Frei Lesen: Der Hungerpastor

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Wilhelm Raabe

Der Hungerpastor

Fünfunddreissigstes Kapitel

eingestellt: 21.7.2007



Herbst!

Auf alle Höhen
Da wollt ich steigen,
Zu allen Tiefen
Mich niederneigen.
Das Nah und Ferne
Wollt ich erkünden,
Geheimste Wunder
Wollt ich ergründen.
Gewaltig Sehnen,
Unendlich Schweifen,
Im ewgen Streben
Ein Nieergreifen –
    Das war mein Leben.

Nun ists geschehen –
Aus allen Räumen
Hab ich gewonnen
Ein holdes Träumen.
Nun sind umschlossen
Im engsten Ringe,
Im stillsten Herzen
Weltweite Dinge.
Lichtblauer Schleier
Sank nieder leise;
In Liebesweben
Goldzauberkreise –
    Ist nun mein Leben.

Diese Reime standen mit abgebrochenen Sätzen in Prosa, Gedankenbruchstücken aller Art, griechischen und hebräischen Schriftschnitzeln und sonstigem Federwirrwarr auf ein und demselben Blatte. Dieses Blatt aber lag auf dem Schreibtische des Pastoradjunkt Unwirrsch, und der Pastoradjunkt saß davor, stützte die Stirn mit der Hand und blickte durch das offene Fenster auf die im verschleierten Sonnenlicht glitzernde See, auf der weiße Pünktchen – die Segel der Fischerboote von Grunzenow – hin und her glitten.

Herbst!

Von dem verschleierten Kirchhof waren Hans und Fränzchen am Christmorgen des vergangenen Jahres niedergestiegen in eine stille, glückliche Zeit der Arbeit und Liebe. Auf dem Haus Grunzenow veränderte sich unter dem lieblichen Wirken des jungen Mädchens das Leben sehr zu seinem Vorteile, und das wilde Volk wäre bald für sein Fräulein durch Wasser und Feuer gegangen. Die alten Herren in den Bilderrahmen drehten nicht ihre verdunkelten Visagen der Wand zu; es fehlte wenig, daß Grips jetzt behauptet hätte, sie lachten, als hingen ihre Damen nicht neben ihnen. Grips war in die Bande des Fränzchens gefallen wie jeder Bewohner des Dorfes und Kastells; es war ihm angetan, wie er sagte, und wir müssen zu seinem Lobe melden, daß er den Zauber mit grimmiger Vergnüglichkeit trug und daß er niemals mehr von seiner martialischen Gravität verlor, als wenn des Fräuleins Stimme bittend oder dankend erklang oder ihre kleine Hand winkte.

Wenn in dieser Weise die Dienerschaft dem magischen Einfluß unterlegen war, so kann sich jedermann leicht vorstellen, wie leicht das Dasein dem Obersten und dem Oheim durch das »Kind« gemacht wurde. Der Oberst von Bullau hatte wiederum sich »das so nicht gedacht«; er war glücklich und nur ein wenig eifersüchtig auf den Leutnant, der überglücklich war. Es war rührend, zu sehen und zu fühlen, wie zart die beiden alten Kriegsleute mit dem Mädchen umgingen, wie einer den andern in Sorglichkeit und Aufmerksamkeit zu überbieten trachtete und wie sich der »Liebling« wehren mußte, daß sie das Haus Grunzenow seinetwegen nicht auf eine andere Stelle trugen. Des Obersten Kopf summte und brummte von den wunderlichsten Plänen und Vorschlägen, wie man das wüste Nest zum Paradies machen könne; in jeder Nacht fiel ihm »etwas« ein, und an jedem Morgen rückte er mit »etwas« heraus, was nicht immer so höchst praktisch, angenehm und leicht ausführbar war, wie er es sich vorstellte. Grips, der künstliche Mann und »Faktotus«, hatte niemals so hoch in der Achtung seines Herrn gestanden als jetzt. Seine Talente für Malerei, Schreinerei, Gärtnerei und höhere Dekorationskunst wurden alle Augenblicke in Anspruch genommen; der Oberst von Bullau entwickelte selber Farbensinn und strich die unmöglichsten Dinge so bunt als möglich an. Noch niemals war seine Burg so sehr wie jetzt sein Haus gewesen; er vergaß nicht nur den Polnischen Bock zu Freudenstadt, er vergaß sogar die Neuntöter in ihrem Neste darüber.

Die Pelzstiefel des Leutnants Rudolf wurden auf die Rauchkammer gebracht, um sie gegen die Motten zu schützen, der Rollsessel wurde in die Polterkammer gerollt, das Podagra wanderte aus und zog zu Leuten, die seines Besuches würdiger waren. Der Leutnant marschierte frisch wie ein Jüngling umher und freute sich seines Fränzchens und seines Lebens; die heitere Gegenwart ließ ihn alle Trübnisse der Vergangenheit leicht vergessen. Er hatte seinen Bruder zugleich betrauert und wegen seiner Erlösung beglückwünscht; von Kleophea sprach er wenig, doch, wenn es geschah, nie gehässig, sondern bedauernd und mild entschuldigend. Nur wenn der Name seiner Schwägerin und Theophiles genannt wurde, fuhr er auf und schnaubte Grimm, Zorn und Verachtung; aber es wurde auf Grunzenow von der verwitweten Geheimen Rätin Götz, geborener von Lichtenhahn, sowie von dem Doktor Stein wenig gesprochen. Die Gefühle und Auslassungen des alten Herrn gegen den Verlobten seiner Nichte waren anfangs sehr wechselnder Natur und verfestigten sich erst um die Zeit des längsten Tages in gleichmäßiger Gemütlichkeit. Wenn er ein wenig eifersüchtig auf den Obersten war, so war er auf den armen Hans sehr eifersüchtig. Der lächelnde Gott, welcher die Karte, die der schlaue Alte so fein in das Spiel schob, so glänzend bedient hatte, lächelte gewiß wieder über den Seelenprozeß, dem der Leutnant Rudolf anheimfiel. Auf das grenzenloseste Erstaunen folgte die langatmige, zweifelnde Verwunderung über sich selbst und die Welt; der weisen Betrachtung, daß Geschehenes sich schwer ändern lasse, folgten die bekannten philosophischen Versuche, das Ding im rechten und besten Lichte zu betrachten. Erst um die Zeit der ersten Tag- und Nachtgleiche war der Onkel Rudolf so weit in seinen Beweisführungen gekommen wie der Oheim Grünebaum in ähnlichen Fällen, nämlich, daß er frischweg gegen sich und die Welt behaupten konnte, er habe den Kandidaten Unwirrsch nur deshalb von Kohlenau geholt und in das Haus des Bruders geführt, damit er sich in das Fränzchen und das Fränzchen sich in ihn verliebe. Indem er auf diese Weise die Leiter der Selbstüberwindung hinaufstieg, wuchsen mit den wachsenden Tagen des jungen Jahres seine Heiterkeit und Selbstzufriedenheit so sehr, daß sie am längsten Tage ebenfalls unmöglich mehr zunehmen konnten.

Herbst! – In den Versen, die zu Anfang dieses Kapitels stehen, hat Hans eigentlich alles gesagt, was wir über seine vita nuova am Strande der Ostsee berichten können; aber wenn sich auch sein Leben im »engsten Ringe« zusammengezogen hatte, so war es doch kein enges Leben. Er hatte sich so sehr nach der rechten, tüchtigen Arbeit gesehnt; nun hatte er sein gutes, volles Teil davon erlangt und tat seine Pflicht, wie ein echter Mann sie tun soll. Nachdem ein hochehrwürdiges Oberkonsistorium und die Regierung sein Adjunktentum bestätigt hatten, lud ihm der greise Tillenius lächelnd ein gut Teil seiner Amtsbürde auf den Rücken, und bereitwilliger hatte Hans Unwirrsch noch niemals eine Last auf sich genommen. Trotzdem daß er ein Mann aus dem Binnenlande war, war das seefahrende Volk mit seinen Predigten zufrieden und gewann ihn lieb. Er taufte das erste Kind und legte die erste Leiche in die Erde, er gab das erste Paar zusammen und hatte sich nur selten von Ehrn Josias Tillenius sagen zu lassen, daß weder er – Ehrn Josias – noch die Leute von Grunzenow ihn – den Herrn Pastoradjunkt – verstanden hätten.

Solch einen Frühling und solch einen Sommer wie im ersten gesegneten Jahre seines Wohnens in Grunzenow hatte er noch nicht erlebt. Alle Herrlichkeiten des Traumes reichten nicht an die Wirklichkeit dieser goldenen Tage seines Bräutigamsstandes am Ufer der Ostsee. Klar und mutig sah er in das Leben; alles Unbestimmte und Schwankende, welches Natur und Schicksal in seinen Charakter gelegt hatten, suchte er mit männlichem Willen von sich zu weisen. So viel er dem Glücke zu verdanken hatte, so viel und mehr suchte er durch treues Bemühen und ernstestes Streben zu verdienen. Der unbestimmte Hunger seiner Jugend war nun zu dem ruhigen, überlegten, still anhaltenden Streben geworden, das, in den Millionen wirkend, die Menschheit auf ihrer Bahn erhält und weiterführt. Johannes Unwirrsch hatte das Leben wohl kennengelernt im Guten wie im Bösen. Nun waren die Kreise, die er durchwandert hatte, mit allen ihren Gestalten, lieblichen wie schreckhaften, versunken; er stand nun inmitten des Ringes, den sein Wirken ausfüllen sollte. Es war ihm nicht gleichgültig, daß ihn kein Band mehr an die Heimatstadt fesselte, daß er aus der Kröppelstraße in das neue Leben nichts mit hinübernehmen konnte als die süße, wehmütige Erinnerung an die glänzende Glaskugel, welche vordem über seines Vaters Tische hing. Diese Glaskugel warf ihren Schein jetzt über das Leben, welches der Meister Anton Unwirrsch in seinen Träumen vom wahren Dasein auf Erden aufbaute; aber kein Geschlecht der Menschen reicht weit genug in die kommenden Geschlechter, daß es seine Ideale, die dann selten noch die ganzen Ideale sind, erfüllt sähe. –

Herbst!

Die Tage des Frühlings und des Sommers waren vorüber; aber die Sonne des Herbstes leuchtete so lieblich wie je, und Land und Meer freuten sich ihrer. Der Adjunktus am offenen Fenster jedoch hatte das Recht, ihrer trotz aller Holdseligkeit nicht zu achten; man schrieb den siebenten September, und morgen am achten September, einem Sonntag, sollte seine Hochzeit sein. Er hatte die Reime nicht in dem Augenblick gemacht, in welchem er sie zwischen die andern Gedankenschnitzel hinkritzelte.

Der Pastor Tillenius hatte den Hochzeitstag ausgewählt und bestimmt; der Pastor Tillenius hatte dem Onkel Rudolf und dem Oberst von Bullau die Einwilligung künstlich und diplomatisch abgelockt und sie festgehalten, als die beiden alten Herren sie zurücknehmen und »ihr Mädchen« aus ihrem Kastell nicht herausgeben wollten. Der Pastor Tillenius, gestützt auf den apostolischen Satz: Ein Bischof soll sein eines Weibes Mann, hatte das Feld gegen die beiden hartnäckigen, eigensinnigen Kriegsmänner behauptet. Es stand fest, daß das Fränzchen das Haus Grunzenow verlassen und auf die Hungerpfarre ziehen müsse; – das Fränzchen hatte ja ebenfalls seine Einwilligung dazu gegeben, und dies war im Grunde ja doch das wichtigste.

Herbst! Was war alle Wonne des Frühlings und des Sommers gegen die Seligkeit, die der Herbst zu geben versprach! Es war, als ob alle Zugvögel im Lande bleiben müßten, um die Hochzeit und die Flitterwochen mitzufeiern.

Nachdem sich Haus Grunzenow in das Unabänderliche gefunden hatte, zog es unendliches Vergnügen aus der Notwendigkeit und stürzte sich wieder mit einem Eifer, der alles hinter sich zurückließ, in die Vorbereitungen zu dem festlichen Tage. Der Oberst befand sich Tag und Nacht in einem gelinden Fieber, der Leutnant in einem ähnlichen Zustand; aber wahrhaft groß war Grips, der Mann für alles.

»Wer preist genug des Mannes kluge Hand?« Hier schlug sie einen allzu »unbegreiflichen« Hofjungen »hinter den Löffel«; dort schlug sie wohlüberlegt einen Nagel ein, um zierlich eine selbstgewundene Girlande daran aufzuhängen. Grips hatte etwas gelernt auf seinen Feldzügen.

Im Dorfe regte es sich ebenfalls. Alt und jung wollten das Ihrige dazu tun, den achten September zu einem Gedenktag in der Chronik von Grunzenow zu machen; – wochenlang vorher waren die Frauen und Mädchen in Bewegung, wochenlang vorher schlief der Küster, welcher der lieben Jugend die Hochzeitskantate einstudierte, sehr schlecht vor innerer Aufregung und allzu lebendigen Träumen von Gelingen und Glorie, von Mißlingen, Schmach und Jammer.

Ehrn Josias Tillenius verfertigte seine Hochzeitsrede, und da er die schönsten, wenn auch traurigsten Erinnerungen seines eigenen Lebens, sein ganzes, gutes, altes, volles Herz dazu gab, so geriet sie vortrefflich, ohne niedergeschrieben oder auswendig gelernt zu werden.

Am siebenten September waren alle Vorbereitungen beendet: es mangelte auf Haus Grunzenow weder an Speisen noch an Getränk; die Pfosten und Säulen waren bekränzt, die Türen standen offen, den Hochzeitsjubel herein- und die Braut herauszulassen. –

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