Frei Lesen: Der Hungerpastor

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Wilhelm Raabe

Der Hungerpastor

Neuntes Kapitel

eingestellt: 21.7.2007



Drei Tage nach dem ersten Anfall wiederholte sich der Schlagfluß, aber der Doktor bildete sich nichts darauf ein, daß er das vorhergesagt hatte. Ob der Kranke in dem Zeitraum zwischen den beiden Anfällen das Bewußtsein zeitweilig wiedererlangt habe, blieb zweifelhaft; Hans Unwirrsch glaubte es, aber Moses wollte es nicht zugestehen; der Doktor zuckte nur die Achseln.

In der Todesstunde des alten Trödlers war Hans nicht zugegen; aber zu seinem Grabe folgte er ihm und erschien vielen Leuten bewegter als der Sohn. Samuel Freudenstein war keine unwichtige Person in der Geschichte seiner Jugend, er betrauerte aufrichtig sein Hinscheiden.

Auf dem Heimwege von dem abgelegenen, ärmlichen Judenkirchhofe hielt er sich dicht an der Seite des Freundes, den ein so harter Verlust betroffen hatte, um ihn durch innige, teilnehmende Worte in seinem Schmerze aufzurichten; er hatte keine Ahnung davon, daß der Freund diesen Trost gar nicht nötig hatte. Finster und bleich schritt Moses an seiner Seite und stellte, während er die Worte des Trösters dann und wann durch einen Seufzer oder eine Handbewegung erwiderte, ein genaues Verzeichnis des Nachlasses vorläufig auf.

An den folgenden Tagen vervollständigte er diese Aufstellung mit Hilfe zweier würdiger Semiten, welche die Behörde in der Judenschaft zu seinen Vormündern ausgewählt hatte. Er zeigte dabei einen so scharfäugigen Überblick, daß die beiden ehrenwerten Handelsleute sich und ihn höchlichst segneten und sich ähnliche Söhne, Enkel und Urenkel wünschten. Wir wissen schon, daß bedeutende Summen in barem Gelde und in Wertpapieren vorhanden waren; aber es fanden sich auch noch manche andere wertvolle Dinge in den wunderlichsten Verstecken, und selbst Hans Unwirrsch fiel die Umsicht des Freundes beim Aufsuchen und Finden dieser Verstecke auf.

Während der Katalog des Trödelladens aufgenommen wurde, hielt es Hans nicht weniger für seine Pflicht, dem Freunde mit seinem Troste nahezubleiben. Welch ein Staub wurde aufgewühlt, welch ein Moderdunst stieg auf aus manchen Schiebladen, die der Schlosser öffnen mußte, weil die Schüssel dazu nicht zu finden waren! Es war ein Wunder, was alles aus den Winkeln zum Vorschein kam; sogar die beiden Israeliten hielten sich öfters die Nasen zu. Die Verachtung, mit welcher Moses auf all den Plunder herniederblickte, war nicht zu beschreiben.

Man ließ jetzt so viel Licht als möglich in den Laden und das Haus, aber beide blieben doch noch dunkel genug. Oft fuhr Hans zusammen; er glaubte in dem Schatten einen Schatten zu sehen: es war ihm, als ob der tote Mann noch nicht ganz fortgegangen sei; er war ja auch der Base Schlotterbeck begegnet, und die Gute schüttelte bedenklich den Kopf, als man sie näher darum befragte.

Nur ein einziges Wort sprach Hans mit Moses über diese seine Gefühle, aber Moses wurde ganz zornig darüber.

»Die Toten kommen nicht zurück, Hans! Ich wollte, ich wüßte alles so genau wie das!« rief er. Er hielt eben die Sanduhr, die neben dem Bette des Vaters gestanden hatte, in der Hand. Die Hand zitterte, und das alte Ding entglitt ihr: zerbrochen lag es am Boden, ein Fußtritt sandte die Trümmer in eine Ecke.

Während man in dem Trödelladen auf diese Weise aufräumte, waren die Frau Christine und die Base eifrigst beschäftigt, ihren Hans zur großen Fahrt nach der Universität auszurüsten. Sie konnten ihm nicht viel mitgeben auf die Wanderschaft; wenn sich jedoch die guten Wünsche, die in die Hemden vernäht und in die Strümpfe verstrickt wurden, alle erfüllten, so nahmen die Götter nur ihr Recht, wenn sie auch hier bösartig neidisch wurden.

Die Ausstattung füllte einen Seehundskoffer, welchen der Oheim Grünebaum nebst einer Rede hergegeben hatte, und den Lederranzen, welchen der Meister Anton Unwirrsch während seiner Wanderjahre mit so viel Nutzen auf dem Rücken geschleppt hatte. Acht Tage nach Ostern war alles in Ordnung, soweit es von den beiden Frauen abhing.

Auf einsamen Wegen in der Stadt und um die Stadt nahm Hans Abschied von allerlei Dingen, die ihm seit frühester Kindheit lieb und vertraut waren. Auch Besuche machte er bei manchen Leuten, deren Namen in diesen Blättern erwähnt und nicht erwähnt wurden, und jedermann stopfte gern seinen Beitrag in den Sack voll guter Wünsche, den er auf diesen Gängen mit sich trug.

Der Professor Doktor Fackler gab ihm eine seltene Ausgabe der Bekenntnisse des heiligen Augustin und der Oheim Grünebaum eine kurze Pfeife, auf deren Kopf die Hoffnung abgebildet war, ein schauderhaftes Weibsbild, das sich jedenfalls selber in sehr hoffnungsreichem Zustand befand und über welches der Oheim eine Rede hielt.

Der Trödelladen ging unter Zustimmung der beiden obenerwähnten israelitischen Berater in die Hände eines dritten Semiten über, welcher jedoch den westfälischen Lakai nicht wieder in seine früheren Funktionen einsetzte.

Auch Moses Freudenstein war bereit zum ersten Ausflug in die Welt; und wenn er weniger gute Wünsche von der Stadt Neustadt mit auf den Weg erhielt, so kümmerte ihn das nicht im geringsten; die Abrechnung über das gegenseitige Wohlwollen schloß aber doch mit einem, wenn auch nur geringen, Überschuß auf seiten der Stadt ab. –

Die Osterfeiertage gingen vorüber; die Stunde des Abschieds kam, ehe man es sich versah.

Es war ein Morgen, wie man ihn sich wünscht zu allem Angenehmen und Guten: zu Hochzeiten und Kindtaufen, zu Landpartien und vor allem zur Reise in die Fremde. Wenn es am Tage vorher merkwürdig schlechtes Wetter gewesen war, so ging heute die Sonne so schön auf, als wolle sie Hans Unwirrsch ein ganz besonderes Zeichen ihrer Gunst und Zuneigung geben. Der Hahn auf dem Turm der Valentinskirche glänzte wie ein junger, eben aus den Flammen aufgestiegener Phönix, und Kirche und Turm warfen ihren Schatten ungemein behaglich über den grünen Kirchplatz und die Dächer der nächsten Häuser. Noch schliefen die meisten Leute, und wenn nicht ein sehr wacher und vergnügter Hund, der in einem Bäckerladen eine frische Semmel gestohlen hatte, von einem Lehrjungen mit großem Geschrei durch die Gassen verfolgt worden wäre, so hätte man glauben können, man befinde sich in einer verzauberten Stadt. Der Hund, der atemlose Lehrling und die plätschernden Brunnen waren bis jetzt die einzigen beruhigenden Zeichen dafür, daß Senatus Populusque Neustadiensis weniger verzaubert als verschlafen seien.

In der ganzen Stadt gab es nur einen Verzauberten, und dieser war freilich ebenfalls sehr wach – und guckte seit drei Uhr in der Kröppelstraße aus einer Bodenluke – Hans Unwirrsch wars.

Die Aufregung hatte ihn aus dem Bett gejagt und die Leiter emporgetrieben, welche zu seinem Lugaus hinaufführte. Nach dem Kalender sollte die Sonne um vier Uhr neunundfünfzig Minuten kommen, und es verlohnte sich schon, an einem so wichtigen Tage auf sie zu warten. Schon der Blick in den Nebel, welcher zwischen drei und fünf die Stadt, das Tal und die Berge verschleierte, wog das halbwache Träumen im Bett auf. Die Seele verlor sich ahnungsvoll in diesem Nebel, der die ganze Heimat verhüllte; – wir haben in einem vorigen Buch einen Greis Bilder und Gestalten in solch wallendes Gewölk zeichnen lassen, aber eigentlich gehört der Nebel doch der Jugend – nur der Jugend!

Nur die Jugend hält den Zauberstab, der die rechten Bilder auf der grauen Fläche hervorzaubert; die Jugend, die Jugend allein ist fähig, alles zu erfassen und zu finden, was in dem Nebel, dem geheimnisvollen Nebel verborgen liegen kann. Als er sich an diesem Morgen senkte und die Sonne strahlend hervorbrach, war das Herz des Jünglings so voll geworden, daß er nur mit Lebensgefahr die Leiter und die enge, halsbrecherische Treppe niedersteigen konnte.

Nimm Abschied von dem alten gekitteten und vernieteten Kaffeetopf, Hans; – nimm Abschied von den henkellosen blauen Tassen. Nimm vor allen Dingen Abschied von der Glaskugel, und trotz allem Hunger nach der Ferne wirst du dich oft sehr, gar sehr nach ihrem vertrauten Leuchten zurücksehnen. Nimm Abschied von der verweinten Mutter und von der Base, die eine so schöne Haube zu Ehren der feierlichen Stunde aufgesetzt hat. Fasse dich, mein Junge; nimm dir ein gutes Beispiel an dem Oheim Grünebaum, der als ein erfahrener Mann weiß, daß man zu einer langen Wanderung der Stärkung bedarf, und der zwischen Kauen und Schlucken recht jovial ein Wanderburschenlied summt und dich mehr als einmal versichert, daß du froh sein kannst, aus dem Nest und Käfig herauszukommen. –

Es klopft an der Tür – Moses Freudenstein ists. Er könnte zwar mit Extrapost fahren, aber aus alter Freundschaft hat er sich entschlossen, mit dir, Hans Unwirrsch, das neue Leben zu Fuß zu beginnen. Sei ein Mann, Hans, fahre schnell mit dem Ärmel über die Augen, daß der Schulgenosse dich nicht auslache wegen deiner Weichmütigkeit! –

Moses Freudenstein sah die Träne im Auge des Freundes nicht, er befand sich im Geist bereits auf der Landstraße; ungeduldig schwang er den Wanderstab:

»Auf, auf, Hans! Es ist die höchste Zeit, daß wir aufbrechen. Es ist nicht angenehm, in der vollen Sonnenhitze auf der Landstraße zu schwitzen.«

»Na denn, Christine«, rief der Oheim Grünebaum, »haue deinem Lamento den Schwanz ab und gib jetzt den Jungen frei. Habt Euch nicht, Base Schlotterbeck, Ihr seid doch sonsten ein fermes Frauenzimmer. O Weibsen, Weibsen, ihr seid mir ein paar rare Exemplare, und nun hat der Junge auch wieder an die Zwiebel gerochen. Ach du liebster Gott, wenn das nicht über alle Fontänen geht, so will ich mir meine eigene Nase besohlen, beflecken und vorschuhen! O du grundgütiger Heiland, Herr Freudenstein, wie nannten doch die alten Griechenländer solch einen Gesang?«

»Vielleicht würden sie ihn durch das Wort Threnodie bezeichnet haben.«

»Richtig! Ganz recht! Ich konnte mir nur nicht gleich darauf besinnen! Eine Tränodie! Und jetzt ist es aus und zu Ende damit, sage ich euch; der Deibel hole euere Wasserwerke! Packe auf, Hans, und marsch! Die Weiber bleiben zurück von wegen dem öffentlichen Anstand; ich als unaffizinierter Vormund marschiere mit bis zum Tor, und dann Gott befohlen und n fröhliches, fideles Wiedersehen!«

Hans Unwirrsch sackte den Tornister des Vaters auf: drei Minuten später bog er zwischen Moses und dem Oheim um die Ecke der Kröppelstraße, und ungestört konnten die beiden armen Frauen ihrem Kummer und – ihrer Freude Luft machen.

Vor der verschlossenen Tür des Trödelladens hatten sich drei alte Judenweiber, gegen welche der verstorbene Samuel dann und wann den barmherzigen Samaritaner spielte, samt der Haushälterin Esther eingefunden, um dem Sohne ihres Wohltäters ihren Segen und ihre Glückwünsche auf den Weg mitzugeben. Wir haben schon gesagt, daß dem armen Moses wenig davon geboten wurde; aber er zeigte auch jetzt wieder, daß er selbst das wenige gründlich verachtete. Höchst mißmutig hielt er sich die Ohren zu vor dem heisern Geschrei der Alten, und mit schlecht verhehltem Ekel und Verdruß entriß er seine Rockschöße ihren Händen; – wehe ihm!

Sie ließen den Taler, den er ihnen zuwarf, liegen auf der Erde. Auf der Schwelle des Trödelladens kauerten sie wie vier Schicksalschwestern, die über ein großes Unglück nachsannen. Moses Freudenstein mußte sehr böse Worte zu ihnen gesprochen haben, daß sie so erschreckt, erstarrt die Hände zusammenschlugen, daß sie ihm ein Gebet nachsandten, welches zur Hälfte ein Fluch war. Wehe riefen sie über ihn, wie im Tal Achor über Achan, den Sohn Serah, gerufen wurde; – sie verglichen ihn mit Absalom, dem Sohne Davids, und manchem anderen alttestamentlichen Übeltäter.

»Hat er gelernt zu viel, ist er geworden zu klug, wird er werden ein Verräter an seinem Volk!« seufzten sie, als sie davonhumpelten.

Aber da war das uralte Tor, umsponnen von uraltem Efeu. Und die Morgensonne strahlte durch den dunklen Bogen, und das inhaftierte Vagabundenpaar im oberen Stock sang hinter den grünen Ranken ganz idyllisch sein Morgenlied: »Sind wir wieder mal beisamm gewest!« und schien mit seinem Los ungemein zufrieden zu sein. Groß war des Oheims Verdruß über diese jubilierenden Lumpen, und in der sittlichen Entrüstung, welche ihn darob befiel, ging der letzte Tropfen Abschiedswehmut ohne Bodensatz auf.

»Wer es nicht hört, der glaubt es nicht!« knurrte er. »Jedweder moralische Mensch und honorable Handwerksmann muß jetzt an seinen sauern Schweiß und schwere Arbeit, und dies Pack und Exkrement von der sozialen Gesellschaft wälzt sich auf dem Stroh und hat sein Pläsier auf öffentliche Unkosten. Nun, ihr beiden jungen Gesellen, macht euch auf die Beine und greift aus. Hans, mein Junge, ich sage dir nichts mehr. Du bist nun allgemächlich in die Zuständigkeit der Mündigkeit angekommen, und wenn du auch bei den Gelehrten noch nicht aus der Lehre bist, so weißt du doch schonst mehr wie unsereins vons Metier. Halte den Kopf in die Höhe und sieh scharf nach rechts und links, denn jedes Ding hat zwei Seiten, die Schusterei sowohl als imgleichen die Gelehrsamkeit. Bedanke dich nicht um das, was ich an dir getan habe, es ist nicht der Rede wert, und die Sorgen, die du mir in die schlaflosen Nächte gemacht hast, kannst du mir doch nicht ersetzen. Ich verlange es auch gar nicht, sondern beruhige mir für das in meiner Gewissenhaftigkeit, was ein sehr schönes Kopfkissen ist im Kinderfreund. Also – hier nimm n Schluck auf n gesundes Wiedersehen und schreib auch, wenn du mal Zeit hast, an die Weiber, sie möchten sich sonsten bei unpassender Gelegenheit vom Tage tun. Herr Freudenstein, bleiben Sie gesund; – stecke die Pulle nur ein, Hans, du bist in die Jahre, wo man schon dir und ihr allein zusammenlassen kann. Adjes und nun machts gut, ohne Schwanz und Umschweife.«

Schnellen Schrittes entfernte sich der Oheim; die beiden jungen Männer sahen ihm nach, bis er verschwunden war, dann schritten auch sie fort, entgegen der jungen Morgensonne, und bald hatten sie die Stadt hinter sich.

Die Sonne hielt, was sie versprochen hatte, sie sorgte für einen schönen Tag. Auf die Gärten der Bürger folgten die frischgrünen Felder, und die Landstraße, die sich zuerst in Schlangenlinien durch die Ebene wand, stieg allmählich zu den Höhen, zu dem Wald hinan.

Noch hing der Tau an den Grasspitzen, die Lerche sang, und die Butterweiber kamen im Butterweibertrab den beiden Jünglingen entgegen. Mehr als eine der schwerbeladenen Frauen gehörte zur Bekanntschaft der Base Schlotterbeck und somit natürlich auch zur Bekanntschaft Hans Unwirrschs; große Verwunderung und helles Geschrei war die Folge von mancher Begegnung. Es war wirklich ein Wunder, wie viele Menschen dem ausmarschierenden Hans ihre Teilnahme kundzugeben hatten.

O du lustige, lustige Landstraße, was geht alles auf dir vor! Der Handwerksbursche sitzt nieder am Rande des Grabens und zieht die Stiefel aus und sieht sich die schöne Natur durch das Loch in der Sohle an, während gegenüber auf dem Steinhaufen die Tochter des Vagabundenpaares drunten im Turm unbefangen ihr Kind an die Brust legt. Mit klingenden Schellen, Peitschenknall, Hallo, Geschnauf und Gestampf schwankt der weiße Lastwagen daher, und der weiße Spitzhund ist entweder sehr ärgerlich oder sehr spaßhaft gestimmt; jedenfalls würde er zerspringen, wenn er seinen Gefühlen nicht Luft machte. Was hat der Hase auf der Landstraße zu tun? Dort! Dort! Galopp mit angelegten Löffeln quer über den Weg. Es soll Unglück, Ärgernis und Kummer bedeuten – dreimal ein Vivat für ihn und sechsmal ein Vivat für den Schalk, der das schnurrige Omen in jener unvordenklichen Zeit, als die Leute noch dumm waren, unter die Leute brachte!

Hurra, auf den Hasen im Galopp eine Stafette im Galopp, jedenfalls von der Regierung mit der allerneuesten politischen Neuigkeit an den Oheim Grünebaum abgesandt! Nach der Staubwolke, welche Roß und Reiter einhüllt, zu urteilen, muß entweder Serenissimus eine Nase vom Kaiser Nikolaus erhalten oder Serenissima das »angestammte Fürstenhaus« durch einen neuen, apanagefähigen Sprößling allergnädigst vor dem Ausgehen gesichert haben. Was es auch sein mag – ein kindlich heiteres Vivat für Serenissimum und Serenissimam! Mögen sie alle die freudigen Überraschungen erleben, die wir unsererseits ihnen schuldig sind.

Aber die Höhe des Weges ist erreicht; da ist der knospende Wald, und alle ausgewachsenen Bäume schütteln im leisen Morgenwinde altväterlich gutmütig die Häupter über das vorwitzige Gesindel der Sträucher und Büsche, welches die Zeit nicht erwarten konnte, welches über Nacht grün geworden ist.

Natürlich standen Hans und Moses am Rande des Waldes still und blickten zurück auf den Weg, auf das Heimatstal und die Stadt Neustadt. Keine Spur mehr vom Nebel, nach keiner Seite hin! Alles klar und licht und frisch und sonnig! Man konnte die Ziegel auf den Dächern drunten im Tal zählen; – es schlägt eben sechs, und es ist so wunderlich, damit Abschied auch von den Glocken nehmen zu müssen.

Wie verschieden waren die Gedanken der beiden jungen Männer, welche an demselben Baumstamm lehnten! Licht und Schatten sind nicht so verschieden wie das, was durch die Seelen von Hans Unwirrsch und Moses Freudenstein zog. Der eine der Jünglinge hielt das Haupt gesenkt und bedeckte die Augen mit der Hand, der andere sah scharf hinab und lächelte. Sie standen beide und fühlten einen großen Hunger in ihrer Seele: alles, was in verschiedener Weise seinen Anfang genommen hatte, mußte auch in verschiedener Weise seinen Fortgang nehmen.

In einer langen Reihe wechselnder Bilder zog die Kinderzeit vor Hans vorüber. Alle die Gestalten, die ihm auf seinem Lebenswege bis jetzt entgegengetreten waren, glitten vorüber, und es fehlte niemand unter ihnen, nicht der Lehrer Silberlöffel aus der Armenschule, nicht die arme kleine Sophie, welche doch beide schon so lange tot waren.

Auch Moses hatte seine Toten drunten im Tal; aber er verscheuchte jeden Gedanken daran, und für die Lebenden hatte er nichts als jenes feine, böse Lächeln. Er haßte die Stadt Neustadt und hielt den guten Professor Fackler für einen albernen Pedanten. Der Professor Fackler würde aber auch die Art, wie sein früherer klügster Schüler den träumenden Hans durch eine spöttische Bemerkung aus dem Traum emporriß, für höchst unpassend erklärt haben.

Aber es war geschehen – ein Blick, ein Wort, und die Bilder der Kindheit, der ersten Jugend, verflüchtigten sich, die Gestalten lösten sich auf; Hans Unwirrsch hörte wieder die Lerche in der Luft, den Finken im Walde und vor allem das scharfe Lachen des Freundes neben sich. Noch ein Blick hinab ins Tal und dann vorwärts – hinein in den Wald, hinein in die weite Welt, das neue Leben.

Bald war die weiteste Grenze früherer Wanderungen und Ausflüge überschritten, unbekannte Täler durchwanderte man, unbekannte Höhen wurden erstiegen, unbekannte Kirchtürme lugten bald rechts, bald links hervor. Da mußte wohl das drückende Gefühl des Abschieds mehr und mehr schwinden und dem wonniglichen Gefühl der Wanderfreiheit Platz machen. Mehr und mehr merkte Hans Unwirrsch, daß er geschaffen sei, Wunderdinge zu erleben und sie, wie der Oheim Grünebaum sich ausdrücken würde, »richtig und gerecht zu taxieren«. Was erlebte der närrische Bursch alles an dem ersten Reisetage, wie sperrte er den Mund auf vor den allergewöhnlichsten Dingen! Wie lächerlich, närrisch und tölpelhaft erschien er dem scharfen, nüchternen Moses!

Nicht vor jedem Wirtshause, das ihnen am Wege mit langem Arm winkte, hielten die beiden fahrenden Schüler an, aber mancher Lockung konnten sie doch nicht widerstehen; die heißesten Mittagsstunden verbrachten sie jedoch wieder in einem Walde, abseits von der Landstraße. Auf dem weichen Rasen lagerten sie, und während Moses in seinem Taschenbuch allerlei Berechnungen anstellte, fiel Hans über einer Taschenausgabe des Virgil in einen Halbschlaf, in welchem er das ferne Posthorn für die römische Tuba nahm, die der Reiterei der Bundesgenossen das Zeichen zum Vorrücken gab. Aufgerüttelt, starrte er sehr verblüfft um sich und wußte während mehrerer Minuten nicht, wo er sich befand – er hatte zuletzt ganz fest geschlafen und von dem berühmten Schäferstudenten Chrysostomo und der schönen Marzella geträumt. Moses Freudenstein aber beglückte ihn mit einer Vorlesung über die Träume und ihr Verhältnis zum Gangliensystem; –er war über seine finanziellen Verhältnisse wieder einmal im reinen und daher zu allen Bosheiten und philosophischen Deduktionen aufgelegt. Im Laufe des Nachmittags wurde er sehr lebendig und nahm dadurch aufs innigste an den Schwärmereien und Entzückungen seines Gefährten teil, daß er sie auf die schändlichste Weise durch die verständigsten und trockensten Bemerkungen über den Haufen warf oder zu werfen suchte.

Er, Moses Freudenstein, träumte nicht von der schönen Marzella und dem Schäferstudenten, und die Wolken für allerlei Tiere oder gar schöne Göttinnen zu halten hielt er ganz unter seiner Würde. Von der schlafenden Prinzessin Dornröschen und dem Zauberer Merlin behauptete er nie ein Wort gehört zu haben, und der Alte mit dem langen weißen Bart und dem langen Stab, der auf dem Waldwege daherkam, war ihm ein verdammter, alter Topfbinder und weiter nichts. Für ganz verruchten Unsinn erklärte er Hansens und der Romantiker »Waldeinsamkeit«; er war frech genug, zu behaupten, daß ihm bei dem lieblichen Wort stets ganz übel zumute werde.

So hatte Hans Unwirrsch Augenblicke, in denen er mit dem Freund, Reisegefährten und Studiengenossen gar nicht harmonierte, wo er sich sogar über ihn ärgerte und ihn von seiner grünen Seite so weit als möglich wegwünschte; aber diese Augenblicke gingen stets sehr schnell vorüber, und nachdem am Abend im Wirtshaus einige naseweise Gesellen den Versuch gemacht hatten, den klugen Moses an seiner Adlernase zu ziehen, und nur durch das energische Verhalten des guten Hans davon abgehalten worden waren, wurde das freundschaftliche Verhältnis zwischen den beiden angehenden Studenten fernerhin kaum durch einen Mißton gestört. Am Morgen des dritten Tages ihrer Wanderung standen sie wiederum auf einer Anhöhe am Rande eines Gehölzes und sahen in ein Tal hinab, in welchem eine andere kleine, aber viel- und hochgetürmte Stadt lag; und Moses, der nicht nur die alten Sprachen innehatte, sondern auch einige neue, deklamierte mit ironischem Pathos:

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