Frei Lesen: Der Hungerpastor

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Wilhelm Raabe

Der Hungerpastor

Einunddreissigstes Kapitel

eingestellt: 21.7.2007



Mit Tagesanbruch hielt der Schlitten auf dem Gutshofe zu Grunzenow. Der Sturm hatte sich gelegt, aber der Schnee lag ziemlich hoch.

»Einen angenehmen Weg werdet Ihr nicht haben«, sagte der Oberst von Bullau, seinem Gast die Hand zum Abschied reichend. »Na, Grips und die Gäule wissen, wie sie sich zu benehmen haben. Alles in Ordnung? Nichts vergessen? Brennt die Pfeife? Na, dann in Gottes Namen vorwärts, ganze Batterie. Laßt mir nicht allzulang auf Euch warten, junger Schwarzspecht.«

Der Leutnant lag so weit als möglich aus dem Fenster, schwang seine alte Soldatenmütze und wiederholte in größter Aufregung dem abreisenden Hans eine Reihe von Verhaltungsmaßregeln, die aber alle damit endeten, daß er ihm unnötigerweise befahl, auf sein Mädchen zu achten wie auf seinen Augapfel.

»Fahr zu und mach ein Ende daran!« schrie der Oberst. »Ein Vivat fürs Fränzchen – und abermals – und nochmals – hoch!«

Sämtliche Gutsleute schrien mit, und sämtliche Hunde erhoben ihre Stimme. Der Schlitten klingelte aus dem Hoftor und bog ein auf den Weg nach Freudenstadt; nicht die Kälte des Wintermorgens allein wars, was die Tränen in das Auge des Kandidaten lockte. Er hatte seit so langen Jahren keine rechte Heimat gehabt, nun war eine solche für ihn gefunden – es war kein Wunder, daß sein Herz sich heftig bewegte, als der Turm von Grunzenow hinter den Dünenhügeln verschwand, als die Stimme der See allmählich schwächer und schwächer wurde und zuletzt ganz verhallte und Grips, der Schlitten und die beiden schwarzen Gäule für jetzt von dem Zauberschloß am Meer allein übriggeblieben waren. –

Wir wollen die Reise des Kandidaten dieses Mal nicht beschreiben. Sie war beschwerlich genug, und mancherlei Hindernisse versperrten den Weg zu der nächsten Eisenbahnstation hinter Freudenstadt. Hier war die Straße durch den Schneefall unfahrbar gemacht, dort zerbrach ein Rad des Postwagens, und erst am Abend des zweiten Reisetages bekam Hans Unwirrsch die feurige Dunstwolke über der großen Stadt von neuem zu Gesicht. Als der Zug in der Halle hielt, die Lokomotive zischend ihre Dämpfe ausgespien hatte und Hans aus dem Gedränge der Reisenden seinen Weg ins Freie gefunden hatte, war es zu spät, um an dem heutigen Tage noch einen Besuch in dem Hause der Geheimen Rätin Götz abzustatten und das verzauberte Kind aus dem Drachenloch herauszuholen.

Mit der Reisetasche über der Schulter lief aber der Kandidat durch den verschneiten Park und an dem Hause vorüber. Es hatte kein Zauberer aus dem Lande Afrika die Wunderlampe gerieben und dem Genius der Lampe befohlen, das Gebäude mit der schönen Prinzessin aufzunehmen und in der Mandschurei niederzusetzen. Das Haus stand noch auf dem alten Fleck, aber nicht ein Fenster daran war erleuchtet; es war, als ob mit dem Herrn der letzte Schimmer von irgendwelcher Lebendigkeit ausgelöscht sei; es fror den Kandidaten Unwirrsch, und beinahe hätte er doch noch die Glocke gezogen, um das arme Fränzchen auf der Stelle dem dunkeln Gebäude und der Frau Tante abzuverlangen.

Er bezwang sich jedoch, und bald befand er sich mitten in dem Getümmel der Stadt, auf dem Wege nach seiner Wohnung in der Grinsegasse. Abermals setzte er durch sein plötzliches Erscheinen seine Wirtin in das größte Erstaunen, aber frei von Wäsche und Kindergeruch fand er dieses Mal seine Hungerbuchsstube.

Da stand er in der Mitte des Gemaches. An den Fensterscheiben glitzerten die Eisblumen, die Lampe, die von der Wirtin angezündet war, erhellte kaum die Platte des Tisches, die gläserne Kugel hing dunkel an der Decke.

Es war so wunderlich, so über alle Maßen wunderlich, hier zu stehen nach der langen, kalten Fahrt und an das veränderte Leben und an das Fränzchen zu denken; es war so wunderlich, so über alle Maßen wunderlich, hier in dem kläglichen Räume wach und vollständig bei klaren Sinnen zu stehen und doch nicht zu wissen, ob die Ostsee da vor dem Fenster sich bewege oder die große Stadt! Trotzdem dem Kandidaten Hans Unwirrsch einfiel, daß er sich versprochen hatte, fürs erste nicht wieder dem gewohnten Tagträumen sich hinzugeben, vermochte er nicht, diesem Spiel der Gedanken und Empfindungen zu widerstehen. Er fühlte weder Kälte noch Müdigkeit – o wie hatte sich die Welt, seine Welt verschoben seit jenem Abend, an welchem er, von dem Kirchhofe zu Neustadt zurückkehrend, die Karte des Obersten von Bullau erhielt und im Grünen Baum die Neuntöter um Erklärung derselben bat.

Aber nun kam der Augenblick, wo er sich ruhig hinsetzen und sich fassen sollte. Das vermochte er nicht. Es trieb ihn immer von neuem auf, es trieb ihn um, »als hätt er wen erschlagen«, und die Unruhe stieg von Minute zu Minute.

Weshalb war das Haus in der Parkstraße so ganz dunkel? Was konnte alles in den letzten Tagen darin vorgefallen sein?

Nun kam der Rückschlag nach den wonnigen Gefühlen, Gedanken und Bildern der Reise. Es zerbrach der Becher so oft dem Menschen vor den Lippen. Der Kranz zerriß so oft in dem Augenblick, in welchem ihn die Hand des Ringers berührte.

Dieses Bangen, diese dumpfe Furcht vor verborgenem Unheil war nicht zu ertragen – Hans Unwirrsch mußte wieder hinaus in die Gassen, um einen Menschen zu suchen, der ihm Nachricht von dem Hause des Geheimen Rates Götz, Nachricht von dem Fränzchen geben konnte.

Es fiel ihm ein, daß im Grünen Baum unter den Neuntötern Männer saßen, die in den Geschichten der Stadt nicht unerfahren waren; der Oberst von Bullau hatte ihm einen ganzen Sack voll Grüße an die Vögel mitgegeben – Hans eilte nach dem Grünen Baum. Es schlug gerade elf Uhr, als er von Lämmert und dem Nest mit dem gewohnten, vergnügten Wohlwollen begrüßt wurde – ehe er aber fragen durfte, hatte er lange Zeit selber zu antworten. Was er dann in kurzen Worten erfuhr, reichte freilich hin, ihn zur harmlosen Teilnahme an der ferneren Unterhaltung der Neuntöter ganz und gar untauglich zu machen. Ein früherer Kollege des Geheimen Rates Götz, der pensionierte Assessor Weitzel, wußte dem Kandidaten Unwirrsch die sichersten Mitteilungen über das Haus in der Parkstraße zu machen, und da heute kein »Lügenabend« war, so konnte sein Bericht vollkommen glaubwürdig sein.

Franziska Götz befand sich nicht mehr in dem Hause ihrer Tante, sie hatte es, wie der Assessor aus lauterster Quelle wußte, am Begräbnistage ihres Onkels verlassen oder verlassen müssen.

Wohin sie sich gewendet habe, konnte der Assessor und Neuntöter Weitzel nicht sagen. Das Haus in der Parkstraße stehe übrigens augenblicklich verschlossen, erzählte der Assessor; die Witwe des Kollegen Götz habe sich für die erste Trauerzeit mit ihrem Söhnchen zu einer alten, sehr frommen Verwandten in einen andern entlegenen Stadtteil zurückgezogen, und man murmele und munkele in der Stadt, daß sie – die Frau Geheime Rätin – sehr zerfallen mit der Welt und von nicht sehr angenehmer Laune sei. Der Assessor war im Begriff, seiner Rede noch manches zuzusetzen, aber da er von dem Fränzchen nichts weiter wußte, so war Hans nicht imstande, es anzuhören und zu schätzen. Der Kandidat Unwirrsch erregte an diesem Abend durch seinen kurzen Abschied und sein tolles Fortstürzen ein nicht geringes Aufsehen im Klub der Neuntöter. Sämtliche Vögel fragten ihn mit großem Geschrei, ob ihn die Tarantel gestochen habe oder obs in seinen Feldkessel regne, da er so mit dem Deckel laufe? Sie hätten aber noch viel lauter schreien müssen, um sich dem Kandidaten verständlich zu machen. Er rannte den Wirt Lämmert, der einen Präsentierteller mit vielen Flaschen und Gläsern ins Zimmer brachte, fast über den Haufen. Er befand sich vor der Haustür im Schnee, er rannte mit solcher Hast vorwärts, als ob er wirklich überzeugt sei, durch möglichst rasche Beinbewegung dem Schicksal den Vorsprung abgewinnen zu können. Er verlor aber nur den Atem und hielt keuchend an einer Straßenkreuzung an. Das Laufen half zu nichts, und Mitternacht war vorüber, und langsam langte Hans in seiner Grinsegasse wieder an, nachdem ihm noch von einem verwunderten Polizeimann, der von einem Straßenwinkel aus auf Nachtschwärmer, Betrunkene und Diebe vigilierte, die Versicherung gegeben worden war, daß es im Polizeigebäude ein Bureau gebe, von welchem man gegen Erlegung von zweiundeinemhalben Silbergroschen die Angabe der Adresse einer jeden in der Stadt sich aufhaltenden Person erwarten könne.

In welcher Weise der Kandidat den Rest dieser Nacht verbrachte, entzieht sich unserer Schilderung. Er warf sich auf das Bett, um wiederaufzuspringen; mit dem besten Willen konnte er keine Ordnung in seine toll gewordene Phantasie bringen, jeden Augenblick vernahm er ängstlichen, kläglichen Hilferuf, und immer wars das Fränzchen, das von aller Welt verlassen, krank, hungrig und frierend in der Dunkelheit klagte.

Endlich, endlich dämmerte der Morgen; endlich, endlich rollte der erste Milchwagen, gezogen von zwei unmutigen Hunden, um die Ecke der Grinsegasse, endlich, endlich war der Tag so weit vorgeschritten, daß Hans sein Suchen nach dem Fränzchen beginnen konnte.

Er rannte natürlich, trotz dem Berichte des Assessors Weitzel, zuerst nach der Parkstraße und zog die Glocke an der Gartentür und stand mit klopfendem Herzen und horchte. Er stand und horchte vergeblich, weder Jean noch ein anderer zeigte sich; das Haus war so stumm und tot wie die verschneite Fontäne auf dem verschneiten Grasplatz. Der Bäckerjunge erklärte, »abbestellt« zu sein, und dasselbe erklärte die Milchfrau. Der Briefträger kam mit einem Brief Kleopheas an die Tür und schob ihn achselzuckend wieder in seine Ledertasche. Hans Unwirrsch hätte viel darum gegeben, wenn er das Geschrei des grünen Papageis vernommen hätte, aber der Papagei war ebenfalls gestorben oder mit der gnädigen Frau zu der alten Kusine gezogen.

Eine frühe Droschke nahm den Kandidaten auf und führte ihn, viel zu langsam für seine qualvolle Aufregung, nach dem Polizeihause. Der Brief Kleopheas war noch an den Vater gerichtet, wie ihm ein flüchtiger Blick auf die Adresse gezeigt hatte: der Poststempel trug das Wort »Paris«. Den Kandidaten fror noch mehr, als er in dem klappernden Fuhrwerk, das ihn durch die schmutzigen Straßen trug, an diesen Brief dachte, dem sich die Tür des Hauses in der Parkstraße auch nicht geöffnet hatte, der nie mehr an seine Adresse gelangen konnte.

Wir haben das Zentralpolizeihaus bei einer andern Gelegenheit, aber bei ähnlichen Wetter geschildert und sind deshalb einer nochmaligen Beschreibung überhoben. Nach mehrfachen Fragen und längerem Umherirren in den endlosen, labyrinthischen Gängen des Gebäudes fand Hans die gewünschte Tür und fand dazu, daß er nicht der einzige war, der den Aufenthaltsort eines Nebenmenschen ausfindig machen wollte.

Sehr viele Menschen wissen nicht, wo sehr viele Menschen wohnen. Gläubiger erkundigen sich mit unendlicher Zärtlichkeit nach den Schlupfwinkeln ihrer Schuldner; junge Mädchen mit verweinten Augen erkundigen sich nach jungen Männern, die plötzlich unerklärlicherweise ihre Wohnung gewechselt haben. Abgehärmte Weiber mit oder ohne Kinder erscheinen auch; es kommen Lohndiener; es kommen Fremde – Volk aus allerlei Völkern! Tausenderlei Formen und Gestalten nimmt die Frage an, und es ist auch ganz und gar nicht selten, daß die hochlöbliche Polizei ihr Honorar einstreicht, ohne es zu verdienen. Selbst die Polizei weiß sehr oft nicht, wo sich der und der, die und die aufhalten. Es gibt viele Leute, die viel Kunst und viel Geschick drauf wenden, sich und ihren Aufenthaltsort allen polizeilichen und sonstigen Nachforschungen zu entziehen.

Eine gute Stunde stand Hans und wartete, bis die Reihe an ihn kam, dann reichte er seinen Zettel mit seiner Frage in das Gitter des Beamten und erhielt nach fünfzehn weiteren Minuten den Zettel zurück mit der Antwort unter der Frage:

»Annenstraße Nr. 34, 4 Treppen bei der Witwe Brandauer, Wäscherin.«

Das Papier war grau, das Gekritzel der Polizeipfote im höchsten Grade unkalligraphisch, aber beides gab den glänzendsten Schein in der Hand des Kandidaten; still und warm wurde es ihm ums Herz, verschwunden war alle Angst und Unruhe – da war Sicherheit, Gewißheit – da war das freie Fränzchen, das Fränzchen, erlöst von den bedrückenden Banden des Hauses in der Parkstraße!

»Annenstraße Nummer vierunddreißig, vier Treppen hoch!« Ein grimmiger Stoß seines Hintermannes weckte den Kandidaten aus seiner Verzückung; er wußte wieder, wo er sich befand, und eilte fort, da er den Zettel an dieser Stelle doch nicht küssen konnte. Wie ein Nachtwandler auf den Dächern, so fand sich Hans auf dem Wege nach der Annenstraße zurecht. Es war keine Zeit zwischen dem Augenblick, in welchem er das Gekritzel des Polizeibeamten las, und zwischen dem Augenblick, in welchem er an die Tür klopfte, hinter der Franziska Götz wohnen sollte. Ein Jahrhundert lag zwischen seinem ersten und seinem zweiten Klopfen, und eine Viertelstunde später saß er still neben dem Fränzchen, beide Hände des Fränzchens in den seinigen haltend, und – das Wichtigste war gesagt: er hatte sogar bereits das Mädchen geküßt! Die Erde stand noch, der Himmel war nicht eingefallen, aber die Sonne war auch nicht strahlend hinter dem winterlichen Gewölk hervorgebrochen, es war nicht auf der Stelle Frühling geworden, und des Fränzchens schwarzes Trauerkleid hatte sich nicht in ein lichtblaues Gewand der Freude verwandelt.

Sie hatten einander so viel zu sagen, und wenn auch das Wichtigste in den flüchtigen Augenblicken ausgesprochen werden konnte, so blieb doch viel, viel zurück, was nicht an einem Tage, in einer Woche oder einem Monat erzählt werden konnte.

Was Hans zu berichten hatte, wissen wir; wir wollen jetzt versuchen, noch zu erzählen, was dem Fränzchen geschehen war und wie es lebte, seit der Kandidat Unwirrsch das Haus des Geheimen Rates Götz verließ, und das ist um so schwieriger, da das Kind von sich selber eigentlich gar nicht sprach, sondern nur von den andern.

Die Lebendigkeit, welche Kleophea in dem Hause ihrer Eltern verbreitete, war eine unnatürliche gewesen; das Licht, welches ihr Dasein über die Umgebung ausstrahlte, war ein ungesundes, irrwischartiges gewesen. Als beides aber für immer verschwand, setzten sich Schweigen, Kälte und Dunkelheit an dem trostlosen Herde so dräuend nieder, daß der tolle Leichtsinn, all die buntschillernden, glänzenden Fehler des entflohenen Mädchens fast als Tugenden erschienen. Die frische Stimme, der leichte Fußtritt, das eilige Rauschen der seidenen Gewänder auf den Treppen und in den Gängen waren verhallt; aber der arme Vater und das Fränzchen saßen doch, horchten auf und senkten die Häupter, wenn sie irgendein anderes Geräusch für den Schritt der Verlorenen genommen hatten. Am dritten Tage nach der Flucht der Tochter trat die Mutter wieder aus ihren Gemächern hervor, und wenn sie früher noch einige bunte Zeichen weltlicher Eitelkeit an sich trug, so hatte sie solche jetzt vollständig abgelegt. Sie war ein wenig hagerer und gelblicher geworden, aber sie hatte auch ihre Seele ausgekehrt, kein Zug ihres Gesichtes bewegte sich. Ihre Stimme war ein wenig hohler, aber auch sie war von aller sündhaften Leidenschaftlichkeit gereinigt und konnte im Notfall tonlos der Welt den Anfang des Jüngsten Gerichtes und das ewige Verderben von neun Zehnteln aller Geschaffenen verkünden. Augenblicklich aber verkündigte die gnädige Frau ihrem Gemahl, ihrer Nichte und dem übrigen Hausstand nur, daß der Name ihrer Tochter nie mehr vor ihren Ohren genannt werden dürfe. Sie ließ sich von ihrem Gatten den Brief geben, den Kleophea gleich nach ihrer Flucht geschrieben hatte, und zerriß ihn vor ihrem Hausgesinde. Sie war sich keiner Schuld an der verderblichen Charakterentwicklung Kleopheas bewußt, sie konnte sich deshalb jetzt auch vollständig von ihr lossagen; der Gott, welchem sie – Aurelie von Lichtenhahn – angehörte, sah es mit Wohlgefallen. Die Mutter zürnte dem Doktor Stein lange nicht so sehr wie ihrem Kinde; und in den Zorn gegen das letztere mischte sich sogar eine gewisse Befriedigung, ein gewisser schrecklicher Triumph. Die Mutter hatte recht behalten in ihrer Antipathie; alle Demütigungen und alles Elend, die der Tochter widerfahren mochten, konnten nur das geheime Gefühl der Befriedigung erhöhen. Die Geheime Rätin konnte hier mit der Welt in einer Weise abschließen, bei der sich ein erkleckliches Guthaben ihrerseits herausstellte, und so schloß sie ab.

Auch der Vater Kleopheas zog das Fazit seines Lebens, ihm aber konnte niemand helfen, und er sich selber am wenigsten; er war bankerott geworden und leugnete es auch nicht. Viele nutzlose Arbeit hatte er in seinem mühseligen Leben gehabt, nun ging er kummervoll und hungrig dem Grabe entgegen, und sein einziger Halt war die sanfte, treue Hand des Fränzchens, die er jetzt hielt, wie sie auch der tolle Felix in seinen letzten Schmerzenstagen gehalten hatte. Das war eins der tragischen Wunder, welche auf dieser Erde geschehen, daß das Fränzchen an den Sterbebetten dieser beiden Männer saß, die so verschiedene Pfade gegangen waren, um am Ziel ihres Daseins in gleicher Weise verloren, bettelarm, mit leerer Hand und leerem Herzen, aufgegeben von sich selber und der Welt, anzulangen. Alles Licht, was in ihre letzten Stunden fiel, ging von diesem Kinde aus, es war der Engel, welcher den Dürstenden den letzten Tropfen kühlen Wassers in die Todesstunde trug, welcher den Hungernden die letzte Labung reichte. Sie hatten, ein jeder in seiner Art, so viel erstrebt, jeder hatte so viel gewinnen wollen, und als Almosen wurde ihnen das Herz dieses Kindes gegeben.

Kleophea hatte an das Fränzchen geschrieben, und Hans las den Brief. Noch sprach die alte Kleophea aus diesen flüchtigen Zeilen, aber stellenweise erschien bereits eine Gezwungenheit, eine Befangenheit in den Herzensergüssen und Schilderungen, mit welchen die frühere Kleophea nichts mehr zu tun hatte.

Das Weib des Doktors Theophile Stein erinnerte sich inmitten ihres jetzigen bewegten Lebens an manche Einzelheiten ihres frühesten, harmlosen Verkehrs mit der Kusine, daß dem Fränzchen darüber das Herz sehr schwer werden mußte. Kleophea Stein schrieb von »einsamen, herzweichen Stunden«, in denen sie sich solcher »minuties« erinnere, und dann bat sie in dem nächsten Satz das Bäschen, den Papa zu küssen und ihm zu sagen, daß sie »soviel, soviel« an ihn denke und daß sie ihn des Nachts im Traum in seiner Studierstube sehe und um ihn weine. Auf dieses folgte eine Beschreibung eines glänzenden Balles und eines Murillo im Louvre, dann kam eine Schilderung des kleinen Grafen von Paris sowie des Bürgerkönigs Louis Philipp samt seinem Regenschirm und in Verbindung damit die Frage, wie Aimé den Verlust seiner Schwester ertrage. Von der Mutter war in dem ganzen Briefe nicht die Rede, und der Doktor Stein erschien erst ganz gegen den Schluß darin. Es wurde von ihm gesagt, daß er einen großen Kreis von Bekannten und Freunden in Paris habe, daß er dadurch oft länger vom Hause ferngehalten werde, als einer jungen Frau lieb sein könne, daß sie – Kleophea – es aber begreiflich finde und glücklich sei. Noch sprach die Schreiberin von den Erfolgen des Doktors in der welschen Stadt und den Verbindungen daselbst. Sie sprach die feste Überzeugung aus, daß alle Verwirrungen sich bald durch gegenseitiges Entgegenkommen lösen würden und daß man die Hoffnung auf eine »rosige Zukunft« nie aufgeben dürfe. In einem Postskript wurde der »liebenswürdige« Herr Johannes Unwirrsch bestens gegrüßt, und es wurde hinzugefügt, daß man ihm mancherlei abzubitten habe und daß man dafür in Zukunft wohl ein ruhiges Stündchen finden werde. In sehr wehmütiger Stimmung schloß der Brief, und unter tausend und aber tausend Grüßen und Küssen wurde das Fränzchen gebeten, das »dumme, nichtsnutzige Gekritzel« zu zerreißen und in alle vier Winde zu zerstreuen, damit es ihm gehe wie allem übrigen »Gedankenhirngespinst der armen Kleophea«, das auch zerrissen, von allen vier Winden umgetrieben, durcheinanderflattere. –

Franziska hatte ebenfalls wieder einen langen Brief an die Kusine geschrieben und in demselben mit Tränen treue Nachricht von den Zuständen im Elternhause Kleopheas gegeben. Franziska Götz schrieb mit blutendem Herzen über den Vater und die Mutter, doch den Doktor Theophile konnte sie nicht erwähnen. Von der Zukunft aber schrieb das Fränzchen ebenfalls; es bat die Kusine, in keiner Not des Lebens zu vergessen, daß das Fränzchen immer da sei, um mitzufühlen und mitzuleiden, um zu trösten und womöglich zu helfen.

Diesen Brief hatte Franziska mit großem Bangen ganz verstohlen geschrieben, und längere Zeit währte es, ehe sich eine Gelegenheit fand, ihn der Post zu übergeben; denn wenngleich die Tante mit der Welt abgeschlossen hatte, so war es doch nicht leicht, etwas gegen ihren Willen zu unternehmen und auszuführen, und die Geheime Rätin Götz wollte nicht, daß jemand aus ihrem Hause mit der entflohenen Tochter Briefe wechsele. –

Das Fränzchen erzählte nicht, wie schwer ihr von der Tante das Leben gemacht worden war, aber selbst die schwächsten Andeutungen genügten dem Kandidaten. Heiß und kalt überlief es ihn, wenn er sich vorstellte, was das arme Mädchen zu erdulden hatte, während er in seiner Stube in der Grinsegasse in seinen Phantasien, mit der Pfeife im Munde, auf und ab spazierte und zwischen seinen Gedanken an das Fränzchen – an sein großes Manuskript dachte. Das Billett, das er nach Empfang des letzten Schreibens des Oheims Grünebaum an den Geheimen Rat richtete, hatte dieser nicht erhalten; Jean hatte es aufgefangen, und die gnädige Frau hielt es nicht für nötig, Gemahl und Nichte davon in Kenntnis zu setzen. Den Tod der Base Schlotterbeck und des Oheims Grünebaum hatte Franziska dagegen richtig durch die Zeitung erfahren, und Hans und Fränzchen sprachen in der Annenstraße von der guten Base und dem biedern Oheim.

»Ach, der Tod ist uns nichts Neues mehr!« sagte Fränzchen. »Beide haben wir oft den kalten Flügelschlag über und neben uns gehört, es ist mancher Platz leer geworden uns zur Seite. Es ist so traurig, o so traurig! Serrez les rangs, sagten die alten Soldaten, die in Paris meinen Vater besuchten, wenn sie hörten, daß wieder ein Kamerad gestorben sei. Es ist ein böses Kommandowort in der Schlacht, denn die kommenden Kugeln fahren immer wieder durch geschlossene Kolonnen, aber es ist doch ein gutes Wort im Leben – serrez les rangs; wir sollen die Liebe, die wir den Toten mit ins Grab geben, nicht den Lebenden entziehen –«

»Nein, nein, nein!« rief Hans, »das sollen wir nicht. Was für eine trostlose Welt würde das geben, wenn die Toten alle Liebe mit sich hinabnähmen in die Gruft! Das wird geschehen, wenn die Erdenuhr ablaufen will, und dann erst wird es recht sein, aber dann werden auch alle Sonnen und Sterne ihre leuchtenden Augen abwenden, es wird dunkel werden und kalt, immer dunkler und kälter – dann wird es recht sein, daß jeder Hunger, jedes Sehnen unter sich geht, daß alle Liebe mit in den Sarg gelegt wird. Dann dürfen auch die letzten Blumen im Garten zu den Totenkränzen gebrochen werden – es wird ja niemand übrigbleiben, der noch seine Lust an ihnen haben könnte.«

»Den Gestorbenen, welche die gute alte Frau in den Gassen sah, gehört dann die Welt, in der es kein Sehnen mehr gibt, in der alles ausgeglichen ist«, sagte Franziska. »Sonne und Sterne haben dann der neuen Welt ihr Antlitz zugewendet, und alle Nachtigallen der Erde steigen als Lerchen dort wieder aufwärts.« –

Sie sprachen nun von dem Tode des Onkels Theodor. Franziska erzählte, wie seine Kräfte täglich abnahmen, wie er aber auch täglich mehr von seinem früheren förmlichen Wesen verlor, wie er so gern von seinem elterlichen Hause, seinen beiden Brüdern sprach und wie er einen Brief an den Onkel Rudolf anfing, ihn aber nicht zu Ende bringen konnte. Franziska erzählte, wie der Onkel Theodor den Brief Kleopheas sich geben ließ und ihn bis zu seiner Todesstunde in der Brusttasche seines Frackes trug, nachdem jenes erste Schreiben, welches anlangte, als Henriette Trublet das Haus in der Parkstraße verließ, von der Gattin zerrissen worden war.

Am neunten Dezember, morgens acht Uhr, fand Jean seinen Herrn vollständig angekleidet, im schwarzen Frack und mit weißer Halsbinde, tot vor seinem Schreibtisch sitzend und erfüllte das Haus mit seinem Geschrei. Die Frau Geheime Rätin kam und war sehr gefaßt; sie sandte zu dem Hausarzt, der auch nur sagen konnte, daß der Herr Geheime Rat tot sei, und dann sandte sie zu ihrem Notar. Aimé schrie jämmerlich und schlug mit Händen und Füßen aus, als man ihm seinen Vater zum letzten Male zeigen wollte. Die Dienerschaft gehorchte zum erstenmal dem Fränzchen ohne Widerstreben – das Fräulein war von der Tante Aurelie mit der Besorgung des Begräbnisses beauftragt worden, und die Dienerschaft scheute sich vor dem Toten in ähnlicher Weise wie der arme Aimé.

Auf dem Schreibtisch, an welchem sitzend der Geheime Rat Götz starb, fand man unter seiner erkalteten Hand, die noch im Krampf die Feder hielt, einen Stempelbogen, auf welchem die Worte standen:

»Ich vergebe –«

Dann hatte die Feder in der Hand des vom Tode Getroffenen einen Strich über das Blatt gemacht; der Geheime Rat hatte nicht schreiben können, wem und was er vergebe. Seine Witwe nahm das Blatt an sich, ohne zu sagen, wie sie darüber denke. Sie, die Witwe, erklärte auch, daß es genüge, den Verwandten ihres Gatten den Todesfall durch die Zeitung anzuzeigen.

Es war schade, daß das Fränzchen das Leichenbegängnis des Geheimen Rates nicht schilderte, denn es ging im höchsten Trauerstil vor sich. Die Spitzen der Gesellschaft und der Justiz erschienen in Person dazu oder schickten doch wenigstens ihre Kutschen; aber das Fränzchen saß im Hause, in der Studierstube ihres Onkels, und weinte. Sie allein weinte wirklich; alle andern waren nur ein wenig betäubt durch den Duft vom Königsräucherpulver und Chlorkalk.

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