Herbst!
Auf alle Höhen
Da wollt ich steigen,
Zu allen Tiefen
Mich niederneigen.
Das Nah und Ferne
Wollt ich erkünden,
Geheimste Wunder
Wollt ich ergründen.
Gewaltig Sehnen,
Unendlich Schweifen,
Im ewgen Streben
Ein Nieergreifen –
Das war mein Leben.
Nun ists geschehen –
Aus allen Räumen
Hab ich gewonnen
Ein holdes Träumen.
Nun sind umschlossen
Im engsten Ringe,
Im stillsten Herzen
Weltweite Dinge.
Lichtblauer Schleier
Sank nieder leise;
In Liebesweben
Goldzauberkreise –
Ist nun mein Leben.
Diese Reime standen mit abgebrochenen Sätzen in Prosa, Gedankenbruchstücken aller Art, griechischen und hebräischen Schriftschnitzeln und sonstigem Federwirrwarr auf ein und demselben Blatte. Dieses Blatt aber
lag auf dem Schreibtische des Pastoradjunkt Unwirrsch, und der Pastoradjunkt saß davor, stützte die Stirn mit der Hand und blickte durch das offene Fenster auf die im verschleierten Sonnenlicht glitzernde See, auf der weiße Pünktchen – die Segel der Fischerboote von Grunzenow – hin und her glitten.
Herbst!
Von dem verschleierten Kirchhof waren Hans und Fränzchen am Christmorgen des vergangenen Jahres niedergestiegen in eine stille, glückliche Zeit der Arbeit und
Liebe. Auf dem Haus Grunzenow veränderte sich unter dem lieblichen Wirken des jungen Mädchens das Leben sehr zu seinem Vorteile, und das wilde Volk wäre bald für sein Fräulein durch Wasser und Feuer gegangen. Die alten Herren in den Bilderrahmen drehten nicht ihre verdunkelten Visagen der Wand zu; es fehlte wenig, daß Grips jetzt behauptet hätte, sie lachten, als hingen ihre Damen nicht neben ihnen. Grips war in die Bande des Fränzchens gefallen wie jeder Bewohner des Dorfes und
Kastells; es war ihm angetan, wie er sagte, und wir müssen zu seinem Lobe melden, daß er den Zauber mit grimmiger Vergnüglichkeit trug und daß er niemals mehr von seiner martialischen Gravität verlor, als wenn des Fräuleins Stimme bittend oder dankend erklang oder ihre kleine Hand winkte.
Wenn in dieser Weise die Dienerschaft dem magischen Einfluß unterlegen war, so kann sich jedermann leicht vorstellen, wie leicht das Dasein dem Obersten und dem Oheim durch das »Kind« gemacht wurde.
Der Oberst von Bullau hatte wiederum sich »das so nicht gedacht«; er war glücklich und nur ein wenig eifersüchtig auf den Leutnant, der überglücklich war. Es war rührend, zu sehen und zu fühlen, wie zart die beiden alten Kriegsleute mit dem Mädchen umgingen, wie einer den andern in Sorglichkeit und Aufmerksamkeit zu überbieten trachtete und wie sich der »Liebling« wehren mußte, daß sie das Haus Grunzenow seinetwegen nicht auf eine andere Stelle trugen. Des Obersten Kopf summte und brummte von
den wunderlichsten Plänen und Vorschlägen, wie man das wüste Nest zum Paradies machen könne; in jeder Nacht fiel ihm »etwas« ein, und an jedem Morgen rückte er mit »etwas« heraus, was nicht immer so höchst praktisch, angenehm und leicht ausführbar war, wie er es sich vorstellte. Grips, der künstliche Mann und »Faktotus«, hatte niemals so hoch in der Achtung seines Herrn gestanden als jetzt. Seine Talente für Malerei, Schreinerei, Gärtnerei und höhere Dekorationskunst wurden alle Augenblicke in
Anspruch genommen; der Oberst von Bullau entwickelte selber Farbensinn und strich die unmöglichsten Dinge so bunt als möglich an. Noch niemals war seine Burg so sehr wie jetzt sein Haus gewesen; er vergaß nicht nur den Polnischen Bock zu Freudenstadt, er vergaß sogar die Neuntöter in ihrem Neste darüber.
Die Pelzstiefel des Leutnants Rudolf wurden auf die Rauchkammer gebracht, um sie gegen die Motten zu schützen, der Rollsessel wurde in die Polterkammer gerollt, das Podagra wanderte
aus und zog zu Leuten, die seines Besuches würdiger waren. Der Leutnant marschierte frisch wie ein Jüngling umher und freute sich seines Fränzchens und seines Lebens; die heitere Gegenwart ließ ihn alle Trübnisse der Vergangenheit leicht vergessen. Er hatte seinen Bruder zugleich betrauert und wegen seiner Erlösung beglückwünscht; von Kleophea sprach er wenig, doch, wenn es geschah, nie gehässig, sondern bedauernd und mild entschuldigend. Nur wenn der Name seiner Schwägerin und Theophiles
genannt wurde, fuhr er auf und schnaubte Grimm, Zorn und Verachtung; aber es wurde auf Grunzenow von der verwitweten Geheimen Rätin Götz, geborener von Lichtenhahn, sowie von dem Doktor Stein wenig gesprochen. Die Gefühle und Auslassungen des alten Herrn gegen den Verlobten seiner Nichte waren anfangs sehr wechselnder Natur und verfestigten sich erst um die Zeit des längsten Tages in gleichmäßiger Gemütlichkeit. Wenn er ein wenig eifersüchtig auf den Obersten war, so war er auf den armen Hans
sehr eifersüchtig. Der lächelnde Gott, welcher die Karte, die der schlaue Alte so fein in das Spiel schob, so glänzend bedient hatte, lächelte gewiß wieder über den Seelenprozeß, dem der Leutnant Rudolf anheimfiel. Auf das grenzenloseste Erstaunen folgte die langatmige, zweifelnde Verwunderung über sich selbst und die Welt; der weisen Betrachtung, daß Geschehenes sich schwer ändern lasse, folgten die bekannten philosophischen Versuche, das Ding im rechten und besten Lichte zu betrachten. Erst um
die Zeit der ersten Tag- und Nachtgleiche war der Onkel Rudolf so weit in seinen Beweisführungen gekommen wie der Oheim Grünebaum in ähnlichen Fällen, nämlich, daß er frischweg gegen sich und die Welt behaupten konnte, er habe den Kandidaten Unwirrsch nur deshalb von Kohlenau geholt und in das Haus des Bruders geführt, damit er sich in das Fränzchen und das Fränzchen sich in ihn verliebe. Indem er auf diese Weise die Leiter der Selbstüberwindung hinaufstieg, wuchsen mit den wachsenden Tagen des
jungen Jahres seine Heiterkeit und Selbstzufriedenheit so sehr, daß sie am längsten Tage ebenfalls unmöglich mehr zunehmen konnten.
Herbst! – In den Versen, die zu Anfang dieses Kapitels stehen, hat Hans eigentlich alles gesagt, was wir über seine vita nuova am Strande der Ostsee berichten können; aber wenn sich auch sein Leben im »engsten Ringe« zusammengezogen hatte, so war es doch kein enges Leben. Er hatte sich so sehr nach der rechten, tüchtigen Arbeit gesehnt; nun hatte er
sein gutes, volles Teil davon erlangt und tat seine Pflicht, wie ein echter Mann sie tun soll. Nachdem ein hochehrwürdiges Oberkonsistorium und die Regierung sein Adjunktentum bestätigt hatten, lud ihm der greise Tillenius lächelnd ein gut Teil seiner Amtsbürde auf den Rücken, und bereitwilliger hatte Hans Unwirrsch noch niemals eine Last auf sich genommen. Trotzdem daß er ein Mann aus dem Binnenlande war, war das seefahrende Volk mit seinen Predigten zufrieden und gewann ihn lieb. Er taufte das
erste Kind und legte die erste Leiche in die Erde, er gab das erste Paar zusammen und hatte sich nur selten von Ehrn Josias Tillenius sagen zu lassen, daß weder er – Ehrn Josias – noch die Leute von Grunzenow ihn – den Herrn Pastoradjunkt – verstanden hätten.
Solch einen Frühling und solch einen Sommer wie im ersten gesegneten Jahre seines Wohnens in Grunzenow hatte er noch nicht erlebt. Alle Herrlichkeiten des Traumes reichten nicht an die Wirklichkeit dieser
goldenen Tage seines Bräutigamsstandes am Ufer der Ostsee. Klar und mutig sah er in das Leben; alles Unbestimmte und Schwankende, welches Natur und Schicksal in seinen Charakter gelegt hatten, suchte er mit männlichem Willen von sich zu weisen. So viel er dem Glücke zu verdanken hatte, so viel und mehr suchte er durch treues Bemühen und ernstestes Streben zu verdienen. Der unbestimmte Hunger seiner Jugend war nun zu dem ruhigen, überlegten, still anhaltenden Streben geworden, das, in den
Millionen wirkend, die Menschheit auf ihrer Bahn erhält und weiterführt. Johannes Unwirrsch hatte das Leben wohl kennengelernt im Guten wie im Bösen. Nun waren die Kreise, die er durchwandert hatte, mit allen ihren Gestalten, lieblichen wie schreckhaften, versunken; er stand nun inmitten des Ringes, den sein Wirken ausfüllen sollte. Es war ihm nicht gleichgültig, daß ihn kein Band mehr an die Heimatstadt fesselte, daß er aus der Kröppelstraße in das neue Leben nichts mit hinübernehmen konnte als
die süße, wehmütige Erinnerung an die glänzende Glaskugel, welche vordem über seines Vaters Tische hing. Diese Glaskugel warf ihren Schein jetzt über das Leben, welches der Meister Anton Unwirrsch in seinen Träumen vom wahren Dasein auf Erden aufbaute; aber kein Geschlecht der Menschen reicht weit genug in die kommenden Geschlechter, daß es seine Ideale, die dann selten noch die ganzen Ideale sind, erfüllt sähe. –
Herbst!
Die Tage des Frühlings und des Sommers waren
vorüber; aber die Sonne des Herbstes leuchtete so lieblich wie je, und Land und Meer freuten sich ihrer. Der Adjunktus am offenen Fenster jedoch hatte das Recht, ihrer trotz aller Holdseligkeit nicht zu achten; man schrieb den siebenten September, und morgen am achten September, einem Sonntag, sollte seine Hochzeit sein. Er hatte die Reime nicht in dem Augenblick gemacht, in welchem er sie zwischen die andern Gedankenschnitzel hinkritzelte.
Der Pastor Tillenius hatte den Hochzeitstag
ausgewählt und bestimmt; der Pastor Tillenius hatte dem Onkel Rudolf und dem Oberst von Bullau die Einwilligung künstlich und diplomatisch abgelockt und sie festgehalten, als die beiden alten Herren sie zurücknehmen und »ihr Mädchen« aus ihrem Kastell nicht herausgeben wollten. Der Pastor Tillenius, gestützt auf den apostolischen Satz: Ein Bischof soll sein eines Weibes Mann, hatte das Feld gegen die beiden hartnäckigen, eigensinnigen Kriegsmänner behauptet. Es stand fest, daß das Fränzchen das
Haus Grunzenow verlassen und auf die Hungerpfarre ziehen müsse; – das Fränzchen hatte ja ebenfalls seine Einwilligung dazu gegeben, und dies war im Grunde ja doch das wichtigste.
Herbst! Was war alle Wonne des Frühlings und des Sommers gegen die Seligkeit, die der Herbst zu geben versprach! Es war, als ob alle Zugvögel im Lande bleiben müßten, um die Hochzeit und die Flitterwochen mitzufeiern.
Nachdem sich Haus Grunzenow in das Unabänderliche gefunden hatte, zog es
unendliches Vergnügen aus der Notwendigkeit und stürzte sich wieder mit einem Eifer, der alles hinter sich zurückließ, in die Vorbereitungen zu dem festlichen Tage. Der Oberst befand sich Tag und Nacht in einem gelinden Fieber, der Leutnant in einem ähnlichen Zustand; aber wahrhaft groß war Grips, der Mann für alles.
»Wer preist genug des Mannes kluge Hand?« Hier schlug sie einen allzu »unbegreiflichen« Hofjungen »hinter den Löffel«; dort schlug sie wohlüberlegt einen Nagel ein, um
zierlich eine selbstgewundene Girlande daran aufzuhängen. Grips hatte etwas gelernt auf seinen Feldzügen.
Im Dorfe regte es sich ebenfalls. Alt und jung wollten das Ihrige dazu tun, den achten September zu einem Gedenktag in der Chronik von Grunzenow zu machen; – wochenlang vorher waren die Frauen und Mädchen in Bewegung, wochenlang vorher schlief der Küster, welcher der lieben Jugend die Hochzeitskantate einstudierte, sehr schlecht vor innerer Aufregung und allzu lebendigen
Träumen von Gelingen und Glorie, von Mißlingen, Schmach und Jammer.
Ehrn Josias Tillenius verfertigte seine Hochzeitsrede, und da er die schönsten, wenn auch traurigsten Erinnerungen seines eigenen Lebens, sein ganzes, gutes, altes, volles Herz dazu gab, so geriet sie vortrefflich, ohne niedergeschrieben oder auswendig gelernt zu werden.
Am siebenten September waren alle Vorbereitungen beendet: es mangelte auf Haus Grunzenow weder an Speisen noch an Getränk; die Pfosten und
Säulen waren bekränzt, die Türen standen offen, den Hochzeitsjubel herein- und die Braut herauszulassen. –
»Lichtblauer Schleier
Sank nieder leise;
In Liebesweben
Goldzauberkreise –
Ist nun mein Leben«,
hatte der Bräutigam in seinem Studierstübchen auf der Hungerpfarre auf das bekritzelte Blatt geschrieben. Es war alles bereit, und das Fränzchen legte leise dem Verlobten die Hand auf die Schulter, sah lächelnd auf das Papier vor ihm und führte ihn aus dem Hause zu ihrem Lieblingsplätzchen am Ufer der See.
Das war eine Höhe, wo zwischen Gestein und leichtbeweglichem Dünensand niederes Gesträuch und einige vom Wind wunderlich zerrissene höhere Bäume in mühseliger Zähigkeit ihr Dasein dem harten Boden, dem wehenden Sand und den Stürmen abkämpften. Ein einsames Fleckchen, wo sich gut mit Land und Meer, mit den Wolken und Möwen, mit den eigensten Gedanken Zwiegespräch halten ließ. Hier hatte Grips dem Fräulein einen einfachen Sitz gebaut, und hier saßen am Abend vor ihrer Hochzeit Hans Unwirrsch und
Franziska Götz, sprachen von ihrem eigenen Schicksal und von Kleophea und sahen die Sonne untergehen.
Sie sprachen viel von Kleophea, während sie auf das Meer blickten, über welchem sich nach dem schönen, glänzenden Tage die Nebel zusammenzogen. Die arme Kleophea war verschollen; auf keinen der Briefe, die Fränzchen im Laufe des Jahres geschrieben hatte, war eine Antwort gekommen. Die Verlobten wußten nichts von ihr – es war so seltsam, daß sie gerade an diesem Abend immer von
neuem ihr Bild vor sich auf tauchen sahen, daß ihre Gedanken nicht in dem eigenen Glück haften wollten. Hans und Franziska wußten nicht, daß das Schiff, welches Kleophea Stein trug, hinter dem grauen Nebel schwebe, der sich über die Wellen legte! Sie wußten nicht, daß Kleophea auf dem Meere fuhr, während Ehrn Josias Tillenius am folgenden Tage ihre Hände für Zeit und Ewigkeit ineinanderlegte! –
Am achten September wollte die Sonne den ganzen Tag über nicht hervorkommen. Sie war,
wie die Seeleute sagten, am Abend vorher in einem Sack untergegangen, und das bedeutete trübes Wetter für die nächste Zeit. Es wurde ein schwüler Tag, an welchem sich kein Lüftchen regte, an welchem dasselbe traurige Grau Himmel und Erde überzog, an welchem man sich nach einem tüchtigen Regenschauer hätte sehnen mögen, wenn es nicht Hochzeitstag gewesen wäre.
Es regnete nicht in des Fränzchens Brautkrone, es regnete nicht in die treffliche Rede des Pastors Tillenius, es regnete nicht
in die grimmige Rührung des Onkels Rudolf und des Obersten von Bullau, es regnete auch nicht in den Jubellärm des Hauses und Dorfes Grunzenow. Johannes Unwirrsch und Franziska Götz gaben sich die Hände, wie sie sich die Herzen gegeben hatten; nach der Traurede des Pastors hielt der Leutnant Götz eine Tischrede, und auf den Orgelklang und die Kantate des Küsters folgte lustig die Tanzmusik von Freudenstadt, welche der Oberst von Bullau auf einem Leiterwagen hatte holen lassen. In seinem Kastell
bewirtete der Oberst das ganze Dorf, und Grips als Majordomus und arbiter elegantiarum zeigte sich nicht als das, was er war, sondern als das, was er sein konnte: liebenswürdig, zuvorkommend, zärtlich gegen das schöne, höflich gegen das starke Geschlecht.
In dem großen Saale wurde getanzt, und unendlicher Beifall wurde laut, als der Oberst mit der jungen Frau den Ball eröffnete. Es war ein Vergnügen, jetzt dem Leutnant in die strahlenden Augen zu blicken; es war ein Vergnügen, den
Pastor Josias Tillenius im Gespräch mit der Mutter Jörensen zu beobachten; und ein Hauptvergnügen wars zu sehen, wie der Pastoradjunkt und Bräutigam Hans Unwirrsch der schwindelerregenden Göttin Terpsichore verfiel und, um einen Ausdruck der anwesenden befahrenen Seeleute zu gebrauchen, durch den Saal »schlingerte«. Die ältesten Leute, selbst die Urgroßmutter Margarete Jörensen, wußten sich eines solchen Tages nicht zu erinnern; die Lust stieg von Augenblick zu Augenblick und riß alt und jung
fort; halb betäubt blickte das Brautpaar, das sich mit Mühe in einen stillen Winkel gerettet hatte, auf das Getümmel. –
»Feuer auf See!« Wer rief das? Wer hatte das gerufen?
»Feuer auf See! Feuer auf See!« – Wie ein elektrischer Schlag fuhr es durch das Fest. Die Musik brach ab, die Tanzenden hielten an wie gebannt; die Zechenden sprangen von den Sitzen empor, und dem alten, einarmigen Hochbootsmann Steffen Groote blieb das malaiische Lied, das er eben einem
kleineren Zirkel von Kennern zum besten gab, zur Hälfte in der Kehle stecken.
Auch Hans und Fränzchen waren emporgesprungen, obgleich sie anfangs den Grund des panischen Schreckens nicht begriffen. Der Oberst drängte sich durch den Saal nach der Tür, und ihm nachstürzte der größte Teil seiner männlichen Gäste. Die Zurückbleibenden liefen aufgeregt durcheinander oder zu den Fenstern, welche auf das Meer gingen. Franziska faßte den Arm des Pastors Tillenius:
»O mein Gott, was
ist denn? Was ist geschehen?«
»Dort, dort! Wahrhaftig! O Gott, erbarme dich ihrer!« rief der Greis, der das Fenster aufgerissen hatte und auf die See deutete. »Ein Schiff im Brande – dort, dort!«
Die Blicke des jungen Paares folgten der zitternden Hand; im tödlichsten Schrecken stockte das Herzblut –
»Dort, dort!«
Es war halbe Abenddämmerung geworden, und der Übergang aus dem grauen Tage war so unmerklich geschehen, daß keiner der
fröhlichen Hochzeitsleute darauf geachtet hatte. Noch immer bewegte kein Luftzug den Dunst, der über Land und Meer lag und den Horizont vollständig verschleierte; nur die Bewohner des Strandes konnten wissen, was seewärts der rote Schein bedeutete; den beiden Kindern des Binnenlandes aber mußte bei dem unbekannten Schrecknis das Herz um so wilder schlagen.
Ein brennend Schiff! Hunderte von Menschen in der gräßlichsten Todesnot! Die Sinne verwirrten sich bei dem Gedanken, bei den
hundert furchtbaren Bildern, die sich durch das Gehirn drängten.
Das Haus Grunzenow wurde leer von seinen Gästen; auch die Weiber stürzten durch die Gänge und eilten nach dem Strande hinunter! Als Ehrn Josias Tillenius, Hans und Fränzchen an dem Landungsplatz der Boote anlangten, fanden sie die Fischer sowie den Oberst von Bullau, den Leutnant und die Hofleute in harter Arbeit beschäftigt, alles zur Abfahrt fertigzumachen, während die Frauen in fieberhafter Aufregung
durcheinanderliefen und -schrien und nach dem Schein in Nordwest winkten und deuteten. Unter die Männer mischte sich Hans Unwirrsch und zog und schob mit den andern; die Weiber suchte der Pastor zur Vernunft oder doch wenigstens zur Ruhe zu bringen, wobei ihm Franziska nach besten Kräften half. Zur glücklichsten Stunde entfaltete der Wind vom Süden, ein wahrer Engel Gottes, seine Schwingen und griff in die Segel der Boote von Grunzenow; nur die ältesten Männer, die Frauen und die Kinder
blieben am Ufer zurück, während die jüngern Männer hilfebringend ausfuhren. In dem ersten Boot, welches vom Strande sich losmachte, befanden sich der Oberst und der Pastoradjunkt; der Leutnant Götz war bis zum Tode erschöpft hingesunken, und seine Nichte kniete neben ihm und hielt sein weißes Haupt im Schoß; – das furchtbare Leuchten in der Ferne aber schien deutlicher und deutlicher.
»Es ist ein Dampfer, sie könnten sonst nicht so gegen den Wind arbeiten!« riefen einige der
alten Seeleute, die zurückbleiben mußten.
»Sie wollen den Strand anlaufen!« meinte ein anderer.
Allerlei Vermutungen über den Kurs des Schiffes wurden angestellt. Die einen hielten es für ein Stettiner Schiff auf dem Wege nach Stockholm, aber dagegen erhoben sich viele Einwendungen. Andere meinten, es sei das Petersburger Paketboot auf der Fahrt von Lübeck nach Kronstadt. Dieser Ansicht fielen die meisten und unter ihnen der Pastor Tillenius bei.
Die Boote von
Grunzenow waren längst in der zunehmenden Dunkelheit verschwunden. Man schleppte Brennmaterial am Strande zusammen und zündete ein mächtiges Feuer an und traf sowohl am Ufer wie in den Hütten andere Vorbereitungen für den Fall, daß das Volk des brennenden Schiffes von den Männern von Grunzenow heimgebracht werde.
»Gott segne dich, mein Kind, mein ruhiges Herz«, sagte Ehrn Josias, dem Fränzchen die Hand drückend, »dein Hochzeitstag geht bös zu Ende, aber du bist recht zur Frau eines
Fischerpastors geschaffen. Du trittst dein Amt in Ehren an; Gott segne dich für ein langes, hilfreiches, tapferes Leben!«
Der Leutnant Götz saß auf einem umgestürzten Kahn; die alte Plage meldete sich wieder, er hielt den Fuß in beiden Händen und biß die Zähne zusammen vor Schmerz.
»Jaja, Alter«, rief er. »Da sitzen wir Krüppel im Sande und halten Maulaffen feil. Nimm mich in den Mantel, Fränzel, trag mich nach Haus und koch mir ein Süppchen! Sapperment, und Bullau ist zwei
Jahre älter als ich!«
Ein Schrei der Menge unterbrach die kläglichen Betrachtungen des Leutnants. Der Feuerschein auf dem Meere verlor ziemlich schnell an Helligkeit und erlosch plötzlich ganz. Ein tiefes Schweigen folgte auf das schreckhafte Rufen; die Bemerkungen, die jetzt noch gemacht wurden, geschahen im leisesten Flüsterton. Es war, als ob niemand mehr laut zu atmen wage.
»Sie sind gerettet oder – verloren!« sagte endlich der alte Pastor, nahm das Käppchen ab
und faltete die Hände. Er sprach das Gebet für die Schiffbrüchigen, und Männer, Weiber und Kinder beteten inbrünstig mit; die Väter der betenden Greise aber hatten noch das Strandrecht in seiner ganzen Scheußlichkeit für Recht erkannt und ausgeübt.
Eine tödlich bange Stunde verfloß, dann tauchten wieder Lichter in der Finsternis seewärts auf. Es waren die Fackeln der heimkehrenden Boote, und nun schrie wieder alles auf, was noch der Stimme irgendwie mächtig war. Nach einer halben
Stunde peinlichster Erwartung lief der erste übervolle Kahn an den Landungsplatz. –
»Rettung, Rettung! Sauvé, sauvé!« schallte es durcheinander in deutscher und französischer Sprache. In halb wahnsinniger Entzückung sanken die ersten der Geretteten nieder, küßten unter krampfhaftem Lachen und Weinen den festen Boden der Erde, umarmten und küßten die Leute von Grunzenow, die sich geschäftig, alle mögliche Stärkung und Hilfe bietend, an sie drängten.
Der Oberst von
Bullau und der Pastoradjunkt befanden sich nicht in diesem ersten Boot; man vernahm aber jetzt, daß das verbrannte Schiff die Adelaide von Havre de Grace sei, welche eine Ladung französischer Weine und einige Passagiere nach Petersburg führen sollte. Die Aufregung war jedoch noch zu groß, um über die Einzelheiten des Brandes Näheres zu erfragen und zu erfahren.
Vierundsechzig unglückliche, zum Teil verwundete Menschen hatten die Grunzenower an das Land gebracht; es fehlte nur noch der
letzte Fischerkahn mit dem Oberst und Hans Unwirrsch.
»Sie bringen den Kapitän und die Frauen«, lautete die Antwort auf die ängstlichen Fragen des Fränzchens. »Sie müssen gleich dasein; es ist ihnen nichts passiert.«
Franziska Unwirrsch drückte die Hand auf das Herz und wandte sich wieder zu ihrem Amt zurück. Sie mußte die Dolmetscherin zwischen der französischen Schiffsmannschaft und dem Dorfe Grunzenow sein. Gleich einem hilfe- und trostbringenden Engel schritt sie in dem
wirren, wilden Getümmel einher; der Onkel Rudolf, der sein Französisch ebenfalls noch nicht gänzlich vergessen hatte, hatte den Kopf viel mehr verloren als seine Nichte.
Eben kniete sie neben einem bärtigen, halbnackten provenzalischen Matrosen, welcher beide Füße gebrochen hatte, als ein erneutes Rufen die Ankunft des letzten Kahnes ankündete. Der Provenzale hielt in seinem Schmerz ihre Hände so fest, daß sie sich nicht losmachen konnte, wenn sie es auch gewollt hätte. Sie konnte
sich nicht einmal nach ihrem Gatten umwenden; aber zwischen den Trostesworten, welche sie zu dem armen Verwundeten sprach, drängten sich doch all ihre Gedanken nach dem Landungsplatze, wo es plötzlich still geworden war.
Sie horchte mit ganzer Seele, als eine Bewegung unter das Volk kam. Eine helle Frauenstimme rief mit fremdartigem Akzent:
»Wo ist sie? O ciel, wo ist sie?«
Der Provenzale ließ die barmherzige, milde Hand, die er bis jetzt so fest gehalten hatte,
frei; – ein Weib warf sich neben dem Fränzchen auf die Knie, faßte sie wild um den Leib, küßte ihr Kleid, ihre Hand, schluchzte und schrie. Der brennende Holzstoß und die Fackeln warfen ihr flackernd Licht auf die aufgeregte Fremde; auch Hans beugte sich zu der Gattin herab -– es war ein Traum, nur ein Traum! – Wie kam Henriette Trublet an den Strand von Grunzenow?
»Sie ists, sie ists! O alle Heiligen! O Mademoiselle! O Madame! Ma mignonne, gesegnet sei das süße
Gesicht! Gelobt sei Gott! O Wunder! Wunder, sie ists!«
»Henriette! Henriette Trublet!« murmelte das Fränzchen, mit starren, zweifelnden Augen auf die Französin sehend.
»Jaja, la pauvre Henriette und die andere, die andere!«
Hans Unwirrsch hielt seine Frau im Arme und zog ihr Haupt an seine Brust:
»O Liebe, Liebe, wen haben wir mitgebracht an das Land, aus dem Feuer und von der wilden See?!«
Er führte sie sanft zu dem Ufer hinab; sie zitterte
heftig; sprachlos schwankte sie zwischen dem Gatten und dem französischen Mädchen durch das einheimische und fremde Volk, das ihr ehrerbietig Platz machte.
Auf einem Steine saß der Kapitän der Adelaide und stützte den Kopf mit beiden Händen. Neben ihm stand, wie auf einem seiner Schlachtfelder, der Oberst von Bullau. Der Leutnant Rudolf Götz aber kniete im Sande und hielt in seinem Schoß das Haupt eines bewußtlosen Weibes –
»Kleophea! Kleophea!« rief Franziska, mit
gefalteten Händen neben der Ohnmächtigen niedersinkend.
»Ja, Kleophea!« rief der Leutnant, und mit den Zähnen knirschend setzte er hinzu:
»Und sie ist allein! Gottlob!«