Frei Lesen: Der Hungerpastor

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Wilhelm Raabe

Der Hungerpastor

Achtundzwanzigstes Kapitel

eingestellt: 21.7.2007



»Der Herr Oberst von Bullau?« fragte Lämmert, der soldatische Wirt des Grünen Baumes, als Hans, nüchternen Magens, ganz außer Atem vor ihm erschien, und sehr phlegmatisch wiederholte er:

»Ja, der Herr Oberst von Bullau!«

»Ist er nicht hiergewesen? Hat er keine Bestellung für mich hinterlassen?« rief Hans, der ebenso heiß erschien, als der Wirt kühl war.

»Sie sind der Herr Kandidat Unwirrsch und sind hier einmal mit dem Herrn Leutnant Götz eingekehrt?«

»Jawohl; – ich bitte Sie –«

»Wenn Sie der Herr Kandidat Unwirrsch sind, so sind Sie der Mann; allein, aber – der Herr Oberst von Bullau sind nicht mehr hier.«

»Aber er hat vielleicht eine Bestellung für mich hier zurückgelassen! Ich bin doch hierherbeschieden!«

Von neuem betrachtete Lämmert den Theologen vom Kopf bis zu den Füßen, verschlang das Wort: Putzig! und sagte mit Gelassenheit:

»Vielleicht wissen die Herren im Nest etwas davon, und wenn der Herr Kandidat heute abend zur bekannten Zeit einfliegen will, so wird es Ihm und den Herren angenehm sein.«

Hans Unwirrsch konnte trotz der Versicherung des Wirtes den Gedanken, heute abend die Gesellschaft der Neuntöter zu genießen, nicht so angenehm finden. Er sah befangen auf den Wirt, und der Wirt sah unbefangen auf ihn und meinte:

»Wenn der Herr Kandidate etwas Herz- und Magenstärkendes zu sich nehmen wollten, so würde das an diesem kalten Morgen und bei solcher Gesichtsfarbe nicht von Übel sein.«

»Ja, ich will kommen. Ich muß wohl. Es wird wohl nichts anderes übrigbleiben!« seufzte Hans, Lämmerts menschenfreundliche Anlockung überhörend. Er nahm Abschied von dem Wirt zum Grünen Baum, und wenn derselbe vorhin seinem Herzen nicht Luft gemacht hatte, so tat er es jetzt.

»Sehr putzig!« sagte er, dem Kandidaten Unwirrsch kopfschüttelnd nachblickend: »Solch ein Vogel fehlte uns grade noch.«

Er trat in sein Haus zurück, um irgendeinem nachlässigen Kellner an den Kopf zu fahren, und Hans Unwirrsch eilte, immer noch nüchtern, nach dem Park, der Parkstraße und dem Hause des Geheimen Rates Götz.

Da war es wieder, dieses Haus! Unverändert, frostig elegant, und scheu schlich Hans vorüber und sah nach dem Fenster des Zimmers, welches er selber bewohnt hatte, und sah nach einem andern Fenster. Die wahnsinnige Hoffnung durchfuhr ihn, es müsse jemand an die Scheibe klopfen, um ihn hereinzurufen; aber da es nicht geschah, sagte er sich, daß es nicht geschehen werde, und schlich vorüber, durchkreuzte den Park, kam wieder in die Stadt zurück und suchte die Expedition der meistgelesenen Zeitung auf, um ein Inserat abzugeben.

Er zeigte der Haupt- und Residenzstadt und – dem Fränzchen in dem Hause in der Parkstraße den Tod der Base Schlotterbeck und des Oheims Grünebaum an. Dann trank er in einer Konditorei Kaffee; dann aß er irgendwo mit dem dumpfen Gefühl, dreihundert Taler zu besitzen, zu Mittag, und dann ging er nach Haus und erwartete den Abend. Er war sehr müde und dachte nicht daran, das Manuskript des Hungerbuches von neuem zu beginnen. An die Toten dachte er und an das Fränzchen, und dann stieg er auf den Tisch, um einen Nagel in die Decke zu schlagen. An diesen Nagel hing er die Glaskugel, bei deren Schein sein Vater Schuhe und Gedichte gemacht hatte, in deren Schein seine Mutter saß und ihre Wiegenlieder sang, in deren Schein die Base Schlotterbeck auf ihrem niedrigen Schemel kauerte und ihre Märchen erzählte. Vieles hatte er als Kind, vieles als Jüngling in dem zerbrechlichen Dinge gesehen; nun saß er als Mann dabei und sann nach über das, was sich verändert hatte, und das, was geblieben war. Dann stand er auf und ging ruhiger nach dem Grünen Baum, um von irgendeinem der Neuntöter zu erfahren, was ihm der Oberst von Bullau zu sagen habe.

Er hatte seinen Weg einem heftigen Winde abzukämpfen; aber glücklich langte er zuletzt doch an seinem Bestimmungsorte an und stand in der Tür jenes Gemaches, in welchem man ihm einst so viele und so merkwürdige Geschichten erzählt hatte. Alles noch ganz so, wie es damals war; – der weise Heide Sokrates auf dem Ofen und der alte Schwede Lebrecht Blücher an der Wand! Tabaksdampf zur Genüge, anmutige Dünste von Punsch, Grog und andern heißen und kalten Erquickungen; – ein halb Dutzend Neuntöter um den runden, grinsenden Tisch und der einarmige Herr mit der »wackern« Geschichte von der Wütenden Neiße und dem ausgehungerten Bauernhaus auf dem Präsidentenstuhl!

»Der Herr Kandidatus Drumwisch!« rief Lämmert in den Qualm hinein, und wer dem hilflosen Hans den Rücken zuwandte, drehte sich um, wedelte den Rauch vor den Augen weg und stierte auf den Kandidaten.

»Holla«, rief der einarmige Herr, »eintreten! Tür zumachen! Abtreten, Lämmert – alles in der Ordnung. Hierher, Herr Pastore!«

Da war der Vogel, der bald rechts, bald links war; da war der joviale Vogel mit dem seltsamen Husten; da waren noch verschiedene andere Vögel, die der Kandidat Unwirrsch bis jetzt noch nicht kannte, denen er aber nunmehr vorgestellt wurde, und zwar als ein junger Mann, der imstande sei, mehr zu halten, als er verspreche, und der einmal einen recht brauchbaren Feldprediger abgeben werde.

Sie begrüßten ihn allesamt nach der Art der Neuntöter, und jeder sammelte feurige Kohlen nicht auf dem Haupte des Kandidaten, sondern unter seinen Füßen.

»Sie sind der Mann meines Herzens«, sagte der einarmige Herr. »Setzen Sie sich doch; ein Glas Grog sollen Sie auch haben. Setzen Sie sich; Sie sehen wahrhaftig aus, als ob Ihnen etwas Warmes sehr gut bekommen würde.«

»O Herr Hauptmann«, rief Hans. » Sie werden mir Nachricht von dem Herrn Oberst von Bullau und dem Herrn Leutnant Götz geben können! Ich bitte Sie, sagen Sie mir, was mir die beiden Herren sagen lassen. Ich habe so viel Böses und Trauriges in der letzten Zeit erlebt, daß ich kaum noch weiß, wie ich mich dagegen wehren soll. Es ist nicht etwas Warmes, was ich bedarf. Gestern abend bin ich aus meiner Geburtsstadt hierher zurückgekehrt; ich habe dort meine letzten Verwandten begraben; – ich bitte Sie, teilen Sie mir mit, was Sie mir zu sagen haben.«

»Aber mein Junge!« rief der einarmige Herr, »wahrhaftig, bei meiner Seele! Kommen Sie, setzen Sie sich. Sie sehen in der Tat jämmerlich aus, und da mag der Spaß aufhören. Was haben Sie denn? Was ist Ihnen begegnet? Ich für mein Teil habe Ihnen weiter nichts zu sagen, als daß Sie hinbeordert sind.«

»Hinbeordert?! Wohin?! Zu wem?!«

»Nun, alle Teufel, nach Grunzenow zum Kameraden Götz. Der Oberst wollte Sie auf der Stelle mit sich nehmen und hat nicht wenig räsoniert, als er Sie nicht in Ihrem Bau fand. Er hat mir aufgetragen, Sie ihm zu schicken; das ist aber auch alles, was ich Ihnen sagen kann. Sie tun vielleicht ein gutes Werk an dem Kameraden Götz, wenn Sie sich so bald als möglich auf die Beine machen; der arme Teufel scheint sehr festzusitzen und in großer Not zu sein wegen des kleinen Mädchens, seiner Nichte, die er vor einigen Jahren aus Paris holte. Sie werden die Verhältnisse besser kennen als ich oder irgend jemand hier im Nest. Da war das Fräulein in dem Hause des Geheimen Rates Götz, welches neulich mit dem Juden durch die Lappen ging, und noch manche anderen Dinge. Wir haben allerlei darüber gehört; aber wir halten es nicht für anständig, in den Familientopf der Kameraden zu schnüffeln, wenn das Ding ernst und nicht mit einem schlechten Witz abzumachen ist. Gehen Sie nach Grunzenow zu dem alten, braven Burschen; wer weiß, was für einen Trost er von Ihnen erwartet?«

»Morgen, morgen!« rief Hans, und der Hauptmann gab ihm die Hand, welche nicht nach der Schlacht an der Katzbach den Weg alles Nahrhaften und Delikaten gewandelt war.

»So ists recht! Sie sind ein wackerer Knabe und gefallen mir ganz merkwürdig, und etwas Warmes sollen Sie trotz allem trinken, und dann rücken Sie heraus mit Ihrem eigenen Elend. Wir haben alle hier um den Tisch unser Teil Trübsal im Ranzen, und ich glaube, mehr als einer läßt manchmal innerlich das Maul hängen, wenn er mit Lachen auf den Tisch schlägt. Auf Ihr Wohl, Herr Kandidate, und nun geben Sie Ihr Ungemach von sich – Feuer!«

Hans sah ein, daß es vergeblich sein würde, sich gegen die gemütliche Teilnahme der Neuntöter zu wehren. Er erzählte deshalb in kurzen Worten von seiner Fahrt nach Neustadt und dem Tode der Base und des Oheims. Als er zu Ende war, tranken sämtliche anwesende Neuntöter auf das Wohl der Base und des Oheims und stießen ihnen zu Ehren die Gläser mit Gekrach auf den Tisch. Sie hatten auf diese Weise schon manchem Kameraden die »letzten Honneurs« gemacht; es blieb Hans nichts übrig, als sich im Namen der Base Schlotterbeck und des Oheims Grünebaum zu bedanken. Die Sache hatte nichts Lächerliches und Possenhaftes an sich; – der Kandidat Unwirrsch sprach seinen Dank für die Ehre mit Tränen in den Augen aus. –

»Na, Sie rücken sehr auf Ihrem Stuhle, junger Mann«, sagte der einarmige Hauptmann von der Wütenden Neiße. »Es wäre auch unrecht, Sie hier festhalten zu wollen; machen Sie, daß Sie fortkommen, und gehen Sie nach Grunzenow. Der Mensch kann gesund von manchem Schlachtfeld marschieren, und wenn er ein gut, treu Angedenken für die behält, welche darauf verfaulen müssen, so wirds ihm niemand übelnehmen, wenn er daneben an das kommende Quartier denkt, obs trocken, behaglich und wohlverproviantiert sein wird. Bestes Glück für die Zukunft, Herr Kandidate, marschieren Sie auf Grunzenow und grüßen Sie die beiden alten Kameraden, Schwerenöter und Neuntöter dort – wir wären alleweil noch auf dem Zweig; aber der Kamerad Öchsler sei weggeblasen worden und wir hätten ihm vorgestern das Geleit gegeben.«

Um den Tisch ging Hans, und jeder Neuntöter schüttelte ihm die Hand. Lämmert gab ihm das Geleit bis zur Haustür, nachdem er ihm eigenhändig in den Überrock geholfen hatte.

»Es ist mich eine kuriose Ehre, Herr Pastore«, sagte er. »Ich werde mich freuen, Sie bei Kräften und bei besserer Witterung wiederzusehen. Meine gehorsamste Empfehlung an den Herrn Leutnant und den Herrn Oberst.«

Auch dem Herrn Wirt zum Grünen Baum drückte Hans die Hand und merkte erst zu Hause, welch ein schwerer Gegenstand ihm unterwegs fortwährend gegen den Schenkel geschlagen hatte. Eine wohlverpichte Flasche alten Rums wars, gewickelt in einen Bogen weißen Papiers mit dem Vermerk von Lämmerts Hand:

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