Frei Lesen: Der Hungerpastor

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Wilhelm Raabe

Der Hungerpastor

Vierundzwanzigstes Kapitel

eingestellt: 21.7.2007



In graue Nebel gehüllt kam der Morgen. Die entblätterten Wipfel des Parkes tauchten auf im Dunst und feinen Regen; zerrissenes Gewölk fing sich in dem Gezweig, und aus dem Gezweig tröpfelte es unaufhörlich. Gekommen war der Morgen unbemerkt wie so vieles in der Welt. Weder Hans noch Fränzchen hatten auf den ersten trüben Schein im Osten geachtet. Der Morgen war da, ehe sie es vermuteten, und sie erhoben beide ihre Häupter und traten fröstelnd an ihre Fenster, um die Schatten weichen zu sehen.

Sie hatten nicht geschlafen, sie hatten gar nicht an die Möglichkeit des Schlafens gedacht; in einer dumpfen Betäubung saßen sie und mühten sich vergeblich, klare Reihen von Gedanken, Urteilen und Schlüssen zusammenzubringen. Sie vermochten es nicht, und als sie in fieberhafter Unruhe und Verwirrung aufsahen und erkannten, daß es Tag werde, da wurde das, was sie vor einigen Stunden sehr gefürchtet hatten, doch zu einem Troste für sie. Sie atmeten tief auf und begrüßten dankbar das graue Licht; es brachte ihnen die vollste Überzeugung, daß ein ganz neues und süßeres Leben für sie begonnen habe. Sie waren nicht mehr allein in einer Umgebung, die nur im Bösen auf sie achtete; – viel, viel hatten Hans und Fränzchen in der Nacht, in der Kleophea Götz ihr Vaterhaus verließ, gewonnen. –

Früher als sonst wurde es an diesem Morgen in den untern Räumen des Hauses lebendig. Die Haushälterin, der vornehme Jean, die Köchin und die Kammerjungfer befanden sich in einer nicht gelinden Aufregung seit gestern abend und waren zu jedem andern Ding als zum Horchen an den Türen und zum Austausch ihrer Gefühle und Empfindungen unfähig. Es ist ein Trost für uns, daß wir uns mit den letztern nicht zu beschäftigen brauchen.

Um sieben Uhr erwachte die Französin aus ihrem todähnlichen Schlaf, und es dauerte eine lange Zeit, ehe sie vollständig begreifen konnte, wo sie sich befinde, wie sie in diesen Raum gekommen sei. Als ihr alles wieder klargeworden war, fing sie heftig an zu weinen und wollte vor dem Fränzchen niederknien, und Fränzchen war darüber sehr erschrocken und litt es nicht, aber es fürchtete sich nicht vor dieser Fremden und vor dem, was die Leute im Hause und die Leute vor dem Hause sagten und sagen würden. Liebevoll sprach Fränzchen mit der armen Henriette Trublet von Dingen, von denen sie meinte, daß das verlassene Mädchen nicht darüber weinen werde, von ihrer Jugend, von der schönen, großen, lebendigen Stadt Paris, von den springenden Wassern zu Saint Cloud und den Elysäischen Feldern; und als das französische Blut wieder etwas schneller und wärmer durch die Adern lief, sprach sie ernst und eindringlich von der Zukunft. Nun fing Henriette von neuem an, die Hände zu ringen, und schluchzte und sagte, daß sie heimgehen wolle in ihr Vaterland und gut sein und recht arbeiten und sich durch ihre Arbeit nähren nach Gottes Willen. Und Fränzchen Götz legte in ihre leeren Hände all ihre weltlichen Schätze, und dann – dann klopfte monsieur le curé an die Tür, und Fränzchen Götz erschrak wieder sehr und drückte der Französin mit flehentlicher Gebärde die Hand auf den Mund. Die Französin konnte jedoch nicht schweigen; in gebrochenem Deutsch bat sie den Kandidaten Unwirrsch, doch ebenfalls dem »Engel vom Himmel« zu sagen, daß sie – Henriette Trublet, die schlechte, böse, leichtsinnige Henriette – das Geld nicht nehmen könne und noch weniger das goldene Kettchen mit dem Kreuz, das Granatarmband und den silbernen Fingerhut und die silberne Schaumünze der Republik Bolivia.

Hans aber sah auf das Fränzchen, und das Fränzchen sah ihm in die Augen; Hans Unwirrsch schüttelte den Kopf gegen das französische Mädchen zum Zeichen, daß er in dieser Sache ein schlechter Mittelsmann sei. Seines Vaters ehrwürdige und merkwürdige Taschenuhr zog er hervor und legte sie zu den Schätzen Franziskas, ebenso eine Börse, in welcher sich fünf harte Taler und wenig kleine Münzen befanden. Hätte er an den silbernen Beschlag der kurzen Pfeife gedacht, die ihm einst der Oheim Nikolaus Grünebaum schenkte, er würde sie ebenfalls geholt haben, er dachte jedoch nicht daran.

Es war sehr schlimm für Henriette, daß sie den beiden schon so viel zu danken hatte, es ward ihr um so schwieriger, sich gegen ihren Willen zu wehren, und sie vermochte es auch zuletzt nicht mehr. Sie wurde gezwungen, alles zu nehmen, und mit zitternden Händen nahm sie es.

Um acht Uhr trat Henriette Trublet wieder hervor aus dem Hause des Geheimen Rates Götz. Hans und Franziska geleiteten sie bis an das Gitter, das den Garten von der Straße schied, um sie wenigstens vor den Worten der Dienerschaft zu schützen. Vor ihren Blicken konnten sie sie nicht schützen.

Mit gesenktem Haupte war die Fremde gegangen, jetzt hob sie es empor – ihre ganze Gestalt schien sich aufzurichten, wie unter dem Antrieb eines festen, unerschütterlichen Entschlusses. Sie neigte sich vor Hans und Fränzchen und sagte:

»Der gute Gott wird euch vergelt, was ihr abt getan an mir. Ik will gedenk an euch immer und immer. Ik will geh und nicht werd müd; – ik will sie such und find und gedenk an dieser Nakt und euch. Malheur à lui!«

Es war, als ob sie sich von jemand mit Gewalt losrisse, sie lief hastig über den durchweichten, schmutzigen Fahrweg, sie sah zurück von den ersten Bäumen des Parkes: dann war sie verschwunden in dem dichten Nebel. Und wenn jetzt Kleophea Götz ein Fenster geöffnet hätte, um den Kandidaten Unwirrsch und Franziska – den »Hungerpastor« und das »schlafende Wasser« – nach ihrer Art zu grüßen, so hätten beide sich für eben erweckte Nachtwandler gehalten und keinem ihrer Sinne, keiner ihrer Empfindungen und Urteile mehr getraut.

Aber Kleophea sah nicht neckisch und spöttisch aus dem Fenster; nur Jean und die Wirtschafterin fuhren etwas verlegen aus der Haustür zurück, als Hans und Fränzchen sich umwandten.

Hans und Fränzchen hatten nicht achtzehn Stunden so bittersüße Dinge geträumt; – es war kalt, bitter kalt, und es fing wieder an zu regnen. Der Morgen war eine Wahrheit, und der Nebel war eine Wahrheit; eine Wahrheit war der Schatten, der im Nebel verschwand, und der Stadtbriefträger, welcher eilig herankam, seine Ledertasche öffnete und dem Kandidaten Unwirrsch einen Brief reichte, den Kleophea geschrieben hatte und welcher die Adresse ihres Vaters trug.

Er schien, der Schwere nach zu urteilen, ein Doppelbrief zu sein, und mußte, dem Poststempel zufolge, am vorigen Abend in den Briefkasten geworfen sein. Er brannte wie Feuer in der Hand des Kandidaten, und Franziska wich scheu vor ihm zurück, wie vor einem gefährlichen Tier.

Sie gingen wortlos in das Haus zurück und fanden auf dem Flur die gesamte Dienerschaft mit der Milchfrau und dem Semmelträger in gespannter Erwartung versammelt.

Hans winkte ruhig dem Bedienten:

»Kommen Sie mit uns, Jean, wir haben mit Ihnen zu reden und Ihnen einen Auftrag zu geben.«

Jean verbeugte sich mit ungewohnter Höflichkeit und Dienstwilligkeit, warf der Kammerjungfer über die Schulter einen vielsagenden Blick zu und hielt es diesmal nicht unter seiner Würde, dem »Schulmeister« und der »Jungfer Nichte« die Treppe hinauf in den Salon zu folgen, um anzuhören, was sie ihm zu sagen hatten.

Es war unbehaglich kalt in dem weiten Gemache, es war, als liege unsichtbar eine Leiche darin. Gespenstisch schien der graue Tag durch die niedergelassenen Vorhänge, gespenstisch war der offene Flügel mit den durcheinandergeworfenen Notenheften, den morceaux de salon, songes dorés, cascades, carillons, nocturnes, fleurs, pensées fugitives, cloches du monastère Kleopheas. Gespenstisch war das zerbrochene Steckenpferd Aimés, welches auf dem Teppich lag, und vor allem andern gespenstisch war auf dem Ölgemälde über dem Flügel der Kopf des Pharisäers, der dem Heiland den Zinsgroschen lauernd entgegenhielt.

»Wir haben Ihrer Herrschaft schnell eine Nachricht zu geben, Jean«, sagte Hans. »Wieviel Zeit werden Sie gebrauchen, um einen Brief dort abzuliefern?«

Jean sah einen Augenblick nach der Decke und meinte sodann, daß er mit Hilfe guter Pferde bis ein Uhr der gnädigen Frau alles, was man nur wünsche, überbringen oder mündlich berichten könne und daß er trotz des unangenehmen Wetters den Auftrag mit Vergnügen übernehmen werde. Darauf hin ersuchte ihn Hans, für Wagen und Pferde zu sorgen und sich bereit zu halten.

Um neun Uhr fuhr Jean ab mit einem Paket, welches das Schreiben Kleopheas und einen Brief Franziskas enthielt: – um vier Uhr nachmittags konnten die Eltern von ihrem Ausflug zurück sein.

Fränzchen reichte dem Kandidaten die Hand und sagte:

»Wir müssen jetzt still sein und warten, lieber Freund.«

Hans neigte sich über die kleine Hand und sagte:

»Wir wollen geduldig sein und warten.«

Sie schieden jetzt voneinander, und jedes verschloß sich in seiner Stube. Still saßen sie und vertieften sich in die Geheimnisse der eigenen Brust.

Gegen Mittag klärte sich der Himmel ein wenig auf, die vornehme Welt fuhr spazieren, und zu einem Teil derselben waren bereits dumpfe, verworrene Gerüchte von den Vorgängen im Hause des Geheimen Rats Götz gedrungen. Die Nachbarschaft zur Rechten und Linken beobachtete hinter den Vorhängen und Blumentöpfen neugierig bedauernd oder auch wohl recht schadenfroh das Haus, und aus den vorüberrollenden Wagen wurden wunderliche Blicke auf es geworfen. Das war doch noch einmal etwas, worüber sich sprechen ließ! Hans und Fränzchen zeigten sich nicht mehr an ihren Fenstern; – Fränzchen lag fröstelnd zusammengekauert auf ihrem kleinen Diwan und hatte das Gesicht in den Kissen verborgen und ein Tuch über den Kopf gezogen; Hans schrieb an die Base Schlotterbeck und verwandte viel Fleiß auf das Malen der Buchstaben, damit die gute Alte sie lesen könne.

Er schrieb:

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