nicht täuschen: – er nimmt ab. Noch im vergangenen Jahre auf diesem Pfade, zu dieser Stunde und bei diesem Stande der Sonne warf ich einen längern. Ich habe mich grimmig genug gegen die bittere Überzeugung gewehrt, auf Ehre; aber seit den letzten Hundstagen hat das ein Ende. Ich schrumpfe ein, Grünhage; ich krieche zusammen (guck nur nicht so – mein Bauch tut nichts zur Sache!), vor einem Jahre noch glitt ich einen guten Zoll länger über die Stoppeln dort. Du betrachtest mich lächelnd. Auf der Weender Straße würde ich mich vielleicht etwas näher nach der Bedeutung dieses frivolen Lächelns erkundigt haben; aber als Bürgermeister von Wanza sage ich nur einfach: lache nicht, junger Mensch; auch du wirst mal ein recht altes Haus geworden sein, und in cadente domo wird auch dein Gestirn stehen!«

»Na, Dorsten!« sagte der Student.

»Ja – Dorsten!... Hättest du mich eben den weisen Seneka genannt, so hätte das vielleicht zum erstenmal, seit ich mit dem Biernamen auf dem Hardenberge getauft wurde, einen gewissen Sinn gehabt. Ich rede die Wahrheit – klägliche, katerhafte, melancholische Wahrheit! Und du sagst natürlich ›Na, Dorsten!‹ und weiter nichts. Knabe, man ist nicht ungestraft Bürgermeister von Wanza an der Wipper.«

»Aber bester, weisester Seneka, lieber alter Freund, verzeihe mir, wenn ich dir –«

»Verzeihe mir, mein Junge, wenn ich dich auf den siebenundzwanzigsten Brief an den Lucilius und auf einen gewissen wohlbegüterten, wahrscheinlich auch mit einer angehenden Glatze und einem angegangenen Bäuchlein begabten Freigelassenen, mit Namen Calvisius, hinweise. Der soi-disant Stoiker mokiert sich über ihn natürlich, und natürlich nur aus reinem blassen Neide; ich aber, wenn ich je mich in die Haut eines andern Menschenkindes hineingedacht und hineingewünscht habe, so ists dieses beneidenswerte Individuum. Uh, der hatte es gut! Ein Freigelassener war er, ich aber bin das Gegenteil. Geld hatte er, ich aber habe höchstens ein Schock mit auf meinen Gehalt angewiesene Gläubiger. Calvus bin ich, der Teufel weiß es, so ziemlich; aber Calvisius möchte ich mit Wonne gänzlich sein. Das war mein Mann! Von sämtlichen Heroen der Vorzeit dieser allein!«

»Und was tat er, um dich zu diesem Enthusiasmus für ihn von deiner Bude abzuholen? Entschuldige, wenn ich nicht denselben Biernamen wie du bekam und also noch dann und wann eine kindlich simple Frage stelle.«

»Er blieb stets ruhig auf seinem Sofa liegen und hielt sich für alles (nur einiges ausgenommen) einen Sklaven.«

»Freilich famos!« rief der Student, den Hut abnehmend und sich den Schweiß abtrocknend.

»Nun, siehst du wohl!... Studiere du nur ruhig auch den Seneka. Wie gesagt: im siebenundzwanzigsten Briefe stößt du auf den Calvisius Sabinus, von dem der stoische Narr sagt: ›Nie sah ich einen Menschen mit seinem Wohlstande so wenig Würde verbinden!‹ – Nämlich dieser in Wirklichkeit und Wahrheit Freigelassene hatte natürlich auch ein Gedächtnis, in dem nichts hängenblieb. Eigentlich war es eine Dummheit von ihm; aber für das sogar hielt er sich nen andern! Heute entfiel ihm der Name des Ulysses, morgen der des Achilles, übermorgen Priamos seiner. Und so, grade so, bei jedem Geschäfte geht es mir dort in Wanza. Liebster Himmel, die Kommune da und die Kerle dort und die Geschäfte, die sie bei mir haben!... So aber, der Calvisius kaufte sich für alles einen Sklaven. – Ich zitiere wörtlich, Grüner: einer derselben mußte den Homer innehaben, ein anderer den Hesiodus; an neun andere wurden die neun Lyriker verteilt; – ah, schönen guten Abend, Herr Tresewitz!«

Es war zu drollig, der Abfall aus dem klassischen Altertum in die unmittelbarste Gegenwart, aus den Episteln des Lucius Annäus Seneka in die freundschaftliche Begrüßung mit dem Seifenfabrikanten und Lichtzieher Herrn Johann Tresewitz dicht vor dem Tore von Wanza an der Wipper. Auch der jüngere Studiengenosse hob höflich den Hut, und, wir müssen es ihm zur Ehre seiner Auffassungsgabe anrechnen, er wußte auf einmal ganz genau Bescheid in den Zuständen seines Wanzaer einstigen Verbindungsbruders.

»Was wäre das nun der Sache angemessen, wenn ich dem öden Philister durch einen andern den von ihm beanspruchten guten Abend hätte wünschen lassen können«, seufzte der Bürgermeister. »Sieh, Grüner, das ist grade das Scheußliche an diesen Klassikern: von Weisheit quellen sie über, die wunderbarsten, praktischsten Ratschläge geben sie einem – aber gebrauchen kann man nichts davon. Es ist zu lange Zeit her, seit sie verständige Menschen waren; und wir – wir sind vermittelst unserer höhern Bildung, Tugend, Sitte und gottverdammten, verfluchten modernen Feinfühligkeit allzusehr in das ausgeartet, was sie mit dem Sammelwort ›pecus‹ bezeichneten.«

»Du siehst die Sache doch wohl etwas schroff an und bist vielleicht auch noch nicht lange genug oberste Magistratsperson am hiesigen Ort –«

»Sieh dir den Biedermann an, wie er mit seinem Regenschirm unteren Arm durch den Abendsonnenschein und in dem Gefühl, mich mit gewählt zu haben, dahinzieht, und – wandle mal in seinem Schatten, bei fünfhundert Taler Gehalt, ohne Aussicht auf Verbesserung, in seinem Schatten ungestraft – unter Palmen. Er ist Mitglied der Stadtverordnetenversammlung, sogar Bürgervorsteher, Vizepräsident des Bürgervereins, einer der festesten Stämme im hiesigen Palmenhaine und nicht umsonst Lichtzieher und Seifenfabrikant. Datteln trägt er aber nicht, und am wenigsten für mich. Ich sage dir, man muß vom ersten Chargierten der Caninefaten zum in Wahrheit ersten Chargierten in Wanza herabgekommen sein, um zu erfahren, daß es wirklich eine ewige Gerechtigkeit gibt. Knabe, Knabe, hier wandele ich, dir zum warnenden Exempel; denn dieser eine Philister rächt täglich vollkommen sämtliche Sünden, die ich vordem an seinesgleichen begangen habe!«

»Großer Gott, fasse dich nur, alter guter Kerl!« stammelte der junge Freund, wahrhaftig ganz überwältigt durch das innigste Verständnis für die Zustände seines Führers.

Sie näherten sich jetzt allmählich der Stadt. Gartenmauern, Gartenhecken und Gartenhäuschen traten an die Stelle der Ackerflächen; und mit dem Bürgermeister ging etwas Merkwürdiges vor. Er wurde von Schritt zu Schritt mehr ein ganz anderer! Mit immer wachsendem Erstaunen beobachtete der jüngere Studiengenosse stumm das sich entwickelnde Phänomen. Der weise Seneka fing an, mit steifen Schritten seinen nicht wegzuleugnenden Bauch vorwärtszutragen. Er rückte seinen Halskragen zurecht, er schlug sich mit dem Taschentuch den Staub von den Stiefeln, er stieß den Stock gravitätisch auf, und das drolligste war, daß er sich des erstaunlichen Eindrucks, den er auf den jüngern Kommilitonen machte, bis ins Innerste seines Gemütes bewußt war und – gar keine Freude daran hatte.

Äußerlich mit würdigster Miene, wimmerte er leise zur Seite hin:

»Anständig, Grünhage! Es ist schauderhaft, aber – ich sitze ja doch nun mal drin. Grüner, bleib du so lange als möglich draußen; aber betrage dich jetzo auch – so anständig als möglich – uhhh!«

Ein alter Torbogen warf nun seinen Schatten auf die beiden Wanderer. In diesem Schatten packte der Bürgermeister von Wanza noch einmal den Arm seines Begleiters und flüsterte weinerlich:

»Ohne die Witwe Wetterkopf lebte ich gar nicht mehr! Das Weibsbild mit seiner einsamen Kneipe ist mein einziger Trost – bei Tage. Bei Nacht gehen wir in den Großen Bären – na, du wirst schon sehen, Grüner; tu mir aber den einzigen Gefallen und betrage dich jetzt anständig; hier sind wir denn in Wanza und – mich haben sie zu ihrem Bürgermeister gemacht – uh! O Calvisius!«

Sie waren in Wanza, und der frühere Senior der Caninefatia war augenblicklich nichts weiter als Bürgermeister von Wanza. Man grüßte ihn als solchen von den Fenstern und Haustüren aus, und er grüßte mit Grabesernst wieder.

»Sie hatte meiner seligen Mutter versprochen, mit für mich zu sorgen«, seufzte er noch einmal. »Und siehst du, sie hat ihr Wort gehalten, und so hat sie mich besorgt! Deine Tante Grünhage nämlich. Und so wird sie dich möglicherweise ebenfalls versorgen! Uh – u – h! Ich gratuliere – uh!«

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