Frei Lesen: Der Hungerpastor

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Wilhelm Raabe

Der Hungerpastor

Viertes Kapitel

eingestellt: 21.7.2007



Auf malerische Mittelalterlichkeit machte die Kröppelstraße keinen Anspruch. Sämtliche Häuser darin waren nach einem großen Brande, der während des Siebenjährigen Krieges stattgefunden hatte, mit möglichster Schnelligkeit und mit möglichst wenigen Kosten wiederaufgebaut worden. Jetzt war ein Teil der Gebäude bereits wieder so baufällig, daß ein neuer Brand vonnöten schien, um größeres Unheil durch ganz unmotiviertes Zusammenstürzen über Nacht bei vollständiger Windstille ohne Erdbeben oder dergleichen Anstößigkeiten zu verhüten. Samuel Freudenstein bewohnte mit seinem Sohn und einer uralten Haushälterin das wackligste Haus der ganzen Reihe, und wenn alle anderen Besitzer allerlei mehr oder weniger schwache Anstrengungen machten, ihr Eigentum vor dem gänzlichen Verfall zu sichern, so tat der israelitische Handelsmann durchaus nichts zur Erhaltung seines Hauses und noch weniger zur Verschönerung desselben. Seit dem Anfang des Jahrhunderts waren die Mauern nicht getüncht, seit dem Hubertusburger Frieden schienen die Fenster nicht geputzt worden zu sein. Auf dem Dach wuchs Moos und allerlei Krautwerk; es hatte sich mehr als ein Ziegel abgelöst und war durch keinen anderen ersetzt worden. Die Baupolizei war schlecht in Neustadt, aber Samuel Freudenstein verlangte gar keine bessere.

Eigentliche Kellerwohnungen und -läden gab es in Neustadt nicht, die Stadt war dazu nicht überfüllt genug. Der ärmere Teil der Bevölkerung wurde weder zu hoch hinauf- noch zu tief hinabgedrängt. Das einzige Lokal, welches jenen troglodytischen Einrichtungen größerer Städte ähnelte und welches somit dem Geschmacke Freudensteins entsprach, hatte dieser bei seiner Ansässigmachung in Neustadt richtig gefunden, und nach seinem Geschmack hatte er sich darin eingerichtet.

Dem durch die Kröppelstraße Wandelnden machte sich der Laden des Trödlers glänzend durch eine vor der Tür aufgehängte Hoflakaienlivree des Königs Hieronymus von Westfalen bemerklich. Dieser bunte Anzug diente besser als alles andere als Aushängeschild eines Trödelladens, und ein vorzüglicheres Symbolum dafür als dieses Hausratstück des Trödelkönigreichs Westphalie war schwerlich zu finden. Es war niemand in der Stadt, der diese Livree nicht kannte; und Leute, welche sie als Kinder angestaunt hatten, mußten sich ihrer noch im späten Greisenalter erinnern.

Dem Lakaien gegenüber hing am anderen Türpfosten eine schadhafte Eierkuchenpfanne, und zwischen beiden gingen die Kunden ein und aus, brachten die verschiedenartigsten Gegenstände oder schleppten die verschiedenartigsten Gegenstände fort. Das Schaufenster gab nur einen schwachen Begriff von dem, was der Laden in seinem Innern enthielt: Damenhüte und Herrenhüte, Schulbücher, Bündel verrosteter Schlüssel, staubige Rokokogläser und Schüsseln, ein Fächer, eine Standuhr, desolate Porzellanfiguren, Kinderpuppen, ein Zettel mit der Inschrift: Hier werden die höchsten Preise für Lumpen aller Art gezahlt; – ein anderer Zettel mit der Inschrift: Allerhöchste Preise für Knochen, zerbrochenes Glas und Eisen; – ein dritter Zettel mit den verlockenden Worten: Einkauf von Gold, Silber, Juwelen und getragenen Kleidungsstücken; – – viel enthielt das Schaufenster und doch sehr wenig im Vergleich zu dem Laden selbst.

Wenn man über die Schwelle getreten und die drei Stufen hinabgestolpert war, geriet man in eine Dämmerung, in welcher man anfangs keinen Gegenstand von dem anderen unterschied, und in eine Atmosphäre, welche ebenfalls aus mancherlei ununterscheidbaren Düften zusammengesetzt war. Nur ganz allmählich gewöhnten sich Auge und Nase an die Lokalitäten; nur ganz allmählich erkannte man, daß der Mensch hier alles loswerden konnte, was er nicht gebrauchte oder nicht länger gebrauchte, und daß er hier vieles fand, was er gebrauchte. Ein Gegenstand mochte durch noch so viele Hände gegangen sein, noch so viele Schicksale in auf- und absteigender Linie gehabt haben, Samuel Freudenstein brachte ihn doch im gegebenen Augenblick in Bewegung und an den rechten Mann. Er konnte dem ältesten Plunder täuschend den Anschein der Neuheit geben, und seine Ansichten über die Dauer im Wechsel wären höchst belehrend und anziehend für jeden Philosophen gewesen. Wie ein Alchimist und Zauberer waltete er aber auch in seinem dämmerigen Reich, und seine Erscheinung weckte nicht das Zutrauen, welches dem Handelsmann so nützlich ist.

Samuel Freudenstein war ein Sechziger, der wenig auf äußere Eleganz hielt und der allein imstande gewesen wäre, den Hut des Armenlehrers Silberlöffel für eine höchst anständige Kopfbedeckung zu halten. Er war groß, doch ging er sehr gebückt und schien an einem ewigen Frost zu leiden. Die Art, wie er seine schlotternden Glieder in seinem zerlumpten Schlafrock verbarg, konnte in den Hundstagen einem eine Gänsehaut hervorbringen. Der Mann war ein fortwährendes Zähneklappern und ein Greuel für jeden, der etwas auf ein wohlgewaschenes Gesicht und reinlich beschnittene Nägel gab. Daß er sich stets genügend rasiert habe, konnte man ebenfalls nicht behaupten, und daß er einst ein Weib gefunden hatte, und zwar ein sehr hübsches und sehr reinliches, das glaubten nicht alle, welche mit der Tatsache bekannt gemacht wurden. Es war aber doch so, und das Weib hatte ihn sogar geliebt und hatte ihn höchst ungern allein gelassen in der Welt.

Nicht immer hatte Samuel in der Dunkelheit seines Ladens in Neustadt gesessen; er hatte mehr von der Welt gesehen als sämtliche andere Neustädter zusammengenommen.

Geboren war er in jener angenehmen Gegend, wo Katze und Hund sich gute Nacht sagen und wo Russen, Polacken und Türken einander seit undenklichen Zeiten in den Haaren liegen. Gehandelt hatte Samuel bis hinauf nach Warschau und Petersburg und bis hinunter nach Konstantinopel. Im Jahre 1799 zog er mit Suwarow nach Italien und machte gute Geschäfte, wäre aber beinahe von dem alten Italinsky gehängt und von Massena füsiliert worden. Als vorsichtiger Mann blieb er deshalb an der nächsten Ecke zurück und ließ die kriegführenden Parteien allein weitermarschieren. Er ging nach Wien, und als ihm das Glück dort nicht wohlwollte, nach Prag, wo er in der Jüdenstadt sich sehr behaglich fühlte und wo er jedenfalls sich für immer festgesetzt hätte, wenn nicht die große Konkurrenz gewesen wäre. Er handelte um diese Zeit mit Rauchwaren und machte ein ziemlich bedeutendes Geschäft in Füchsen von allen Farben, Mardern und dergleichen Pelztieren. Als er zum erstenmal zur Messe nach Leipzig kam, glaubte er sich gerade mitten in Abrahams Schoß setzen zu können, aber er setzte sich nebenzu und verlor in einer allzu gewagten Spekulation fast sein sämtliches Vermögen.

Die Zeiten waren für jedermann hart und wurden immer härter, aber Samuel Freudenstein gehörte zu den Leuten, die jeder Windstoß nach Belieben dreht und wendet, und das kann unter Umständen trotz allem, was man dagegen sagen mag, ein großes Glück sein. Er verstand zu lavieren; und durch alle Gefahren, alles Kriegswetter, Krachen und Poltern rettete er sich mit seinem Päcklein, zog im Sommer des Jahres achtzehnhundertundsechs durch das Rosentor zu Neustadt ein und wurde als Jude nach damaligem löblichem Gebrauch gleich dem eingetriebenen Schlachtvieh verzollt. Nach dieser lobwürdigen Gewohnheit konnten Zettel auf irgendeinem Steueramt in jeder beliebigen deutschen Stadt abgeliefert werden, auf welchen zu lesen stand:



»Heute am –– Januar 178– verzollt und versteuert am Kreuztor:

  1. drei Rinder,
  2. vierzehn Schweine,
  3. zehn Kälber,
  4. ein Jüd, nennt sich Moses Mendelssohn aus Berlin.«


Die Schlacht bei Jena, welche so manche Niederträchtigkeit, so manchen Unsinn über den Haufen warf, machte auch diesem Skandal ein Ende, aber Anno fünfzehn hätte mancher liebende Landesvater die gute, alte Sitte gern wiedereingeführt.

In Neustadt lud Samuel Freudenstein sein Bündel bei einem Glaubensgenossen ab und präsentierte demselben einen Wechsel, der sein ganzes damaliges Vermögen darstellte. Er war des umherschweifenden Lebens überdrüssig, wollte von jetzt ab das Leben auf bescheidenem Fuße anfangen, und das Städtlein gefiel ihm. Was ihm der Gastfreund über die sonstigen Verhältnisse mitteilte, befestigte seinen Entschluß, hiesigen Orts den Wanderstab abzusetzen und sich häuslich niederzulassen. Trotz dem Unglück, welches Samuel bei seinem letzten Unternehmen gehabt hatte, war der Wechsel, den er aus seiner schmierigen Brieftasche hervorwühlte, für die Neustädter Verhältnisse doch nicht so unbedeutend, und es ließ sich wohl ein neues Geschäftchen damit gründen. Die Häuser waren damals wohlfeil der ewigen Einquartierung wegen; Samuel erhielt das beschriebene Gebäude in der Kröppelstraße fast geschenkt und richtete sich darin ein wie ein Ohrwurm in einem leeren Schneckenhaus. Im Jahre 1815 heiratete er die Tochter des weisen und wohlhabenden Mannes, der seinen Wechsel so prompt saldiert hatte. Sein Trödelgeschäft hatte unter den Durchmärschen von Freund und Feind nicht gelitten; es hatte sich im Gegenteil sehr dadurch gehoben, denn Freund und Feind hatten mancherlei Dinge loszuschlagen, an welche sie leicht gekommen waren, welche sich aber schwer mitschleppen ließen im Tornister oder auf dem Bagagewagen. Nach dem zweiten Pariser Frieden ahnte die Kröppelstraße, daß der Jüd im Keller sein Schäflein geschoren habe, der Gastfreund aber wußte es und gab seine Tochter, das schöne Blümchen, gern an ihn ab. Wir wissen, daß Moses Freudenstein und Hans Unwirrsch fast um dieselbe Stunde im Jahre 1815 geboren wurden und daß das »Blümchen« im Kindbett starb. Der Frauen Amme fütterte den Säugling auf, und Samuel erzog ihn auf seine Weise, welche von dem Schulplane des Spritzenhauses in mancher Hinsicht bedeutend abwich. Um die Erziehung der Juden bekümmerte sich das hohe Kultusministerium damals noch nicht; es ließ sie in dieser Beziehung ganz und gar ihren eigenen Weg suchen, und – sie fanden ihn und gingen ihn. Moses Freudenstein wußte um viele Dinge Bescheid, von welchen die Taugenichtse, die ihn in der Kröppelstraße mißhandelten, nicht das mindeste ahnten.

Daß die Kröppelstraße den Juden nicht mit den freundlichsten Augen ansah und sich ihm gegenüber nicht auf den Standpunkt des »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« stellte, brauchte keine Verwunderung zu erregen, aber übertrieben war es doch, wenn die Mütter ihre hoffnungsvollen Sprößlinge vor dem Trödelladen dadurch warnten, daß sie behaupteten, man verfertige darin Würste aus dem Fleisch kleiner unartiger und unschuldiger Christenkinder und benutze dazu statt ihrer Därme ihre wollenen Strümpfe.

Auch für Hans Unwirrsch hatte einst die Idee, zu Wurstfleisch gehackt und in seinen eigenen wollenen Strumpf gestopft zu werden, nichts Verlockendes; als er aber mit Moses hinab in den dunklen Laden polterte, war er über diese Fabel längst hinaus und sah sich nur sehr neugierig in dem geheimnisvollen Räume um, in den er bis jetzt nur ganz verstohlen von der Straße aus zu blicken gewagt hatte.

Aus der Finsternis des Hintergrundes hervorstürzten der Vater Samuel und die alte Esther, um den jetzt in lautes Geheul ausbrechenden Moses in ihre Arme zu schließen, auszufragen und zu beruhigen. Verwünschungen aller Art schleuderte Esther auf den Haufen in der Gasse, und als sie gar, bewaffnet mit einem Besen, einen Angriff darauf machte, stob er entsetzt nach allen Seiten hin auseinander. Mit traurigem Kopfschütteln ließ sich der Trödler das Geschehene auseinandersetzen, aber sein Zorn machte sich nicht in lauter Weise Luft. Er hatte in seinem Leben so viele Demütigungen hinunterschlucken müssen, daß es ihm auf eine mehr oder weniger nicht ankam. Aber dem Verteidiger seines Sohnes stattete er seinen Dank fast in einer Art ab, wie er es einem erwachsenen Mann gegenüber getan haben würde, und Hans fühlte sich höchlichst geschmeichelt und schenkte ihm seine ganze Hochachtung. Er genoß in dem dunkeln Hinterzimmer eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen, fand auch hier manches, was seine Aufmerksamkeit erregte, und versprach sich und der Familie Freudenstein, die angeknüpfte Bekanntschaft fortzusetzen.

Die Base Schlotterbeck war gerade nicht sehr entzückt, als sie das Geschehene vernahm. Sie hatte auch ihre kleinen Vorurteile gegen die Juden und sah nicht ein, welchen Nutzen ein solcher Umgang ihrem Pflegling bringen könne. Die Frau Christine aber erinnerte sich, daß ihr seliger Mann einst geäußert hatte, der Nachbar Freudenstein sei kein übler Mann, es lasse sich recht gut mit ihm verkehren. Die Frau Christine, welche mehr als einer wohlhabenden israelitischen Familie in der Hauptstraße die Hemden gewaschen hatte, meinte daher, die Juden seien auch Menschen und könnten recht vernünftige Leute sein. Sie hatte nichts gegen den Verkehr mit dem westfälischen Lakaien drüben, und auch der Oheim Grünebaum gab als »zivilisierter Mann« und »Philosophikus« seine Zustimmung. Die Nachbarn und Nachbarinnen schüttelten bedenklich die Köpfe, aber hinderten nicht, was das Geschick beschlossen hatte.

Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit des Trödelladens gewöhnt hatten, entdeckte Hans darin so viele Wunder, daß sich sein Leben erst mit dem wahren Inhalt zu füllen schien. Zu gleicher Zeit erstieg er eine zweite Stufe auf der Leiter des Wissens, sagte er dem Spritzenhaus und dem Nachfolger Silberlöffels Valet, um in die unterste Klasse der »Bürgerschule« einzutreten.

Das war ein wichtiger Schritt vorwärts und wurde als solcher gebührend anerkannt und gefeiert. Der Oheim Grünebaum hielt dabei eine seiner schönsten und längsten Reden, welche aber doch weniger Wirkung auf den Neffen machte als ein Paar neuer Stiefel, womit er ihn beschenkte. Es waren die ersten, auf welche Hans Unwirrsch trat; in fieberhafter Aufregung hatte er ihren Bau von den ersten Anfängen an bewacht; mit Nägeln waren sie beschlagen, daß man von der Sohle fast nichts erblickte; wenn man darin einherstapfte, so hörte man den Schritt drei Gassen weit. Der Oheim Grünebaum hatte ein Meisterstück gemacht und hatte das seltene Vergnügen, daß es als solches anerkannt wurde. Ein großes Sehnen in Hansens Brust war durch die Stiefeln befriedigt worden, er schritt auf ihnen mit bedeutend erhöhtem Selbstbewußtsein durch das Leben. Ein Junge mit so vielen und so dickköpfigen Nägeln unter den Füßen konnte schon seinen Standpunkt den neuen Lehrern und den neuen Schulgenossen gegenüber behaupten, und Hans behauptete ihn und trat jetzt auch erst in ein innigeres Verhältnis zu dem andern Geschlecht, welches er bis dahin so sehr verachtet hatte, insofern es nicht durch seine Mutter und die Base Schlotterbeck repräsentiert wurde.

Neben dem Trödelladen wohnte eine Frau, die sich durch eine Semmel- und Obstbude vor der Tür der Bürgerschule erhielt. Ihr Name tut nichts zur Sache; aber sie hatte eine Tochter von ungefähr acht Jahren, und das kleine Mädchen hatte eine Katze. Das Kind starb zuerst, dann starb die Katze; die Obsthändlerin ist heute auch längst tot – sie haben keine unausfüllbare Lücke in der Welt gelassen, aber die kleine Sophie war doch Hans Unwirrschs erste Liebe.

In Abwesenheit der Mutter saß das Kind in der Obstbude an der Bürgerschule, und neben ihm saß die Katze. Beide blickten unbeschreiblich ernsthaft und verständig über die Haufen rotbäckiger Äpfel und Birnen, die Körbe mit den Pfefferkuchen und Semmeln und die Glaskästen voll verlockenden Zuckerwerks. Sich selber ließen sie niemals durch die ausgelegten Schätze verlocken. Pflichtgetreu saßen sie da, warteten auf die Kunden und besorgten den Handel ebensogut wie die Inhaberin der Firma.

Zuerst wurde Hans natürlich durch das Obst, die Pfefferkuchen und Semmeln zu der Bude gezogen; dann übte die Katze eine bedeutende Anziehungskraft auf ihn aus; die kleine Sophie würdigte er seiner Aufmerksamkeit zuletzt, und es dauerte eine ziemliche Zeit, ehe das Verhältnis sich umkehrte. Letzteres trat erst dann ein, als der ritterliche Hans auch hier als Beschützer aufgetreten war, und dazu mangelte die Gelegenheit nicht.

Nicht Hans allein richtete seine Aufmerksamkeit auf die Katze in der Semmelbude. Auch andere jugendliche Gemüter nahmen teil an ihrem Wohl, aber noch viel mehr an ihrem Wehe. Die offenen oder geheimen Angriffe auf das ehrbare, gesittete Tier nahmen nie ein Ende, und die kleine Herrin wußte im Kampf mit allen finsteren Mächten ihrem Jammer oft keinen Rat. An jedem Abend trug sie ihre vierbeinige Freundin auf den Armen nach Haus, und dann war auch die rechte Zeit der Wegelagerer gekommen. An jeder Straßenecke hatten Kind und Katze Leid zu bestehen, und immer neue Verfolger schlossen sich zur Begleitung an.

Bei solcher Gelegenheit zeigte sich Hans wieder als ein edles Gemüt und nahm sich der duldenden Unschuld nach Kräften an. Er trug zwar wiederum einige Beulen und blaue Flecke davon; aber das stolze Gefühl, mit welchem er die kleine Sophie sicher bis zur Kröppelstraße geleitete, war doch auch nicht zu verachten. Die Bekanntschaft war angeknüpft, und gegenseitige, innige Zuneigung entstand daraus. An jedem Abend fand sich Hans an der Obstbude ein, um seine beiden Schutzbefohlenen abzuholen. Moses Freudenstein war bald der Vierte im Bunde.

Durch einen Lenz, einen Sommer und einen Winter verkehrten die Kinder so miteinander. Sie trieben alle Kinderspiele zusammen; mit seinen schönsten Blüten überschüttete sie der Frühling, der Sommer gab alle Freuden, welche er dem jungen Menschen zu geben hat. Holdselig war dies Jahr, keine Blüte, keine Frucht blieb aus. In den Herzen der Greise regten sich die ältesten fröhlichen Erinnerungen; die Schatten der Toten, welche der Base Schlotterbeck in den Gassen begegneten, schienen sich, nach den Aussagen der Base, mit den Lebendigen zu freuen. Die Jünglinge und Jungfrauen lebten ein doppeltes Leben in einer schönen Gegenwart und einer schönen, hoffnungsreichen Zukunft. Sorgenvolle Väter und Mütter warfen wenigstens auf Augenblicke die Not des Tages von sich; aber die Glücklichsten waren doch die Kinder, die vom Alter, vom Tod, von der Hoffnung und von der Sorge noch nichts wußten. Ihnen gehörte die Lust des Jahres ganz und gar, und größtes Unrecht war es, in ihr Reich allzu verständig mit kalter Hand einzugreifen.

Zu Wald und Feld führte Hans die kleine Sophie. Sie verloren sich freilich nicht weiter in die grüne Freiheit, als der Schall der Glocken der kleinen Stadt reichte; aber welch eine Unendlichkeit war ihnen darin gegeben! Der Inbegriff aller Dinge, die Welt, die absolute Totalität eröffnet dem Forscher nicht weitere und nicht geheimnisvollere Räume, als dem Kinde die engbegrenzte Wiese und das Stückchen Himmelblau darüber bieten.

Mit dem Hunger nach der Unendlichkeit wird der Mensch geboren; er spürt ihn früh, aber wenn er in die Jahre des Verstandes kommt, erstickt er ihn meistens leicht und schnell. Es gibt so viel angenehme und nahrhafte Sachen auf der Erde, es gibt so vieles, was man gern in den Mund oder die Tasche schiebt. Hans Unwirrsch war jetzt in dem Alter, wo die ersten Klänge der Weltenharfe leise, leise das aufhorchende Ohr berühren, wo man im Gras sich wälzt oder stilliegt und den Wind in den Blättern hört, die Wolken in der Luft schwimmen sieht und nach den fernen Bergen hinüberstaunt, wo man läuft, um die Stelle zu finden, an welcher der Regenbogen auf der Erde steht, wo man mit Gras und Baum, mit dem lieben Gott, mit jedem Vogel, jeder bunten Mücke, jedem glänzenden Käfer auf du und du steht, wo man Pantheist in der lautersten Bedeutung des Wortes ist.

Ernsthaft wie in der Holzbude vor der Schule saß das kleine Mädchen am Rande des Waldes oder in der Blumenfülle der Wiese. Ihre Hände waren nie unbeschäftigt, ihre Augen waren stets für alles weit geöffnet; aber sie sprach seltener als andere Kinder, und was sie sagte, war viel vernünftiger als anderer Kinder Worte. Die Nachbarn in der Kröppelstraße schüttelten oft den Kopf über sie und nannten sie altklug; allein, das war sie nicht. Ihre Gedanken über das Rauschen im grünen Baum, über den Sonnenschein, über die weiße und über die rosige Wolke, über den stillen, blauen Himmel waren echte Kindergedanken trotz aller Vernünftigkeit. Mit ihren großen Augen sah sie fest und tief in die schöne Welt und schloß sie dann geraume Zeit, als wolle sie versuchen, wieviel sie von all der Pracht und Lieblichkeit mit sich hineinnehmen könne in die Dunkelheit, den Winter – das Grab.

Sie starb in dem Winter an einer Kinderkrankheit, die kleine Sophie. Wenn wir auf das anmutige Bild hauchen, so ist es verschwunden, als sei es nimmer dagewesen.

Auf der obersten Stufe der steilen Treppe, die zu der Wohnung der Obsthökerin führte, saßen dicht aneinandergedrängt Hans Unwirrsch und Moses Freudenstein, und die Katze Sophiens saß eine Stufe niedriger auf der Treppe. Hinter der Tür lag das kleine Mädchen, von welchem gesagt wurde, daß es noch an dem nämlichen Tage sterben müsse.

Durch ein einziges morsches und schmutziges Fenster wurde der enge Vorplatz erhellt; der Regen schlug an die Scheiben, und der Wind rüttelte daran. Mehr als einmal hatte man den Versuch gemacht, die beiden Knaben von ihrem Platze zu vertreiben; doch Hans wich weder der Gewalt noch der Überredung, und Moses, der gern fortgeschlichen wäre, mußte seinetwegen bleiben. Die Katze miauzte von Zeit zu Zeit leise und klagend; wenn die Knaben zueinander sprachen, so geschah das auch leise und ängstlich. Sie sahen die Katze an, und die Katze sah sie an; der Tod lag auf der Lauer wie damals, als der Lehrer Silberlöffel so krank war; – ein lautes Wort durfte nicht gesprochen werden, der Tod konnte es nicht leiden.

Der Jude wie der Christ fühlten gleicherweise die Schwere der Stunde; jeder jedoch machte auf seine Weise seine Bemerkungen darüber.

»Hast du gehört, was der Doktor sagte zur Jungfer Schlotterbeck?« fragte Moses. »›Sie machts nun nicht lange mehr‹, hat er gesagt, und er hat den Kopf geschüttelt – so.«

Moses Freudenstein schüttelte den Kopf, wie ihn der Doktor geschüttelt hatte, und Hans sah die Katze an und streichelte sie und schluchzte:

»Sie machts nun nicht lang mehr!«

Die Katze aber wimmerte, als wollte auch sie sagen:

»Ja, sie machts nun nicht lang mehr, und niemand weiß das besser als ich.«

»Wohin wird sie nun gehen, wenn sie tot ist?« fragte der Jude, ohne seinen Freund dabei anzusehen. Moses schien für sich allein tief darüber nachzugrübeln, und das Grübeln schien das Gefühl in den Hintergrund zu drängen.

»In den blauen Himmel zu den Engeln, zu dem lieben Gott geht sie!« flüsterte Hans, den Finger auf den Mund legend.

Aber Moses legte den klugen Kopf auf die Seite und blickte nach dem klirrenden Fenster, an welchem der Regen in Strömen herniederfloß.

»Mein, sie wird einen bösen Weg haben; wird sie doch sehr frieren auf dem Weg.«

Hans Unwirrsch sah ebenfalls nach dem trostlosen Fenster und zog die blauroten Hände so tief als möglich in die Ärmel seiner Jacke, aus welcher er der Base und der Mutter wieder einmal ganz unbemerkt herausgewachsen war. Er konnte über das, was hinter der dunklen Tür vorging, nicht solche Fragen aufwerfen, wie der kleine semitische Dialektiker ihm zur Seite; er war zu unglücklich dazu und fror zu sehr körperlich und geistig. Er hatte mit dunkleren, verworreneren, aber auch schmerzvolleren Gefühlen zu kämpfen als Moses Freudenstein. Der Tod der Spielgefährtin machte einen noch viel schärfern Eindruck auf ihn als der des Lehrers; zum erstenmal fühlte Hans Unwirrsch, daß er ein Stück von seinem Leben verliere.

Aber der schaurige Gast, der Tod hinter der Tür, achtete weder auf Grübeln noch auf Gefühl. Mit einem Satz schoß die Katze von ihrem Platze auf der Treppenstufe gegen die Tür, sie fing an, heftig daran zu kratzen, ihr Haar sträubte sich, sie schrie kläglicher als je. Jemand öffnete die Tür, um das Tier zu verscheuchen, aber blitzschnell schoß es in die Spalte, und dann – dann durfte auch Hans eintreten – die kleine Sophie verlangte nach ihm.

Das Kind wußte ganz klar, daß es sterben müsse. Die großen, ernsthaften Augen hatten einen Glanz bekommen, der nicht mehr von dieser Welt war. Sophie wehrte sich nicht gegen den Tod; sie lag ganz still und sprach auch nicht viel mehr. Mit ihren Augen nahm sie Abschied von ihrem Gespielen, und als Hans laut und bitterlich weinte, schüttelte sie nur ganz leise den Kopf und flüsterte:

»Ich habe sie gesehen – gestern – in der Nacht – die schöne große Wiese! O Hans, wie die Sonne darauf schien – das glänzte! – und so viele, viele, viele Blumen! Oh, mir fehlt gar nichts mehr, morgen bin ich ganz gesund. So schöne, goldene Äpfel in den grünen, grünen Bäumen. Wenn der Wind geht, fallen sie wie ein Regen von Gold herunter. Morgen bin ich auf der schönen, schönen, großen, großen Wiese – gute Nacht, Hans, lieber Hans!«

Sie schloß die Augen und schlief ein, und im Schlaf ging sie hinüber in die Ewigkeit, wo die goldenen Äpfel im grünen Gezweig hingen – all der liebliche Glanz, nach welchem der Armenschullehrer hier auf Erden so großen Hunger gehabt hatte, den er so vergeblich hier auf Erden zu ergreifen gesucht hatte.

Die Katze war auf die Bettdecke der Kranken gesprungen, hatte sich ihr zu Füßen in einen Knäuel gerollt und schnurrte behaglich. Man ließ das arme Tier, wo es war; aber den weinenden Hans führte die Base Schlotterbeck fort; er sah seine Spielgefährtin nicht eher wieder, als bis sie im Sarge lag.

Als das Kind gestorben war, wollte man die Katze wegnehmen von der Decke; sie gebärdete sich jedoch wie toll, biß und kratzte und spuckte und sprang dann freiwillig herab, als die winzige Leiche aus der Bettstelle gehoben wurde. Als der Sarg geschlossen worden war und auf zwei Stühlen in der Mitte der Stube stand, legte sich das Tier unter den Sarg und wollte auch von dieser Stelle nicht weichen. Als der Sarg aus dem Hause getragen wurde, folgte ihm die Katze bis zur Haustür und sah ihm nach. Dann schoß sie wieder die Treppe hinauf und fing an zu suchen in allen Winkeln und Ecken und wollte dies Suchen nicht aufgeben trotz allem, was man tat, um sie davon abzubringen. Tagelang, nächtelang wimmerte sie umher, daß das roheste Gemüt im Haus und in der Nachbarschaft ein Grauen und eine Wehmut darüber ankam. Vergeblich bot man dem armen Geschöpf die besten Bissen – es nahm sie nicht an. Niemand hatte das Herz, es roh und rauh anzufassen; aber man fürchtete sich vor ihm, und jeder atmete auf, als es nach acht Tagen allmählich still wurde. Es hatte ein altes Kleidchen der Toten gefunden, darauf wickelte es sich in einem Winkel zusammen und starb vor Gram und vor Hunger. Hans Unwirrsch und Moses Freudenstein begruben es, und der Vater Samuel gab aus seinem Trödelvorrat eine bunte Schachtel zum Sarge her.

Der Tod der kleinen Sophie und der Katze machte, wie gesagt, einen viel größeren Eindruck auf Hans als der Tod des Lehrers Silberlöffel. Mit einem andern Mädchen schloß er fürs erste keine Freundschaft; aber der Trödelladen gewann von jetzt an einen immer größeren Einfluß auf ihn. Die Base Schlotterbeck und die Mutter Christine hätten Grund gehabt, recht eifersüchtig auf den Nachbar Samuel Freudenstein zu sein.

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