Wilhelm Raabe
Deutscher Adel
Siebenzehntes Kapitel
eingestellt: 4.8.2007
Es war eine ruhige Nacht, und durch ihre Stille keuchte ächzend und mit verhältnismäßiger Langsamkeit der lange Eisenbahnzug, der die Freunde nach Hause brachte. Es war ein großer Rekonvaleszentenzug; Herr Ulrich Schenck war nicht der einzige darauf, der noch einen Nachklang des Wundfiebers in den Knochen und Nerven spürte.
Wedehop schlief. Er hatte auf jeder Station die ganze unendliche Wagenreihe sozusagen bemuttern müssen, und was in dieser Beziehung
durch gute Reden und stärkende oder erfrischende Getränke zu leisten war, das war von ihm geleistet worden. Sämtliche Verpflegungskomitees unterwegs ließen sich seine Visitenkarte zum Andenken geben und hätten noch lieber seine Photographie genommen:
» Der ist wirklich gut!« hatten sie mit einigem Erstaunen sämtlich gemeint, und zwar in allen deutschen Dialekten, die das Schienengeleise von Südwest nach Nordost durchschnitt.
Die besten Reden und Trostworte machen
auf die Länge aber doch auch die Kehle des tröstenden Menschenbruders nicht feuchter; und so hatte dieser »Wirklich gute Berliner«, was die Getränke anbetraf, natürlich sich selber auch nicht außer acht gelassen; – und – einer kann nicht alles allein: Wedehop schlief wie ein toter Sieger gegen Ende der nächtlichen Fahrt.
Dagegen wachten Mutter und Sohn, die zu Anfange der Fahrt geschlafen hatten. Sie sprachen auch leise miteinander; für uns aber tritt wieder einmal der
Fall ein, den man sich so schwer klarmacht, nämlich daß man, je mehr man in der Seele eines andern Bescheid weiß, desto schwieriger von seiner Kenntnis durch Wort und Schrift Rechenschaft ablegen kann: immer vorausgesetzt, daß es sich, praemissis titulis, wirklich um Menschen und nicht bloß um Leute handelt. Auf die Titel kommts stets wenig an, sie dürfen dreist weggelassen werden – im erstern Fall, wenn, wie gesagt, von Menschen die Rede ist. –
Wir müßten die
Umdrehungen der Räder unter ihrem rollenden Wagen zählen können, wenn wir die Gedanken und auch Gedankenspiele dieser Mutter und ihres Sohnes in dieser schlummerlosen Nacht nachrechnen wollten, vorzüglich gegen die Zeit der Morgendämmerung.
»Mama«, sagte der Junge z. B., » eines bringe ich außer dem gelähmten Flügel aus dem allerneuesten welthistorischen Wirrsal mit: die Überzeugung, daß wir das deutsche Volk sind und bleiben, ob es sich auch jeder noch so bequem in seiner
eigenen Ansicht macht. Das außergewöhnliche Ereignis führt da nicht bloß den einzelnen, sondern auch die Menge in die Schule – der große Krieg nicht bloß den einzelnen, sondern die ganze Blase –« – Blase?« fragte die Frau Professorin.
»Das ist ein statistisch-studentischer Ausdruck für mehr als drei – Volk – Nation – kurz den ganzen momentan vorhandenen Haufen oder Rummel, wenn du lieber willst, Mama. Nimm ihn mir nicht übel, den Ausdruck nämlich,
– Wedehop schläft. Aber was ich sagen wollte, also was ich als edles, unsterbliches deutsches Volk mit bedeute, das kann ich ja wohl ruhig auch fernerhin in den Schoß der Götter legen; aber als ein individuelles Geschöpf hätte ich es doch nie für möglich gehalten, daß ich je so nervenschwach wie heute nach Hause kommen würde! Zeus auf dem Ida hat sich nie so hinter den Ohren gekratzt wie ich jetzt. O, beim Zeus, ich weiß ganz genau, wie es dann und wann auch im Olymp aussieht und was ein
Götter-Katzenjammer zu bedeuten hat!«
»Mein armes Kind, wir werden dich allgemach schon wieder auf die Beine bringen. Ich und –«
»Natalie! Meine süße, tapfere, menschliche, nervenstarke Natalie! Ach, Mama, der brave Pariser Epicier mit seiner nichtswürdigen Gewürzkugel ist es nicht. Es ist auch nicht die Angst um das arme Mädchen – ihres Vaters wegen –, was mir das Näherkommen und das, was ich noch an heilen Gliedern nach Haus bringe, so zitterig macht.
Der dumme Brief ist es! Der Brief, den ich ihr und dir damals schrieb mit ganz gesunden Gliedern, mit der Aussicht auf das belagerte und vielleicht mit Sturm genommene Paris, mit der Hols-der-Teufel-Stimmung aus all den Schlachten in den Knochen! Ich kann doch auch wohl, wenn ich mir Mühe gebe, einen vernünftigen Brief schreiben! Was wird sie nun von mir denken? Was wird sie sagen? Wird sie mir überhaupt etwas sagen? O Mama, so kam der arme Sünder vom Träbernfressen. So muß man nach
Hause kommen, um bis ins Mark hinein zu erfahren, daß der Mensch als Individuum gegen Individuum und nicht als einzelner gegen die Masse steht, um seine Neigungen und Abneigungen bis ins Tiefste durchzukämpfen! Da drüben unter den vierzig Millionen Franzosen habe ich vielleicht durch einen Druck des Fingers mein zweites Ich in romanischer Fassung aus dem Buche des Lebens weggeputzt; und ich sage dir, wenn ich das hier schriftlich hätte, vom Maire von Paris unterschrieben und untersiegelt, so
würde es mir doch ungeheuer gleichgültig sein. Weshalb stand der Esel, der M. Ulric Tavernier, gerade da! Ja sogar eine gewisse Genugtuung könnte ich verspüren, denn ich kenne mich viel zu gut, um allzuviel Wert auf mein Ich in gegenwärtiger germanischer Fassung zu legen, – Nun aber Natalie?! Weshalb mußte sie denn gerade da stehen oder vielmehr tagtäglich mit ihrer Musikmappe zu dir kommen, Mama?... Ich habe sie nun so herzlich lieb –«
»Und der alte Goethe
sagt:
Höchstes Glück der Erdenkinder
Ist nur die Persönlichkeit;
und was ihr Persönchen anbetrifft, so ist da wirklich nicht das allergeringste dran auszusetzen; nicht wahr, mein Kind?«
Der junge Mann lachte trotz seiner wohlbegründeten Beängstigungen: »O ihr unsterblichen Götter!«
»Nun denn«, lächelte die Mutter im schwachen Schein der Wagenlaterne, »so versuche ich es noch einmal, ein halb Stündchen weiter über meine
reuigen Anwandlungen und in meine guten Vorsätze weg- und hineinzuschlafen. Wir kommen jedenfalls währenddem auch hier dem Wendepunkt immer näher; ich gebe dir mein Wort darauf.«
»Hast du das – was das Schlafen anbetrifft – in den Krisen deines Lebens stets so gemacht, Mama?«
»Ja. Ich habe gottlob immer einen guten, ruhigen Schlaf gehabt. Zu jeder Stunde des Tages und der Nacht. In der Schlacht und im Frieden. Da hat selbst der erste Napoleon nichts vor der Frau
Marie Schenck vorausgehabt auf seinen Schlachtfeldern.«
»Gens nobilissima sumus!« murmelte der Sohn. »Ein adelig Geschlecht sind wir!« Und er überlegte mit grimmigem Bangen, was er zu tun und zu lassen habe, um diesen alten Adel, soviel es an ihm lag, aufrechtzuerhalten. Da fanden sich denn freilich allerlei Gedanken ein, die fähig waren, einen Menschen wach zu erhalten. Gesprochen wurde lange Zeit durch nichts weiter; aber die Räder drehten sich, der Zug donnerte über Brücken und
auch einigemal durch das Eingeweide eines Berges. Er schnob durch die Täler und vorüber an großen und kleinen Ortschaften – immer weiter, zuletzt durch die weite Ebene und die Morgendämmerung.
Sie waren wohl berufen, diese beiden Menschen, frei durch zu gehen; aber den Rädern unter ihnen hatten sie sich doch anheimzugeben. Wir wären oder würden allesamt wahnsinnig, wenn es uns nicht gegeben wäre, im ewigen Sturm, der uns umtreibt, dann und wann an Windstille zu glauben und das,
was nie ist und sein kann, für ein Wirkliches zu nehmen.
Diese beiden Reisenden, Mutter und Sohn, schliefen nicht; sie träumten mit offenen Augen von der Stille und Sicherheit des Daseins. Es schlief aber der Herr Leihbibliothekar Achtermann am Bett des mexikanischen Pulvererfinders – es schlief Natalie Ferrari auf ihrem kleinen Sofa, und Madam Naucke schlummerte sanft im Kreise ihrer Familie in der eigenen Behausung. Punkt Mitternacht ging ihnen allen der Kommissionsrat Señor
Pablo durch, und zwar in Begleitung des Hundes Wassermann. Es war merkwürdig, wie gern der kluge Hund mit ihm ging!
Auch Kinder, Verrückte und Tiere gehen wohl frei durch. Uns verständige Leute sollte jedesmal, wenn wir den Weg nicht zu finden wissen, ein Grauen ob dieser Tatsache ankommen.
Die Inhalte dieser Seite sind Eigentum der Öffentlichkeit.
Sollten trotzdem Urheberrechte entgegen unserem Wissen verletzt worden sein, bitten wir Sie mit uns Kontakt aufzunehmen.