Frei Lesen: Das Horn von Wanza

Kostenlose Bücher und freie Werke

Kapitelübersicht

Erstes Kapitel | Zweites Kapitel | Drittes Kapitel | Viertes Kapitel | Fünftes Kapitel | Sechstes Kapitel | Siebentes Kapitel | Achtes Kapitel | Neuntes Kapitel | Zehntes Kapitel | Elftes Kapitel | Zwölftes Kapitel | Dreizehntes Kapitel | Vierzehntes Kapitel | Fünfzehntes Kapitel | Sechzehntes Kapitel | Siebenzehntes Kapitel | Achtzehntes Kapitel | Neunzehntes Kapitel | Zwanzigstes Kapitel |

Weitere Werke von Wilhelm Raabe

Deutscher Adel | Der Marsch nach Hause | Pfisters Mühle | Das Odfeld | Der Hungerpastor |

Alle Werke von Wilhelm Raabe
Diese Seite bookmarken bei ...
del.icio.us Digg Furl Blinklist Technorati Yahoo My Web Google Bookmarks Spurl Mr.Wong Yigg


Dieses Werk (Das Horn von Wanza) ausdrucken 'Das Horn von Wanza' als PDF herunterladen

Wilhelm Raabe

Das Horn von Wanza

Siebentes Kapitel

eingestellt: 28.7.2007



»Und Sie sind also mein Neffe? Grünhage heißen Sie – Bernhard Grünhage? Ihr Vater ist der jüngere Bruder meines verstorbenen Mannes? Philologie studieren Sie und vertreten sich jetzt nach dem langen Sitzen in der Schulstube bei Ihren Herren Professoren die Beine auf den Landstraßen? Und da haben wir gegenseitig eine dunkle Ahnung voneinander gehabt, Ihre liebe Familie und ich! Und nun schenken Sie denn der alten Tante in Wanza die Ehre und kommen freundlich, alte Familienbezüge wiederaufzufrischen? Nehmen Sie doch Platz, Herr Neveu, – setzen Sie sich wenigstens ein wenig; – wirklich, Matten, unser Nachtwächter in Wanza, hat mir schon recht viel Gutes von Ihnen erzählt.«

Der Student ließ die buntbebänderte Mütze, die er bis jetzt in den Händen gedreht hatte, wie vorhin der Meister Matten seine Pelzkappe zu Boden fallen, bückte sich nach ihr und sah hochrot der alten freundlichen Dame ins Gesicht –

»Oh, Frau Rittmeisterin!«

»Jawohl, dieses ist mein Titel in der Stadt seit fünfzig Jahren; aber dir sehe ich es jetzt schon nach den ersten fünf Minuten unserer Bekanntschaft an der Nase an, daß man dich, seit die weise Frau dich zum erstenmal wusch, nur den Grünspecht in euerer Familie genannt hat. Mache mir da nichts anderes weis! Deine Mutter ist tot; dein Vater, meines verstorbenen Mannes jüngerer Bruder (ja, ich erinnere mich, er muß um ein erkleckliches jünger sein), lebt noch. Er war ein junger Mensch von vierzehn Jahren auf meiner Hochzeit und trat mir die Schleppe vom Kleide, und mein verstorbener Mann behandelte ihn nicht ganz höflich – ich sehe den armen Jungen heute noch wie mit verhaltenen Tränen in der Ecke stehen, und nachher übernahm er sich ein wenig im Wein. Da wurde er wieder ziemlich grob gegen meinen Mann. Es waren noch zwei Brüder auf der Hochzeit –«

»Die sind auch gestorben«, wagte der Student nur mit leisester Stimme einzuwerfen; »der eine in Amerika, der andere in unserem Hause. Sie haben beide nicht viel Glück in der Welt gehabt.«

»Wer hat viel Glück in der Welt, du Grünspecht? Was verstehst du denn davon, mein Junge?« fragte die Frau Rittmeisterin Grünhage mit solcher Schärfe in der Stimme, daß der Neffe, der bis jetzt bescheiden auf dem Rande seines Stuhles gesessen hatte, unwillkürlich sich so fest als möglich auf ihm setzte. Doch die alte Frau fuhr glücklicherweise augenblicklich wieder in ihrem alten Tone fort, indem sie dazu mit der Stricknadel den jungen Verwandten auf das Knie tupfte:

»Da siehst du, Kind, was sofort daraus folgt, wenn man so an der Landstraße vorspricht, um alte Familienbande wiederanzuknüpfen. Wovon schwatzen wir denn eigentlich? Was geht es dich Grünspecht an, ob man bei meiner Hochzeit mehr geweint oder gelacht und wer darauf getanzt hat und wer nicht? Also dein Papa hat gesagt: ›Nun, Junge, denn lauf zu, und kommst du durch Wanza und hast Lust dazu, so erkundige dich meinetwegen, ob die Schwägerin noch am Leben ist und wie sie sich durch die letzten fünfzig Jahre durchgefressen hat‹?«

»Der Alte wars wohl eigentlich nicht«, sagte der Student schüchtern. »Die Alte brachte den Vater, das ganze Haus und zuletzt auch mich auf die Idee.«

»Die Alte?« fragte die Frau Rittmeisterin ein wenig verwundert. »Sagtest du nicht, daß deine Mutter schon vor Jahren gestorben sei?«

»Unsere Alte meine ich auch nur. Unsere älteste Schwester nennen wir zu Hause so.«

»Und wieviel seid ihr euer eigentlich zu Hause? Geschwister meine ich.«

»Mich mitgerechnet fünf. Vier Mädchen und ein – dummer Junge, der augenblicklich im sechsten Semester Philologie in Göttingen studiert und dem hiesigen alten Hause der Verbindung, dem Bürgermeister von Wanza, auf die Bude gestiegen ist.«

»Hm, und wie nennt sich – euere Alte sonst noch?«

»Käthe.«

»Und wie heißen die anderen?«

»Anna, Marie und Martha.«

»Hm, alles ganz anständige Namen. Wie alt ist euere Älteste?«

»Sechsundzwanzig.«

»Also, wie ich es mir gleich dachte, wirklich in den Jahren, wo uns Frauenzimmern der Verstand kommt. Bei euch dauert das etwas länger, mein Sohn. Weshalb aber ist das Mädchen denn nicht lieber selber gekommen, sondern hat dich geschickt?«

»Sie hat noch nie seit unserer Mutter Tode einen Tag lang vom Hause abkommen können. Übrigens, Frau Tante, lagen Sie ihr ja auch ganz und gar nicht auf dem Wege. Unsern Exsenior, den weisen Seneka, kennt sie höchstens nur vom Hörensagen und meinem Hausrenommieren. Wie sollte es ihr einfallen, auf dem Wege nach dem Inselsberge den Bürgermeister Dorsten in Wanza an der Wipper zu bekneipen?« sprach der Neffe mit einem Ton, der auf immer wachsendes Unbehagen deutete.

»Hm«, sagte die Tante Grünhage in Wanza an der Wipper, »und auf wie lange Zeit hast du dich denn wohl mit deinem Besuch und Aufenthalt in hiesiger Stadt bei deinem Hanswurst von Freunde und unserm Herrn Bürgermeister eingerichtet, mein Sohn? Wann gehst du wieder?«

Da war nun die Frage, die dem Neffen der Frau Rittmeisterin doch ganz und gar, wie das immer im Leben geschieht, als eine Überraschung kam. Und wie das ziemlich häufig im Leben passiert, so geschahs auch diesmal. Wo der Mensch die größte Neigung hat, ins Stottern zu geraten, fährt ihm das Wort kurz, rasch und bündig heraus und läßt sich nur sehr selten wieder zurücknehmen. Alle Tage, allstündlich, im großen wie im kleinen, wird dergestalt manch ein Schicksal endgültig kontrasigniert, besiegelt und zu den übrigen Akten der Menschheit gelegt.

»Morgen früh«, sprach der Knabe, sich bei dem Worte zugleich von seinem Stuhle erhebend und nach der Tür, durch die er gekommen war, umsehend.

»Schön!« sagte die gute Tante. »So haben wir ja wenigstens noch den heutigen Abend für uns, wenn der Herr Neffe es nicht wiederum vorzieht, sich Wanza bei der Nachtwächterlaterne zu besehen. Der andere, der dich vorhin bis an meine Haustür brachte, dich hineinschob und sich um die Ecke drückte (na, wegschleichen sah ich ihn), kann auch mitkommen, wenn er es sich getraut. Punkto sieben Uhr. Alte Frauen gehen früh zu Bett, wenn sie ihren Tee getrunken haben. Punkto zehn Uhr pfeift Matten unterm Fenster und leuchtet den Herren noch einmal nach Hause.«

Die alte Dame klingelte, und Luise steckte wiederum den Kopf in die Tür.

»Räume ab, Mädchen. Mein Herr Neffe – Studiosus Grünhage – hatte bereits gefrühstückt!«

Der Herr Neffe und Studiosus der Philologie Grünhage aus Göttingen und der Lüneburger Heide stand vor der Tür seiner Frau Tante, ohne eigentlich recht zu wissen, wie er so rasch dahin gekommen war. Ob er sehr höflich Abschied genommen hatte, konnte er durchaus nicht fest sagen, wohl aber, daß das kleine, klaräugige, weiße alte Weibchen ihm einen Knicks hingesetzt hatte, mit dem sie wahrscheinlich nicht zum ersten Male kühl von einem freundschaftlichen Besuch »abgekommen« war und welchen der Jüngling ruhig seinen sämtlichen Schwestern für ähnliche Gelegenheiten anempfehlen durfte.

Natürlich blickte er noch einmal zu den Fenstern dieser »verteufelten Alten« empor, aber ein wenig unstet und, um es höflich auszudrücken, dumm. Es war nicht allein die helle Sonne auf dem Marktplatz von Wanza, die ihn mit den Augen zwinkern ließ; und nachher war seine Ortskenntnis in Wanza noch nicht derart, daß er ganz genau wußte, ob er sich rechts oder links zu halten habe, um den Freund oder doch die Wohnung des Freundes so rasch als möglich wieder zu erreichen. So lief er aufs Geratewohl, bog um die nächste Ecke und wurde zu seiner großen Erleichterung sofort an der Schulter gepackt und aus seiner Verblüffung herausgeschüttelt.

»Da bist du schon wieder? Nun, wie ist es gegangen? Kurz war der Schmerz –«

»Und ewig ist die Freude, sagt der weise Seneka«, rief der Student, sich die Mütze abreißend und damit die Haare aus der Stirn zurückstreichend.

»Der sagt das diesmal grade nicht«, rief der gute Freund, »aber – begucken laß dich doch vor allen Dingen mal – zerdrück die Träne nicht in deinem Auge – so erzähle doch, Menschenkind! Die Geschichte interessiert mich zu enorm! – Gradeso wie du eben kam ich mehrmals um diese selbige Ecke und jedesmal auch – von ihr. Nicht wahr, sie schlägt ihre Klinge mit ziemlich impertinenter Gelassenheit? Und hübsch ist sie mit ihren siebenzig Jahren und erinnert einen immer so kurios an seine eigene Mutter, ohne Rücksicht auf die Jahre, wenn die einen am Ohr nahm oder – ironisch tat. Heraus damit, Grüner; was hat sie gesagt?«

»Alte Damen gehen zur rechten Zeit zu Bett; – zum Tee hat sie uns eingeladen. Punkt sieben Uhr. Dich mit, Dorsten!«

»Wundervoll!« rief der Bürgermeister.

»Mich jedoch nur unter der fröhlichen und tröstlichen Voraussetzung, daß ich mich nach stattgehabter Anknüpfung der Bekanntschaft augenblicklich wieder aus dem Neste, euerm heitern Wanza, hinaus- und zum Teufel schere. Ganz genau hat sie sich erkundigt, um welche Stunde du mich morgen früh auf den Weg nach Sachsen-Koburg-Gotha-Weimar-Eisenach oder dergleichen zu bringen gedächtest.«

»Famos!... Sie hat sich wirklich danach erkundigt, Grüner?... Dann gibt sie dir unbedingt eine Düte voll Zuckerwerk oder sonst Genießbarem mit auf die Reise. Ich kenne sie, Grüner!«

»Ich auch – wenigstens so ziemlich schon! Einen Grünspecht hat sie mich auch geheißen; und fürs erste hatte sie mir weniger aus allgemeiner Menschenliebe als aus ganz spezieller verwandtschaftlicher Bosheit einen Frühstückstisch decken und einen einmarinierten Hering vorsetzen lassen.«

»Dann hat Matten geschwatzt!« rief der weise Seneka mit der volltönigen Überzeugung eines Mannes, der das Rechte trifft. »Vorauszusehen war das eigentlich wohl. Und du, lieber Junge, hast dir einzig und allein selbst diesen himmlischen Hohn der Norne von Wanza an der Wipper zuzuschreiben. Es ist unbezahlbar!... Ein sauerer Hering mit einem Kranz von Immortellen um den Teller! Was sagte denn der Alte an der Wand, ich meine der Rittmeister, zu dieser reizenden Idee? Siehst du, blonder Knabe, nur dein frivoler Wunsch, nach unserm harmlosen Zusammensein im Bären Wanza noch ein bißchen genauer kennenzulernen, ist schuld an diesem göttlichen Abgeführtwordensein!«

»Aber Dorsten?!« sprach der geärgerte Philologe melancholisch-vorwurfsvoll. Doch aus der Melancholie heraus und mit beiden Füßen zugleich grimmig in die ganze Lächerlichkeit der Situation hineinspringend, rief er:

»Uh, die Alte!... Unsere meine ich, Dorsten! Die soll mir noch einmal wieder kommen mit solch einem Abstecher von einer Feriensuite, und wenn zehntausendmal mein bester Freund am Pfade sitzt. Na, die Bierzeitung zu Hause!... Aber unsere Alte geht sicherlich das nächste Mal selber auf die Tantensuche.«

»Schicke du sie nur ganz dreist nach Wanza«, sagte der Bürgermeister von Wanza treuherzig. »Doch jetzo folge mir nach Möglichkeit ruhig zu meiner stillen Klause. Man wird schon allzu aufmerksam auf uns. Sich nur die Fenster! Wanza kennt dich bereits als den Neffen der Frau Rittmeisterin, oder ich müßte die Kerle, die dich gestern abend im Bären kennenlernten, nicht auswendig wissen. Du interessierst Wanza riesig, mein Sohn, und wenn das einer der Ansiedelung nicht verdenkt, so bin ich es; denn du weißt, mich interessierst du auch, und zwar bodenlos und mit allem, was zu dir gehört – deiner ganzen stirps!«

»Daß ich dir und – euch allen ungeheuer verpflichtet und dankbar bin, kannst du mir, der liebe Gott weiß es, glauben; aber in zehn Minuten bin ich doch unterwegs nach der Wartburg. Ich bin es eigentlich jetzt schon und hole eben nur meine Tasche und meinen Stock bei dir ab.«

»Und blamierst dich sträflich nicht nur vor der Welt, Wanza an der Wipper, seinem Bürgermeister, dir selber und dem gescheitesten, liebenswürdigsten, angenehmsten alten Weibe in Wanza, sondern auch vor euerer Alten, die mir wirklich ein riesig nettes Frauenzimmer zu sein scheint und unbedingt mehr als eine Ader von unserer Alten da am Markt hat. Käthchen heißt das Kind! Wie könnte das liebe Mädchen sonst heißen? Unbedingt sind wir heute abend Punkt sieben Uhr bei der Tante. Um zehn Uhr geht sie zu Bett, und wir haben also bis dahin vollauf Zeit, Wunder an ihr zu erleben und vor allen Dingen Tee zu trinken auf das Wohl von Fräulein Käthchen Grünhage, die dich nach Wanza schickte und also sicherlich eine Ahnung davon hatte, wie der weise Seneka bei der Witwe Wetterkopf trocken saß und weder mit seiner Weisheit noch mit seinem Gemüte irgendwohin wußte, ausgenommen dann und wann zur alten Rittmeisterin Grünhage am Markte zu Wanza!«

< Sechstes Kapitel
Achtes Kapitel >



Die Inhalte dieser Seite sind Eigentum der Öffentlichkeit.
Sollten trotzdem Urheberrechte entgegen unserem Wissen verletzt worden sein, bitten wir Sie mit uns Kontakt aufzunehmen.