Wilhelm Raabe
Der Hungerpastor
Zweiundzwanzigstes Kapitel
eingestellt: 21.7.2007
Es hatte sich sehr vieles während der Krankheit des Kandidaten Unwirrsch zum Schlimmem verändert. Wie sich die Verhältnisse im Hause des Geheimen Rats Götz weiter ineinander verschoben hatten, erkannte er nur allmählich; aber daß es Herbst geworden war in der Welt, sah er mit Schrecken auf den ersten Blick. Der Rasen und die Wege unter den Bäumen des Parkes waren bereits mit den abgefallenen Blättern bedeckt, der Park selbst fing an, einem verschossenen Teppich mit
sehr vielen Motten drin zu gleichen; es war fast ein Glück zu nennen, daß Hans keine Zeit hatte, sich darum zu kümmern.
Der Doktor Theophile hatte das Spiel der schönen, geistvollen Kleophea gegenüber vollständig gewonnen, Kleophea liebte diesen Mann mit aller Leidenschaft, deren eine Natur wie die ihrige fähig war. Es gehörte ein feines Gefühl dazu, um das Feuer zu merken, welches unter dem blumengeschmückten Boden glimmte, aber es war da, und durch es stand für den Augenblick der
Garten in noch herrlicherer Pracht; – es war sehr traurig, es war eine Geschichte zum Weinen!
Der Geheime Rat war, seit Hans wieder auf den Füßen stand, so unnahbar wie früher für ihn geworden; seine Frau hatte gesprochen, und er – er fügte sich dieser höhern Macht. Hans sah ein, daß dieser Mann die seinem Hause drohende Gefahr nicht abwehren könne und daß eine Warnung jedenfalls nichts helfen, vielleicht sogar noch schaden und die Sache verschlimmern werde. Bei der
gnädigen Frau hatte Theophile so trefflich vorgearbeitet, daß von dieser Seite auch nicht das geringste zu erwarten war; und Kleophea, die stolze, prächtige Kleophea würde sicher jeden Versuch der Einmischung in diese ihre eigensten, innersten Angelegenheiten mit tiefster Verachtung zurückgewiesen haben. Sie hatte viel zu oft mit Theophile über den »Hungerpastor« gelacht, um sich nun von demselben warnen zu lassen. Falschheit und freche Selbstsucht, bejammernswerte Schwäche, störrige Dummheit
und frömmelnde Hoffart, Leichtsinn, Überhebung, Übermut, Spott und Hohn auf allen Seiten; – oh, es war wahrlich eine Welt, um darin Hunger zu empfinden, Hunger nach der Unschuld, der Treue, der Sanftmut, der Liebe.
O Fränzchen, Fränzchen Götz, welch ein sanftes, süßes Licht umstrahlte deine holde Gestalt in diesem fratzenhaften Gewimmel! Wo anders konnte Friede, Schutz und Ruhe sein als bei dir? O Fränzchen, Fränzchen, wie konnte es doch geschehen, daß du dem armen Hans so
seltsame Schmerzen bereitetest? Wie konnte es doch geschehen, daß du um ihn so seltsame Schmerzen zu ertragen hattest? Wie konntet ihr beide euch gegenseitig so sehr quälen, und noch dazu so ganz gegen den Willen und die gute Absicht des Herrn Leutnants a. D. Rudolf Götz?
Ach, der Herr Leutnant Rudolf war auch nicht im Rat der Vorsehung angestellt, er hatte mit sich selber oft die liebe Not: das Geschick hat seinen eigenen Lauf, und jede Prüfungszeit will ihr Ende auf ihrem eigenen
Wege finden in diesem hungrigen Erdengetriebe.
Seit der Kandidat genesen war, wich ihm Fränzchen nicht mehr so scheu aus. Je mehr Macht der Doktor Theophile Stein im Hause erhielt, desto mehr sah die arme Nichte ein, daß zwischen dem Doktor und dem guten Hans das Verhältnis doch nicht ganz so sein könne, wie sie sichs zuerst vorgestellt hatte, und nicht ohne Berechtigung. An dem Tage, an dem die Tante dem Kandidaten sein Präzeptorentum kündigte, saß das Fränzchen in ihrem Gemach und
weinte Freudentränen und murmelte dazu den Namen ihrer Mutter, wie solche armen verwaisten Dinger gerne tun, wenn ihnen ein großes, unerwartetes Glück begegnet ist. Und dann trocknete sie ihre Tränen und lachte in ihr letztes Schluchzen und ihr feuchtes Taschentuch hinein.
»Dank dir, Dank, du lieber Onkel Rudolf! Siehst du – nein, ja – Dank dir, Dank dir!«
Dann kam sie herab, um ihren Platz an der Mittagstafel einzunehmen, und obgleich die geistige Atmosphäre
während dieses Mahles noch drückender als gewöhnlich war und die Tante giftigspitziger als je, so hatte Fränzchens liebes Herz seit langer, langer Zeit nicht so frei und leicht geklopft. Und es war, als ob der Kandidat Hans Unwirrsch das auf der Stelle verspüre. Auch er sah unbefangener und wohliger auf die Leute ringsum; ihr Sagen und Tun hatte nicht mehr den früheren schlimmen Einfluß auf ihn; Fränzchen Götz wich seinen Augen nicht mehr aus, und frei konnte er Atem holen.
Es war
nicht anders; – was sich so lange in eintöniger Unerquicklichkeit hingeschleppt hatte, mußte sich endlich in seiner ganzen Nacktheit und Trostlosigkeit zeigen. Die Krisis war nahe zur Hand, und wenn gegenwärtig das Übel sich ohne greifbare, faßbare Äußerlichkeiten fortspann, so konnte der elektrische Schlag, der das stille, vornehme Haus des Geheimen Rates in die größtmöglichste Verwirrung setzte und es zum Gespräch im Maule der ganzen Stadt machte, nicht ausbleiben. Die böse Hand ballte
sich und schlug dröhnend an die Pforte, um aller Verblendung, aber auch allem Schlaf ein Ende zu machen.
In den ersten Tagen des Oktobers folgten auf den langen, widerlichen Regen einige Tage, in denen die Natur über ihre Mißlaunigkeit Reue zu empfinden schien und sich bestrebte, durch verdoppelte Liebenswürdigkeit sich wieder angenehm zu machen. Die Sonne brach durch die Wolken, für sechsunddreißig kurze Stunden zeigte sich das Jahr in seiner matronenhaften Schönheit, und wer den
holden Augenblick benutzen konnte und wollte, mochte – sich beeilen; denn so ganz ist doch eigentlich selten irgendeiner Reue zu trauen.
Die gnädige Frau gab ihrem Eheherrn den Befehl, für einen oder zwei Tage Urlaub zu nehmen, und entführte ihn wie den teuern Aimé nach dem nicht allzu fernen Landgute einer befreundeten Familie, die über den längst angekündigten Besuch höchstwahrscheinlich sehr erfreut war.
Kleophea hatte sich nicht mit entführen lassen; sie haßte das
Land gründlich und jene landbebauende Familie fast noch mehr. Und sowenig sie Sinn für Naturschönheiten besaß, sowenig Geschmack fand sie an dem heiratsfähigen Erstgeborenen jener achtbaren Familie, der das schöne Mädchen mit seinen glänzenden, gesunden, aber leider etwas glotzenden Augen und seinen schüchternen, meistens mißlingenden Konversationsversuchen bis zum Tode langweilen konnte. Kleophea Götz, die nicht gewohnt war, über ihre Grillen, Launen, Wege und Gänge Rechenschaft zu geben, blieb
daheim, sah ihre Eltern mit einem Seufzer der Befriedigung abfahren, litt den Nachmittag an Migräne, ließ den Doktor Theophile abweisen und fuhr am Abend mit einer ihr befreundeten Familie in die Oper, wo sie den Doktor Theophile nicht abweisen konnte. Mit heftigem Kopfweh kam sie nach Hause und schloß sich in ihr Zimmer ein, nachdem sie seltsamerweise vorher ihrer Kusine einen Kuß gegeben und sie ein »armes, gutes Kind« genannt hatte. Sie mußte wirklich eine unruhige Nacht gehabt haben, denn am
andern Morgen kam sie sehr spät und sehr abgespannt und nervös zum Vorschein. Als sie von Fränzchen mitleidig auf den Sonnenschein aufmerksam gemacht wurde, erklärte sie, daß sie nichts darnach frage, und nannte die Kusine ein »einfältiges Ding, welches keinen Willen habe, außer zum Leiden«. Dabei weinte sie, setzte sich aber im folgenden Augenblick an den Flügel, um sich in ein Gewirbel der gellendsten Arien zu verlieren. Gegen Mittag wurde sie fast ausgelassen heiter, und während des Mahles
forderte sie Hans auf, zu gestehen, daß er in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft erschrecklich in sie verliebt gewesen sei, daß sein ehrbarer Charakter allmählich aber das Richtige gefunden und sich jetzt zum »sanften Fränzchen« gewandt habe. Sie hatte sehr heiße Wangen und lachte sehr laut über die Verwirrung, in welche sie ihre Tischgenossen stürzte. Sie sprach mit sehr unkindlichem Achselzucken von ihrer Mutter, nannte ihren Vater einen »armen Wurm« und ihren Bruder einen »Wurm«, ohne
Beiwort. Sie forderte ihre Kusine auf, zu gestehen, daß dieses Haus ein »Hölle« für sie gewesen sei, und den Kandidaten bat sie, offen zu sagen, daß er behaglichere Orte zum »Atemholen« kenne. Sie zeigte sich über alle Beschreibung heftig gegen den aufwartenden Diener und jagte ihn hinaus, um zu gestehen, daß sie ein sehr »unartiges Mädchen« und daß Franziska ein »armer Liebling« sei. Sie trank auf das Wohl von Hans und Fränzchen und bat, daß man Nachsicht mit ihr haben möge. Dann bekam sie von
neuem die Migräne und verriegelte sich abermals in ihrem Zimmer. Gegen fünf Uhr, als es bereits dämmerig wurde, ging sie aus.
Hans saß den Nachmittag über an seinem Fenster, ohne imstande zu sein, etwas Vernünftiges vorzunehmen. Er schlug ein Buch auf, legte es aber wieder fort, stopfte mit geheimem Zittern die Pfeife, die er von dem untersten Grunde seines Koffers heraufholte; sie ging ihm jedoch bald wieder aus, als wisse auch sie, daß in diesem Hause nicht geraucht werden dürfe.
Auf das Gewimmel der drunten vorbeiziehenden Reiter, Fußgänger und Wagen sah er wie gewöhnlich hinunter und versuchte seine Aufmerksamkeit auf den alten, schnauzbärtigen Leierkastenmann mit der Waterloomedaille zu richten; aber auch das wollte nicht recht gehen. Alles zog ihn immer wieder in das Innere des Hauses zurück und von einer unwiderstehlichen Macht wurde er gezwungen, auf die leisesten Laute in den Gängen und auf den Treppen zu horchen.
Ihr leichter Fußtritt?! . . .
Nein, nein, es war nur das Schleichen der Kammerkatze, die samt dem betreßten Jean beauftragt war, ein scharfes Auge sowohl auf den Herrn Hauslehrer wie auch auf Fräulein Franziska zu haben, um über jeglichen Vorfall später genauen Bericht geben zu können.
»Ihre süße Stimme?« Torheit; es war ein altes Weib draußen in der Allee, das geräucherte Heringe den Liebhabern anbot.
Ach, wenn Seufzer die Welt verbessern könnten, sie wäre längst keine Verbesserung mehr fähig. O wie
oft und wie sehr Kandidat Unwirrsch an diesem ungesegneten Nachmittag seufzte! Er starrte auf seine Stubentür und dachte an alle jene behaglichen Märchen, in denen die Fee stets zur rechten Stunde ungerufen und gerufen kommt. Als sie nicht kam und er sich hundertmal gesagt hatte, daß er ein Narr sei, ging er zum fünfzigstenmal zum Fenster zurück, um wieder in das lustige Leben drunten hinabzustarren. Er legte die Stirn an die Fensterscheibe und stand wieder lange so; aber auf einmal fuhr er
schnell zurück und sah schärfer hin. Ein Schatten glitt durch das bunte Gewühl, ein schwarzer, bleicher Schatten. Unter den Bäumen hervorkam langsam ein ärmlich gekleidetes, hageres junges Weib und stand still, dem Hause des Geheimen Rates Götz gegenüber, und sah zu den Fenstern desselben empor. Hans aber erkannte dieses Weib, obgleich er es nur zweimal gesehen hatten und obgleich es sich seit der Zeit sehr verändert hatte.
Es war die kleine, einst so lustige Französin, die er in der
Wohnung des Doktors Stein getroffen hatte, und es war, als ob ihre Augen in schmerzlicher Hilflosigkeit ihn, ihn, Hans Unwirrsch, suchten. Es überkam ihn so seltsam bange; – er hatte nach seinem Hute gegriffen und befand sich auf der Treppe, ehe er sich Rechenschaft über diese Gefühle geben konnte. Er trat aus dem Haus und schritt schnell um den Springbrunnen und den Rasenplatz, er schritt über den Fahrweg zu den Bäumen des Parkes; aber da war der schwarze Schatten verschwunden, und
vergeblich sah Hans sich suchend nach ihm um. Hatte ihn seine Phantasie wieder einmal in die Irre gelockt? Er stand einen Augenblick in Zweifeln; aber die Sonne schien, die Luft war so erfrischend – er kehrte nicht in das Haus zurück, sondern ging langsam weiter unter den Bäumen. Natürlich verließ er bald die breiten Wege, wo die meisten Leute gingen. Die gewundenen, einsamen Pfade, welche sich durch das Gebüsch zogen, suchte er auf, diese Pfade, auf denen alle die, welche mit gesenktem
Haupte gehen und gerne ohne einen Grund stehenbleiben, am häufigsten zu finden sind. Aber es gab an diesem Tage kaum einen gänzlich verödeten Weg. Sie waren alle draußen – alle! Da waren die Leute, welche zu Mittag gegessen hatten, und die, welche zuviel zu Mittag gegessen hatten, und die, welche gar nicht zu Mittag gegessen hatten. Da waren die Leute, welche fahren konnten, und die, welche auf Krücken gehen mußten. Da waren die altklugen Kinder, welche es unter ihrer Würde hielten, durch
den Reifen zu springen, und die kindischen Greise, welche gern durch den Reifen gesprungen wären, es jedoch nicht konnten und statt dessen nun den jungen Mädchen verliebte Blicke nachsandten. Es war sehr schwierig, eine noch unbesetzte Bank zu finden. Auf den Plätzen, die jedermann sehen konnte, saßen die Leute, welche nichts zu verbergen oder gar noch etwas zu zeigen hatten, in den Verstecken saßen die Liebespaare oder die Leute, welche sich ihrer schlechten Röcke schämten; und von der einzigen
Bank, welche Hans endlich noch leer fand, verscheuchte ihn eine unorthographische Notiz an der Rücklehne.
Mit Bleistift stand da gekritzelt:
»Da ich es von wegen Luwisen nicht aushalten kann, so will ich nach Amerikah, und wenn Berger aus Koblenz hierherkommen sollte und dies lesen, so wärs ein Freundschaftstück, wenn er meine Alten in die Glockengasse die Sache mit Maniehr beibrächte, auf daß sie sich nicht allzusehre von Tage täten und mits Essen warteten.«
Nun
war freilich kein vernünftiger Grund vorhanden, daß der Kandidat Unwirrsch es sich zu Herzen gehen ließ, wenn der Taugenichts durchbrannte und Berger aus Koblenz nach der Glockengasse spazierte; – er tats aber doch. Nachdem Hans eine Weile darüber nachgedacht hatte, ob es nicht seine eigene Pflicht sei, in der Glockengasse nachzufragen, ob der Koblenzer dagewesen sei und ob die Alten auch nicht mehr mit dem Essen auf den verlorenen Sohn warteten, sprang er auf, um sich einen andern Sitz zu
suchen. Auf dieser Bank litt es ihn nicht mehr.
Ein kurzer Weg führte ihn zu jenen romantischen Wasserflächen, jenen fettiggrünen Kanälen, die den entfernten Teil des Parkes verschönen und das Herz jedes Liebhabers des Mikroskops und der Infusionstiere mit Entzücken füllen müssen, jedenfalls aber in jedem neuen Frühling wahrhaft pharaonischen Froschscharen ein fröhliches und melodisches Dasein möglich machen.
Hier war ein Plätzchen, wo keine Liebespaare sich
hinsetzten, eine Bank vor einer tiefern Wasserstelle, aus der man schon öfters einen Leichnam ans Land gezogen hatte, eine recht versteckte Bank an einem recht feuchten und dumpfigen Orte, eine Bank, welche man selbst in dieser Jahreszeit, wo schon so manche Bäume und Büsche ihre Blätter verloren, nicht leicht auffand. Man bekam sie ganz plötzlich zu Gesicht, indem der schmale Weg sich um ein dichtverwirrtes, dorniges Gesträuch wand, um an dem Wasser zu enden; und es fehlte weiter nichts als ein
schwarzer Pfosten mit einem schwarzen Arm, der in die regungslose, sumpfige Flut wies, um den kläglichen, unbehaglichen Eindruck vollständig zu machen. –
Mit gesenktem Haupte folgte Hans dem engen Wege und trat hinter dem Gebüsch hervor, blieb aber starr und erschreckt stehen; dicht vor ihm auf der halbverrotteten Bank saß das, was er gegen seinen Willen suchte, was ihn vorhin aus dem Hause des Geheimen Rates Götz gezogen hatte – das Schattenbild des kleinen französischen
Mädchens, welches einst so hell in Theophiles Zimmer gelacht hatte über seine Unbeholfenheit.
Jene Französin war es unzweifelhaft, und doch war von ihrer früheren Erscheinung kaum noch etwas übriggeblieben. Sie schien krank, recht krank zu sein, sie trug noch Handschuhe, aber sie waren zerrissen wie ihre kleinen, einst so hübschen Zeugstiefelchen; der Schal, in welchen sie sich fröstelnd gehüllt hatte, war abgenutzt und verblichen; – ganz, ach ganz und gar das arme Grillchen
ihres Landsmanns Monsieur Jean de Lafontaine!
Und sie erkannte den Kandidaten Unwirrsch auf der Stelle, denn schnell erhob sie sich, zog ihren Schal zusammen und griff hastig nach dem Taschentuch, welches auf der Bank neben ihr lag. Mit angstvollem, etwas theatralischem Zorn sah sie auf den Kandidaten Unwirrsch.
»Ah ce monsieur!«
Sie wollte an ihm vorüber, aber er trat ihr in den Weg und hielt den verächtlichen Blick ihrer schwarzen Augen ruhig aus.
»Monsieur, Ihr Freund ist eine Canaille!« rief sie, die Hand ballend. »Lasse Sie mik vorbei – wolle Sie?!«
»Mein Fräulein«, sagte Hans Unwirrsch sanft und traurig, »der Doktor Theophile Stein ist mein Freund nicht. Hören Sie mich, mein Fräulein!«
»Ik will Sie nik mehr hör! Ik will Sie nix seh! Ik will nix mehr seh von der Welt als ma figure in dies hier Wasser!«
Das wurde mit einer Heftigkeit, einer Wildheit gerufen, daß Hans unwillkürlich ihren Arm
faßte, um sie vom Sprung in den Sumpf zurückzuhalten; sie aber riß sich los, lachte bitter, um dann mit beiden Händen das Gesicht zu bedecken und ebenso bitter zu weinen.
»Mein Fräulein«, rief Hans, »Sie haben harte Worte gegen mich gesprochen, Sie haben mich tief betrübt. Ich bin mir keiner Schuld gegen Sie bewußt, und will Ihnen helfen, wenn ich es kann; – ich wiederhole es Ihnen: ich bin nicht der Freund des Doktors Stein; – ich bin es nicht mehr!«
Sie ließ
langsam die Hände sinken und sah abermals dem Kandidaten in die Augen.
»Auch Sie klagen den an, welchen Sie eben nannten? Nennen Sie mir den Teil seiner Schuld, den ich auf mich zu nehmen habe!« sagte Hans leise, und sie – sie musterte ihn vom Kopf bis zu den Füßen, und dann – es war so seltsam! – dann überflog ein schwaches Lächeln ihre kummervollen, kranken Züge:
» Sie sind nicht sein Freund?« fragte sie.
»Ich bin es nicht
mehr, und es ist ein großer Schmerz für mich.«
Jetzt faßte die Französin die Hand des Kandidaten, und ihre Finger waren wie Eisen.
»Monsieur le curé, ik bin ein armes Mädchen und ganz allein in die fremde Land. Ik bin krank und ein leichtsinnlich Geschöpf. Ik abe geabt ein ganz klein Kind, aber es ist tot; – ik bin ganz alleingelassen in die fremde Land! O monsieur, das ist eine böse, slekte Mensch, und wenn ihr nik seid seine Freund, so verzeihe Sie mir, was ik eben
gesakt – je nai plus rien à dire!«
Hans verstand ihr gebrochenes Deutsch sehr schlecht und ihr schnelles Französisch gar nicht, aber ihre Bewegungen, ihr Mienenspiel vervollständigten das, was zum Verständnis fehlte. Er führte sie zu der Bank zurück, und sie ließ ihm ihre Hand, als er sich neben sie setzte und ihr sanft und beruhigend zusprach. Es war fünf Uhr, die Sonne sank eben hinter die Bäume, aus den Teichen stieg der weißliche Nebel; es wurde kalt und grau – es war
die Stunde, in welcher die schöne Kleophea Götz ihr elterliches Haus verließ.
So gut er es vermochte, erzählte Hans dem französischen Mädchen das Nötige über sein Verhältnis zu dem Doktor Stein, und dann erfuhr er allmählich die traurige Geschichte ihres Lebens und die häßliche Rolle, welche Moses Freudenstein aus der Kröppelstraße darin spielte.
Henriette Trublet war nicht dazu gemacht, auf den gradesten Wegen durch das Leben zu gehen, und es war sehr wahrscheinlich, daß
der Doktor Theophile in dieser Hinsicht wenig an ihrem Schicksal veränderte. Sie trug ein abenteuerliches Köpfchen auf den Schultern und glaubte nur an den Augenblick. Sie war die Gehilfin einer Modistin zu Paris gewesen, und so hatte sie Theophile kennengelernt und gewonnen. Geliebt hatte sie ihn eigentlich nicht, aber er hatte ihr gefallen, und die Pariser Freunde des Doktors, seine Art, das Leben zu genießen, sagten ihr zu. Sie war die schillernde Schleife an einem sehr bunten, lustigen
Kranze, und als derselbe, wie es zu geschehen pflegt, zerriß und der Doktor Theophile nach Deutschland zurückgegangen war, bekam sie bald die Sehnsucht nach dem Doktor. Sie hatte mancherlei wunderliche Geschichten gehört von dieser armen guten »Allemagne«. Die Leute waren da so ehrlich und so musikalisch und so blond; – sie waren wohl auch ein bißchen zurück in der Zivilisation und etwas einfältig; aber es war doch ein ganz ander Ding als um die albernen, langen Engländer. Und sie holten
alle ihre Hüte und Hauben und ihre künstlichen Blumen und ihren Champagner aus Paris, diese guten Deutschen; und jedes hübsche, kluge Kind der »Belle France« mußte sein Glück dort bei ihnen machen trotz allem Nebel, Eis und Schnee, trotz allen Wölfen und Eisbären, Erlkönigen, Nixen und sonstigen Ungeheuern. Eines Morgens fand sich Henriette auf dem Straßburger Bahnhof ein mit einem Lederkoffer und ungemein vielen und verschiedenartigen Schachteln und Schächtelchen – und gute
Reisegesellschaft zum Rhein fand sie auch – allons enfants de la patrie gen Homburg, Baden-Baden usw. – où le drapeau, là est la France, ubi bene, ibi patria! Und eines andern Morgens vernahm der Doktor Theophile Stein ein leises Klopfen an seiner Tür und ein leises Kichern vor seiner Tür; Henriette Trublet hatte ihn wiedergefunden.
Soweit war das alles in der Ordnung, und keines von beiden hatte dem andern etwas vorzuwerfen; aber nun, unter einem andern Himmelsstriche,
gestaltete sich das Verhältnis anders. Die arme Henriette, verlassen, rat- und hilflos, fand sich ganz in die Hände Theophiles gegeben; sie wurde zu einem verachteten, mißhandelten Spielzeug, und der flüchtige, farbige Staub, der ihre leichtsinnigen Schmetterlingsflügel bedeckte, war bald abgewischt und verblasen. Der Doktor Stein hatte jetzt einen Ruf zu bewahren, und wenn er schwach genug war, um die kleine, arme Pariserin nicht von sich stoßen zu können, so war er doch stark genug, sie so
tief hinabzudrücken und niederzuhalten, daß sie ihm dienen und gehorchen mußte, aber in keiner Weise imstande war, seinen Plänen und Hoffnungen hinderlich in den Weg zu treten. Durch seine Schuld und Intrige wurde sie gehindert, von ihren kunstfertigen Händen Gebrauch zu machen. Nur wenn sie ganz von ihm abhängig war, konnte er seine Tyrannei ganz ausüben an ihr. Als er ihrer überdrüssig war, hielt er sie auch für gänzlich gebrochen und ganz ungefährlich; er verschloß ihr daher auch ohne
Bedenken die Tür und überließ sie ihrem Schicksal. Im Krankenhause gebar sie ein Kind gegen Mitte des Septembers, und am zweiten Oktober starb dieses Kind. Es war ein böser Platz, diese Bank an dem regungslosen, grünlichen Wasser, auf welcher der Kandidat Unwirrsch am vierten Oktober die arme Henriette Trublet sitzend fand.
Traître – va!
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