Wilhelm Raabe
Das Horn von Wanza
Achtes Kapitel
eingestellt: 28.7.2007
Es war Abend geworden, und der Jüngling aus der Heide, wie Dorsten sagte, hatte verständigem Zureden Raum gegeben. Er hatte mit dem Freunde am Wirtstische im Bären zu Mittag gegessen und wiederum allerlei Leute kennengelernt, die er eigentlich schon kannte. Nachher hatte ihn der regierende Bürgermeister von Wanza mit aufs Rathaus in seine recht gemütliche Amtsstube genommen, ihm eine lange Pfeife verabreicht und seinen kurulischen Stuhl zur Nachmittagsruhe überlassen
und sich selber seufzend in den Hundesteueretat des laufenden Jahres vertieft.
»Ja, es ist ein schweres Dasein! Dir darf ich wohl auch nichts von der großen Hundsleiche vorerzählen? Aber das will ich dich versichern: Carmina gibts auch hier die schwere Meng um den Hund; und Magistrat und Bürgerschaft ›düsseln‹ auch manchmal Rache, aber mehr gegeneinander als miteinander«, hatte der Regierende geseufzt. »Zu siebzehnhundert ziehn sie hier auch dann und wann heraus;
aber – mort de ma vie! Respekt wie eine Garnison in einer eroberten Festung habe leider nur immer ich allein; denn gegen mich allein laufen alle die verfluchten Molesten am Ende doch aus! Du erinnerst dich des braven Pudels, meines Ponto von Bovenden? Wo ist die Zeit, wo er so wenig als ich wußte, auf der Weender Straße, was uns an unsern Wiegen gesungen worden war? Nämlich daß ich ihn hier an diesem Tische in die Liste einzutragen hatte!... O alte Burschenherrlichkeit, wie rasch warst du
vergangen!... Drei Taler jährlich war die freie kanine Seele durch öffentlichen Magistratsbeschluß taxiert. Ich habe Mathildes Mama im Verdacht, daß sie es war, die mich schon nach einem halben Jahr von dem vectigal oder tributum befreite. Sie behauptete freilich, nur den Ratten im Hofe Gift gelegt zu haben; ich aber hätte ihn in jeglicher Beziehung lieber euch in Göttingen belassen sollen. Es war übergenug schon, daß sein Herr nach Wanza ins Philisterium hereinmußte.«
Es war, wie
gesagt, Abend geworden, und ein schlechtes Talglicht glimmte in der Wohnung des Bürgermeisters Dorsten auf dem Schreibtische. Mit einem andern in der Hand trat der weise Seneka aus seiner Kammer und rief:
»Jetzt, Grüner, fidel wie zwei aufgewickelte Igel auf der Mäusejagd! Wir lassen es pure darauf ankommen, wie ihr Befinden ist. Faucht sie uns an wie eine Katze, was sie, beiläufig, dann und wann freilich auch gediegen leistet, so rollen wir uns ruhig zusammen, schieben uns
und verbringen den Rest des Abends im Bären –«
»Dorsten?!« stammelte einfach der Neffe der Frau Rittmeisterin und setzte sich auf den nächsten Stuhl; er hatte aber die volle Berechtigung zu seinem Erstaunen, denn so war ihm der Freund noch nimmer gekommen. Er hatte große Toilette in seiner Kammer gemacht, trat im Frack herfür und ruhig und groß vor den zwischen den Fenstern hängenden Spiegel. Ohne auf das Erstarren des jungen Gastfreundes zu achten, fuhr er fort:
»Halte mir nen Augenblick mal das Licht!«
Und der Freund tats, im vollen Sinne des Wortes, mechanisch. Der andere aber zog die Manschetten aus den Ärmeln, rückte den Halskragen zurecht, reckte die beiden derben Schultern in dem festlichen schwarzen Ehrenkleide, daß die Nähte krachten, nahm den hohen schwarzen Hut unter den Arm und sprach mit ruhiger Melancholie:
»Deinetwegen, Grüner!... Ich imponiere auch ihr am meisten – so! Der Eindruck
wird jedenfalls den Abend über ausreichen, wie ich hoffe; und auch mich hält das sterilschäbige Gewand der Erinnerungen wegen, die sich daran knüpfen, in angemessener Stimmung. Zweimal fiel ich in ihm durchs Examen, und Bürgermeister von Wanza bin ich auch in ihm geworden.«
»Ich hätte das nie für möglich gehalten!« stotterte der Student.
»Siehst du, das ist im Grunde auch ihre Meinung. Ein anderer würde sich auch einfach lächerlich in dem lächerlichen Futteral vorkommen;
ich dagegen habe meine höchsten tragischen Anwandlungen drin; und, auf Ehre, mein Junge, ich spendiere den Effekt nicht für jedermann und jede Gelegenheit. Ich erwarte und trage in demselbigen nur die Krisen des Lebens und brauche mir also, was die Abnutzung betrifft, fürs erste noch lange kein neues bauen zu lassen. Dir, Knabe, nutzt es heute abend nur, daß du ihr ganz und gar wiederkommst, wie du heute morgen gingest. Gehen wir?«
Es war, da die Frau Rittmeisterin auf Pünktlichkeit
hielt, in der Tat die höchste Zeit geworden; und zehn Minuten später vernahm der Student zum andernmal den schrillen Klang der Türglocke des Hauses am Markte über seinem Kopfe.
»Was kann mir denn eigentlich passieren?« fragte er sich. »Spitziger als heute morgen kann die hübsche alte Hexe doch nicht werden. Höchstens bringe ich den Mädchen eine Schnurre mehr mit nach Hause.«
»Jeses, Herr Bürgermeister!« rief das hübsche junge Dienstmädchen, das wir schon zweimal den Kopf in
die Tür stecken sahen.
»Mathilde schlug einfach die Tür zu, nachdem sie als kluge Jungfrau uns auf dem Treppenabsatz mit ihrem Lämpchen beleuchtet hatte«, grinste der Bürgermeister. »Ich habe schaudernd sie im Verdacht, daß sie mich schon seit geraumer Zeit so spanisch um elf Uhr morgens erwartet. Dann würde sie mir wahrscheinlich nicht die Pforte vor der Nase zuklappen; aber – Jüngling, Jüngling, ich benutze die Gelegenheit hier auf der Treppe gleichfalls, dir gut zu raten.
Sollte man auch dir einmal täglich mit der Mahnung im Ohr liegen, dir einen eigenen Hausstand zu gründen, da du so gestellt seist, so sieh dich unbedingt nach einer von den Törichten in diesem Erdentale um. Ich mache es auch so.«
»Da sind die Herren, Frau Rittmeistern«, sagte das Liesle, und von ihrem Sofa aus, hinter ihrer Lampe und Teemaschine weg, erwiderte die Tante Grünhage:
»Schön! Nur heran! Wenigstens so ziemlich zur richtigen Zeit.«
Mit der Hand über den
Augen, ihr Strickzeug im Schoße, besah sie einen Augenblick lang um die Lampe herum ihre jungen Gäste, hob ein wenig die Augenbrauen und sagte ruhig:
»Es freut mich, dich zu sehen, Bernhard; der – andere aber geht sofort noch einmal nach Hause und zieht einen ordentlichen Rock an; Komödie werden wir heute abend nicht spielen, obgleich du dir wahrscheinlich nach gewohnter Art deine Rolle drin zurechtgemacht hattest, mein Sohn Ludwig.«
»Ich versichere –«
»Leuchte dem Herrn Bürgermeister auf der Treppe, Liesle, daß er wenigstens in unserm Bereiche nicht den Hals bricht über seine Narrenzipfel.«
»Auf Ehre, hochverehrte –«
»Du setze dich, Neffe Grünhage, und nimm vorlieb. Alles, was es gibt, steht auf dem Tische; jeder von den zwei Herren bekommt eine Flasche Rotwein, eine Zigarre ein jeder beim Abschied auf den Weg. Bleibe nicht zu lange aus, Dorsten; ich hatte wirklich Lust, heute Abend wieder einmal ein verständiges
Wort mit der Menschheit zu reden.«
»In fünf Minuten bin ich als vernünftiger Mensch wieder zurück!« rief der Bürgermeister aufgeregt, entzückt. »O Mama, der Herr segne Sie! Ich habe es ja dem Burschen hier gleich gesagt, daß Sie es gemütlich mit uns im Sinne hätten. Hurra!«
Sie hörten ihn die Treppe hinunterspringen und aus dem Hause stürzen; und während einer Viertelstunde waren Neffe und Tante nun zum zweitenmal miteinander allein, und in dieser kurzen Zeit schon erfuhr
der Neffe so vieles mehr von der Tante, daß er sich noch viel weniger als am Morgen sofort darin zurechtfinden konnte. Aber eines wurde ihm von Augenblick zu Augenblick klarer und stand bald unerschütterlich fest: der weise Seneka hatte vollkommen recht und durfte es dreist in den schnurrigsten oder pathetischsten Redensarten der Welt versichern:
Die Alte war wahrhaftig gar so übel nicht!...
»Ich will es nur gestehen«, sagte sie lächelnd; »den ganzen Tag über bin ich
dich närrischen Jungen nicht aus dem Sinn losgeworden. Ich bin mir so lange Jahre durch die einzige meines Namens gewesen, und ich habe freilich den Marten zuerst eine Weile groß drauf angesehen, als er mir heute morgen von seinen nächtlichen Begegnungen Meldung tat.«
»Ich versichere –« stotterte der Student, ungefähr so wie vorhin sein guter Freund, doch die Greisin unterbrach ihn sofort:
»Da gib dir nur keine Mühe; das ist mir jetzt, als wäre ich ganz und gar
persönlich bei dem Wanzaer Nachtwandeln mitgegangen und hätte auch noch mal einen jungen Narren bei des Alten Laterne aus mir gemacht, um meine Naseweisheit an der Welt, das Kirchhofsgitter von Sankt Cyprian nicht ausgeschlossen, zu reiben. Wenn man mit der Nase erst mal im Ernst an das letztere gedrückt ist, so – nun, ich will mir meine Tasse Tee nicht darüber kalt werden lassen, dahingegen dir einigen andern guten Rat für unsern fernern angenehmen Verkehr nicht vorenthalten. Nämlich vor
allen Dingen merke dir, mein Sohn, Brillen lasse ich mir von andern womöglich nicht aufsetzen, sondern gucke am liebsten durch die meinige, wenn ich mir nicht dann und wann Marten Marten seine borge. Alles andere lieber, als sich gutwillig übertölpeln lassen durch Wehmut, Rührung oder Unverschämtheit! Und wenn ich mir selber nach Möglichkeit klargeworden bin, so fahren gewöhnlich auch die übrigen nicht am schlechtesten bei diesen kühlen Grundsätzen. Da war zum Exempel – sieh, bist du schon
wieder da, lieber Ludwig? – dieser jetzt hier in Wanza sozusagen den Pfropfen auf der Flasche spielende Burgemeister Dorsten – na, bleib nur hier und setze dich! –, seine Großmutter war eine geborene Tewes, und sie und ich, wir stammen beide von der Universität Halle an der Saale. Von seinem Ururgroßvater, der auch seinerzeit ein berühmter Professor an der Universität da gewesen ist, hat der närrische Bursch sicherlich das dumme Zitieren aus den alten Römern und das lange
Sitzen im Bären, aber von seiner Mutter, die ihn auf ihrem Sterbebett hier in Wanza mir auf die Arme gelegt hat, die absolute Unfähigkeit zu begreifen, daß bis zum Jüngsten Tage allhier auf dieser Erde zweimal zwei niemals drei oder fünf, sondern immer nur vier machen, bis – ich mich seiner annahm, wie ich es versprochen hatte.«
»Das verhält sich so, Grünhage«, sprach der Regierende mit ruhiger Gravität.
»Freilich verhält sich das so, Neffe Grünhage«, fuhr die Tante
mit dem gleichen Ernste fort; aber daß auch er bei seiner Heimkunft als überzählig Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu mir kam mit einem ganzen Kasten voll Brillen, die er mir aufzuprobieren gedachte, das – hält er heute eigentlich selber nicht mehr für möglich.«
»Merke dir jedes Wort deiner Frau Tante, Neffe Grünhage; – der weise Seneka –«
»Hätte den durchs Examen gefallenen Herrn studiosus juris Dorsten sicherlich nicht auf seine noch mögliche
Brauchbarkeit im menschlichen Leben studiert, sondern sich höchstens bis an die Grenzen der Möglichkeit von ihm anpumpen lassen und ihn sodann seinem weitern Schicksal überlassen, mein Sohn. Was aber tat die Rittmeisterin Grünhage?«
»Sie nahm ihn, duckte ihn, beschränkte ihn eine geraume Zeit auf das Allernotwendigste, wies ihm ein Gemach hier im Hause nach hinten hinaus an, verweigerte ihm meistens den Hausschlüssel und machte ihn fürs erste zum Registrator bei seinem Vorgänger auf
hiesiger Sella curulis. Grüner, ich sage dir, es war ein schauderhafter Durchgang, und ohne den Meister Marten hätte ich es auch nicht ausgehalten.«
»Grade wie ich zu meiner jungen Zeit hier in Wanza, nur in anderer Weise!« rief die alte Dame mit wahrhaft kindlich glücklichem Lachen. »Es hat noch kein Mensch allein dem andern zu seinem Wesen und Behaben in dieser Welt verholfen. Die Verantwortlichkeit wäre auch wirklich wohl ein bißchen zu groß! Jaja, Neffe Bernhard, der Alte, der
Nachtwächter von Wanza, der euch in letzter Nacht zu euerm Kinderspaß durch Wanza bis an die Kirchhofsmauer mit seiner Laterne leuchtete und dem närrischen Menschen da mit zu hiesigem Bürgermeisterposten geholfen hat, hat auch mir zu meinem Posten im hiesigen Gemeinwesen verholfen und es möglich gemacht, daß ich den beschwerlichen Durchgang überlebte. Er ist hier von der Wipper, du, mein Kind, kommst von der Aller, ich und des Burgemeisters Großmutter sind von der Saale her, und des
Burgemeisters Ururvater, von dem er das Zitieren hat, soll von der Weser gewesen sein; und wie alles Wasser ineinanderläuft, so sitzen wir drei jetzt hier um diesen runden Tisch. Daß wir alle bergunter gelaufen sind und weiterlaufen, davon habt ihr jungen Männer wohl noch keinen Begriff; mir aber ist es ziemlich behaglich so in diesem Augenblick; und nun, Neffe Grünhage, erzähle uns ein wenig mehr von – euch zu Hause.«
Und der Student hatte bis zu diesem Momente nimmer eine
Ahnung davon gehabt, was alles sich von der Lüneburger Heide in Wanza an der Wipper berichten ließ, und wie interessant im Fluß der Erzählung und unter dem Nicken und aufmunternden Lächeln der Tante Grünhage sein Vaterhaus ihm selber werden könne.
»Nur weiter«, sagte die Tante hinter ihrem Strickzeuge und hatte gewöhnlich hinzuzufügen: »Und du halte gefälligst den Schnabel, Dorsten.« Und jedesmal hatte dann der Regierende eine Bemerkung gemacht, die ihm ganz und gar zur Sache zu
gehören schien. Schade war es auch, daß der alte Physikus und die vier Mädchen nicht dabei waren, um es mit staunenden Ohren zu vernehmen, wie sie zum erstenmal in ihrem Leben von dem »albernen Bengel«, ihrem Sohn und Bruder, reinewegs ins Poetische gezogen wurden. Oh, »unsere Alte« hätte wenigstens neben der Wanzaer Tante im Sofa sitzen sollen, um zu erfahren, wie sich zwischen dem Eichsfelde und der Goldenen Au der Gifhorner Torf wieder in die blühendste Erika verwandeln konnte! Was da an der
Aller ganz brüderlich und schwesterlich und vor allen Dingen ganz naturgeschichtlich auf dem Kriegsfuße, wenn auch dem vergnüglichsten und neckischsten, verkehrte, das wurde jetzo ganz unmenschlich idyllisch heraufbeschworen, wie sich Dorsten ausdrückte, um sofort wieder zur Ruhe verwiesen zu werden. Und das merkwürdigste war, daß die liebliche Schilderung im großen und ganzen doch der Wahrheit ziemlich nahekam. Es war ein gutes Haus, das des Doktor Grünhage in der Lüneburger Heide, und es
konnte des Guten nicht zuviel davon gesagt werden; auch nicht einmal von dem Sohne des Hauses.
»Die Mädchen müssen wirklich ganz nette Bälger sein«, brummte der Bürgermeister von Wanza, und die Frau Rittmeisterin sprach:
»Ich spendiere noch eine Flasche, wenn ich dir dadurch den Mund stopfen kann, Dorsten. Übrigens guck einmal aus dem Fenster und sieh zu, was es eigentlich für Wetter ist. Mir scheint, es hat sich seit einer Stunde geändert.«
»Bewölkt und windig,
Frau Tante«, sagte der Bürgermeister, die Gardine zur Seite schiebend.
»Auf meinen Rheumatismus kann ich mich immer verlassen«, meinte die Tante. »Nun, es war eine recht hübsche Reihe angenehmer Herbsttage, und wir wollen dem lieben Gott für alles dankbar sein. Es ist meine feste Überzeugung, daß es sich zwischen heute und morgen ins Regnen gibt; und was willst du da in dem feuchten Thüringer Walde, Neffe Bernhard? Was meinst du, wenn du dafür ein paar Tage länger, als du dir
vorgenommen hattest, hier fest in Wanza klebst und dir den Ort unter meiner Führung und bei meiner Laterne ein wenig bei Tage besiehst? Kommst du dann wieder nach Hause, so würdest du vielleicht eher wahrheitsgetreu erzählen können, wie du die alte Frau an der Wipper gefunden hast. Und die Mädchen zu Hause werden sich auch freuen, wenn sie hören, daß die Tante Sophie keine Grünhagen frißt, wenn sie gleich in ihrer grünen Jugend nur mit knapper Not und mit Beihülfe des Nachtwächters von Wanza dem
Schicksale entging, von einem aus der Familie gefressen zu werden.«
»Oh!« riefen sowohl der Student wie der Bürgermeister.
»Entschuldigt mich für einen Moment, liebe Jungen«, sprach die Frau Rittmeisterin sodann, erhob sich, humpelte zur Tür hinaus und kam erst nach einigen Minuten zurück, nahm ihren Platz auf dem Sofa wieder ein und ihr Strickzeug wieder auf.
»Ich habe Luise hingeschickt, deine Siebensachen von dem närrischen Kerl da abzuholen. Schon des
Anstandes wegen halte ich es für besser, daß du für die paar Tage mein Gast bist, mein Sohn.«
»Oh!« stotterte der Stammhalter der Familie Grünhage; doch die Tante fuhr, mit der Hand über die Augen ihn noch einmal sich besehend, fort:
»Du hast in diesem Augenblick eine gewisse Ähnlichkeit mit deinem Herrn Vater, wie er vor fünfzig Jahren in Halle im Winkel stand und seine Tränen verschluckte. Morgen früh schreibst du an ihn und teilst ihm mit, daß du das fünfzigjährige
Jubiläum meiner Ankunft in Wanza mitfeiern würdest. Wundern wird er sich wohl ein wenig, wenn ihn dein Brief auf das Datum bringt. Und außerdem schreibst du ihm, daß er mir seine Photographie und die deiner Schwestern schicke. Jaja, junge Leute, so wächst aus dem Spaß der Ernst heraus, und der Grünspecht hier wird nicht bloß deshalb nach Wanza gekommen sein, um samt dem Bürgermeister des Ortes seinen Spaß in einer lustigen Nacht mit dem Nachtwächter der Stadt getrieben zu haben, sondern er wird
in ernste Erfahrung bringen, wie es vor einem halben Jahrhundert den verwandten Menschenkindern ging, die damals jung waren und vielleicht auch einen Augenblick lang geglaubt hatten, diese Erde sei nur ein Vergnügungsgarten zum Lustwandeln. Jetzt aber, Meister Ludwig, sollst du dir weiter keinen Zwang mehr antun. Räsoniere dreist drauflos; ich habe sowieso mit dir noch genauer zu beratschlagen, was wir in der Nacht vom achtundzwanzigsten auf den neunundzwanzigsten dieses Monats auch von Stadt
wegen mit dem Meister Marten Marten anfangen, um ihm und uns einen Spaß zu machen.«
»Eben ruft er draußen, Mama!« stöhnte der regierende Bürgermeister heimtückisch-kläglich. »Programmäßig wäre die Sitzung vollständig zu Ende, Frau Rittmeistern! Alte Leute gehen pünktlich zu Bette, und auch jungen ist das sehr dienlich. Zehn Uhr, Tante Grünhage!«
»Dummes Zeug!« rief die alte Dame ärgerlich; Freund Dorsten aber stieß den Studenten unterm Tische mit dem Knie an, was nur heißen
konnte.
»Nun, wie findest du sie bei genauerer Bekanntschaft?«
Die Greisin aber hatte ihr Strickzeug in den Schoß fallen lassen und das Kinn auf die Hand gestützt. So blickte sie weg über ihren Teetisch und die zwei jungen Leute wie in weite Ferne. Es sah ihr wahrlich niemand an, daß sie sich eben in der Erinnerung in die trostloseste Epoche ihres Lebens zurückversetzte. Der selige Rittmeister hinter und über ihr an der Wand blickte aus seinem Rahmen ebenfalls wie in eine
weite Ferne hinein. »Schändlich kommun, aber das Werk eines bedeutenden Künstlers. Der Mann ist auch vordem nicht ohne die bestimmtesten Gründe seines Schöpfers in die Welt gesetzt worden; herausgefunden hat sie aber noch keiner!« pflegte Dorsten, über die Visage in Öl grinsend, hinter vorgehaltener Hand zu flüstern. Und – schändlich kommun sah der Verewigte aus, was aber, wie so häufig in der Welt, ihm nur zugute kam und es unbedingt nur beförderte, daß er eine Hauptperson in
der fernern Unterhaltung des Abends war und das überhaupt in dieser Geschichte bleibt.
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