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Wilhelm Raabe

Deutscher Adel

Erstes Kapitel

eingestellt: 4.8.2007



Die Karl Achtermannsche Leihbibliothek gehört nicht zu den ersten der Stadt. In einer verhältnismäßig engen und wenig belebten Nebenstraße belegen, macht sie nicht den geringsten Anspruch auf äußerliche Eleganz, polierte Ladentische und Bücherbretter, Plüschsessel und Büsten berühmter Unterhaltungsschriftsteller vom alten Homer bis zum jüngsten – dem jüngsten – nun ja, lassen auch wir den Platz offen und allen noch mitstrebenden Kollegen die Gelegenheit, sich in Gips oder Biskuit an die Wand hinzuimaginieren!

»Einen recht schönen Sokrates hatte ich da oben; aber geschrieben hat der Mann ja eigentlich gar nichts, und als er vor anderthalb Jahren nächtlicherweile mit Nagel und Konsole herunterkam, habe ich es noch für ein Glück halten müssen, daß er das Attentat nicht bei Tage verübte und mir auf den Kopf fiel. Die augenblicklich beliebten Autoren von beiden Geschlechtern halte ich mir immer der Bequemlichkeit wegen handgerecht; und jetzt, bitte, kommen Sie einmal selbst hier hinter den Ladentisch und sehen Sie selber, in was für einer literarhistorischen Gefahr ich geschwebt habe. Er hing gerade drüber«, sagte mir der alte Achtermann; ich aber hatte ihm sogar noch dankbar dafür zu sein, daß er hinzufügte:

»Sie stehen dort auf der andern Seite, und darüber ist auch noch ein recht hübscher Platz, wenn es sich einmal wieder so macht, daß ich etwas für die Verschönerung des Lokals tun kann.« –

Leihbibliothek
von
Karl Achtermann

stand in halb verwischten Buchstaben über der Glastür, die auf die Straße hinausführte, und lud seit fast einem Menschenalter die Vorbeiwandelnden ein, billigst ihre laufenden geistigen Bedürfnisse zu befriedigen. Und – gottlob! – ein ziemlich anständiger Teil der Bevölkerung folgte der Einladung sogar »im Abonnement« – da wars noch billiger, abgesehen davon, daß der alte Achtermann dabei denn doch auch genauer wußte, wie er dran war. Ganz umsonst können es die Musen leider immer noch nicht tun; aber das muß man ihnen lassen, Rücksichten nehmen sie, und so billig wie die deutsche Nation ist noch keine andere auf Gottes Erdboden zu dem Rufe eines Kulturvolkes gekommen! So weit unsere Einsicht in die Sachlage reicht, ist Arthur Schopenhauer der allereinzige auf germanischem Geistesgebiete gewesen, dessen Freunde und gute Bekannte es nicht möglich machen konnten, seine Werke leihweise von ihm, und wenn auch nur »auf acht Tage«, zu erhalten. Zwei ganze Auflagen der »Welt als Wille und Vorstellung« hat der alte Bösewicht und »Egoist« dem Volke der Denker unter der Nase lieber zu Makulatur machen lassen! Reinewegs empörend bleibt es unter allen Umständen, und ein schwacher Trost kann für das deutsche Gemüt nur darin liegen, daß sich dieser Mensch auf seine holländische Abstammung stets viel zugute tat. –

Das Geschäftslokal der Firma K. Achtermann bestand aus zwei Räumen. Der vordere, größere wurde durch die schon erwähnte Glastür und das Fenster zur Rechten derselben wenigstens in einer nicht unangenehmen Dämmerung erhalten. Der zweite, kleinere war vollständig dunkel, enthielt aber den kleinen Kanonenofen, der das Lokal heizte, und neben dem Ofen ein kurzes, zersessenes Sofa, sowie einen niedrigen Schrank zur Aufbewahrung von allerhand Haushaltungsgerätschaften. Mit schöner Wissenschaft waren natürlich beide Räumlichkeiten vollgepfropft, die hintere dunkle freilich mehr mit der veralteten, der abgängigen. Nimmer aber hatte ein öffentlicher Bibliothekar mehr einem sich ausgesponnen habenden melancholischen Spinnrich geglichen als Achtermann an dem heutigen Tage auf seinem Sofa, neben seinem Ofen, unter der abgängigen Literatur der letzten dreißig Jahre!

Da saß er, kopfschüttelnd, vornübergebeugt, die Schultern aufwärts gezogen, die Hände zwischen den mageren Knieen zusammengelegt, die Zeitung des Tages unter die linke Achsel gekniffen.

»Vor Paris nichts Neues!... Aber hier – über England wird es geschrieben: mit einem Zwanzigfrankenstück in der Tasche ist er in Puys bei Dieppe angekommen – unsere Ulanen dicht hinter ihm her – und dann hat er sich zu Bette gelegt und ist gestorben!... Sie mögen sagen und schreiben, was sie wollen; aber wenn man so mehr als ein Menschenalter durch seine Freude und sein Vergnügen an einem ordentlichen Kerl gehabt hat, und dazu in meiner Stellung gegen ihn gestanden hat, so fällt einem solch eine Zeitungsnachricht doch immer aufs Gemüte. Der Graf von Monte Christo mit zwanzig Franken in der Tasche und unseren Ulanen auf den Hacken! In Neuille, ebenfalls bei Dieppe, ist er nun auch schon begraben. Und wir vor Paris! Und vor Paris nichts Neues, wie Podbielski meldet. Nun sehe einmal ein Mensch an, wie es wieder schneit!«

Er schüttelte sich, öffnete einen Augenblick die Klappe seines Ofens und sah zwinkernd in die Steinkohlenglut, schloß die Tür wieder mit Hülfe der Kohlenschaufel und blickte um das gewundene Rohr des Ofens nach dem Fenster und der Tür des vorderen Gemaches. Es schneite in der Tat recht munter, und der Wind warf das körnige Gestöber in rieselnden Schauern gegen die Scheiben.

»Hm, hm, Alexander Dumas tot!« seufzte Achtermann. »Hm, hm, und daß sie das sicherlich heute in Paris noch nicht wissen, das gehört doch wahrhaftig auch zu den Merkwürdigkeiten dieses Jahres! Das nehme mir keiner übel, wenn ich heute in Versailles, im Hauptquartier, ein Wort mitzureden hätte, so schickte ich ganz gewiß einen Trompeter und einen Adjutanten mit einer weißen Fahne und der Nachricht zu den Vorposten. Da braucht man wirklich kein alter Leihbibliothekar zu sein, um die Wirkung vorauszuberechnen! Das geht denn doch in der Tat über die ›Drei Musketiere‹ und ›Die Dame von Montsoreau‹ hinaus, von den ›Memoiren eines Arztes‹ gar nicht einmal zu reden. Da war das Buch von dem Monsieur Hugo über den Rhein, das hat vieles getan, um uns und sie zu dieser jetzigen glücklichen Abrechnung zu bringen; aber meinem alten, braven Alexander soll man auch das Seinige lassen. Mein Gott, wir vor Paris – Alexander Dumas tot – und von Paris aus nichts Neues! Einerlei, man muß doch ein alter Leihbibliothekar und in diesen Geschichten groß geworden sein, um das alles sich zurechtlegen zu können, wie das auf- und ineinander paßt. Bei unsereinem soll man sich erkundigen, wenn man genau wissen will, was Historie und was Kulturhistorie ist. Herr Gott, ist das ein Winterwetter!«

Es kamen einige Kunden, die abgefertigt wurden und beträchtliche Spuren ihrer Wege durch die Gassen auf dem Fußboden zurückließen. Verhältnismäßig hatte Achtermann gute Weile.

»Der Krieg tut wohl auch das Seinige dazu, aber das Wetter heute morgen doch das meiste«, brummte er. Es hat alles seine Regeln auf Erden; man muß nur lange genug drauf studieren, um sie auswendig zu lernen. Wer ist mir jetzt auf den Beinen? Natürlich einzig die alten Fräuleins, die eine Jungfer zu schicken haben und die heutige Zeitung erst morgen mittag lesen. Nun, wir sind lange genug dabei, um auch einmal für ein stilles Jahr und eine ruhige Stunde dankbar sein zu können.«

Er war an das Glasfenster seiner Tür getreten und wischte mit dem Ärmelaufschlag über die Scheibe vor seiner Nase, um sich wenigstens für einen Augenblick eine freiere Aussicht in die Straße zu schaffen.

»Nun sehe einmal einer an!« rief er. »Kann es gemütlicher beschrieben werden?«

Und mit einem Blick über die Schulter auf seine Büchergestelle:

»Kann es einer besser geben?«...

Das war freilich kaum möglich. Was hier in dieser Hinsicht augenblicklich geleistet wurde, war nicht zu übertreffen.

»Le Bourget hat neulich nicht ärger im weißen Pulverdampf und Wirbel gelegen. Jaja, und Charles Dickens ist auch tot seit dem neunten Juni! Der richtige Schüd–de–rump ists! Wahrhaftig, ein netter Ersatz für den gewohnten Dreck vor Weihnachten! Holla, ist denn dies Wassermann? Nun, das ist klar; was nicht ersaufen soll, das wird im Schneetreiben auch nicht umkommen. Na, nur herein, Alter; aber hübsch bescheiden – immer hübsch bescheiden! – alle Teufel, der halbe Winter hängt dem guten Kerl am Pelze! Jetzt besehe sich einer diese Kröte! Ist das eine Aufführung für einen treuen Hund, der seinen Herrn bei diesem Wetter vor Paris stehen hat? Soll ich dir wieder einmal ein Kapitel aus Snarleyyow vorlesen, um deine Moral zu verbessern und deine Begriffe von Anstand aufzufrischen?«

Es war ein tölpischer, graugelber, ganz gemeiner Köter mit gekappten Ohren und gestutztem Schwanz, der blaffend in dem Schneegewirbel der Gasse aufgetaucht war, an der Tür der Leihbibliothek, Einlaß begehrend, gewinselt und gekratzt hatte und jetzt den alten Achtermann zärtlich, aber unbeholfen zudringlich umtanzte und umsprang.

»Aber Fräulein?! Fräulein Natalie – auch Sie bei diesem sibirischen Orkan? O du meine Güte, geben Sie her Ihren Muff, geben Sie Ihre Musikmappe – schöpfen Sie Atem – kommen Sie zum Ofen. O liebes Kind, mußten Sie denn selbst bei diesem Wetter unterwegs sein?«

Es war eine hochrote, hübsche, aber augenblicklich nicht bloß vom Wind und Schneegestöber aufgeregte junge Dame, die der Sturm dem Hunde nachgeblasen hatte.

»Ich komme von drüben, Achtermann! – ja, ich muß mich einen Augenblick setzen! – Denken Sie sich, man hätte ihn soeben beinahe uns abgepfändet. Es ist doch ein wahres Glück, daß er kein teurer Leonberger, sondern nur als Künstler eine wertvolle Kreatur ist. Nur die Verachtung der Welt hat ihn Ihnen und uns gerettet. Die Frau Professorin liegt noch lachend auf ihrem Sofa, und ich – ich habe mein junges Leben in Ihrem sogenannten sibirischen Orkan dran gewagt, um Ihnen die neue heillose Geschichte brühwarm über die Straße zu tragen.«

»Abpfänden?« fragte Achtermann verwundert.

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