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Wilhelm Raabe

Deutscher Adel

Neunzehntes Kapitel

eingestellt: 4.8.2007



Der Polizei-Revierleutnant und sein Revier!

Es gibt Hunderttausende, die sitzen in ihren kleinen stillen Städten, auf ihren Dörfern, und das Rotkehlchen singt ihnen vor ihrem Fenster, und sie hören den Kuckuck in ihren Morgenschlaf hinein.

Sie hören die Hähne, vielleicht auf dem eigenen Hofe; und wenn einmal ein Hund in ihrer Nachbarschaft den Mond anbellt, so haben sie am folgenden Morgen ein Gesprächsthema, das sich nach rechts und links zum Nachbar hinübertragen läßt, eine Unterbrechung der gewohnten Stille, deren man gedenken kann, wenn der Mond am folgenden Abend von neuem aufgeht. Auch im Winter der Schnee, wenn er gegen das Kammerfenster dieser glücklichen Leute rieselt, ist ein ganz ander Ding als der Schnee, der durch das Revier des Revierleutnants nächtlicherweile getrieben wird. Wir aber, wir erzählen an dieser Stelle besonders für die Leute mitten im idyllischen Grün, die keine Ahnung davon haben, was ein großstädtisches Polizeibüro in den ersten Stunden nach Mitternacht bedeutet. Zu bedauern ist nur, daß wir nicht die Frau Marie ihnen davon erzählen lassen können. Sie, die doch in so vielen Dingen Bescheid wußte, hatte diesen Ort zu solcher Stunde auch noch nie betreten – von den besonderen Umständen, die sie jetzt dahin führten, gar nicht zu reden. Sie schilderte nachher mündlich sehr gut; – viel besser, als wir es hier schriftlich vermögen.

Die beiden Herren, M. Ulrich und Wedehop, waren mehr als einmal drin gewesen. Butzemann »kannte die Geschichte auch«; und – die Frau Professorin Schenck ergriff plötzlich nicht den Arm ihres Sohnes oder den Wedehops oder Butzemanns Arm, sondern den Arm des Leihbibliothekars Achtermann und zog diesen, den übrigen vorauf, in die Tür.

Hinter ihnen drängte sich ebenso hastig der künftige Geheime Kunstrat, während Wedehop und Butzemann, wenn auch teilnahmsvoll erregt, so doch ruhiger als solider Rückhalt auf dem Fuße folgten. Und so – fanden sie Natalie Ferrari im Lichtkreise der Lampe über dem Schreibpult des Leutnants, diesem laterna-magica-haften Lichtkreise, durch den sich soviel Elend und Jammer, so manche Schande und so manches Verbrechen, so buntes, drolliges, possenhaftes Leben schob – auch nicht anders, als ob es, nur ein wenig farbiger auf Glastafeln gemalt, durchgeschoben werde.

Sie fanden das arme Mädchen in ziemlich ruhiger Unterhaltung mit dem Herrn Leutnant.

Dieser Herr, unter dessen Nase vorüber so manche Dinge gingen, von denen sich gottlob die meisten Leute, wie gesagt, nichts träumen lassen, hatte sich ihr, wie sie, freilich erst Wochen später, sich äußerte, als ein gar nicht übler Mann kundgegeben.

»Was er anfangs, als ich ihm so verstört auf den Hals fiel, von mir denken mochte, kann ich nicht sagen. Außer mir war ich natürlich, Mama (o der Schrei, mit dem mich Achtermann aus dem Schlafe aufjagte, gellt mir heute noch in den Ohren!), und so erschien er mir, ich meine, der Herr Leutnant, zuerst unbeschreiblich rücksichtslos. Sie hatten ihm aber auch zu gleicher Zeit einen betrunkenen jungen Engländer und ein unglückliches Geschöpf, das jemandem die Uhr aus der Tasche gezogen haben sollte, zugeschleppt, und so sprachen wir zuerst alle drei auf einmal auf ihn hinein, und ich glaube fast, ich ebenso laut wie die andern und jedenfalls auch so unverständlich. Arme Frauenzimmer bleiben wir doch stets, ob wir um Mitternacht eine Uhr gestohlen haben oder nicht; und ich hatte geradesogut den Kopf verloren wie eine Mutter mit sechs Kindern bei einem nächtlichen Brande. Es war ein wahres Glück, daß ich in allen meinen Kleidern auf dem Sofa gelegen hatte, als mich der arme Achtermann durch sein Geschrei weckte. Ich sage dir, Mama, ich wäre mit ihm gelaufen, wie ich sein mochte, ohne mich nur eine Sekunde lang auf den nötigen Anstand zu besinnen!... O Mama, dem Herrn Revierleutnant müssen wir noch in einer hübschen, höflichen Art irgendeine Liebe antun. Wäre er verheiratet, so hätte ich schon längst seiner Frau eine Visite gemacht; da er es aber nicht ist, so mußt du zu ihm gehen, oder Ulrich muß ihm noch einmal persönlich danken für seine freundliche Ruhe in jener Nacht, nachdem wir den englischen Gentleman besorgt und auch das arme Mädchen mit der Uhr abgefertigt hatten. Jetzt, wo ich alle meine Sinne wieder ordentlich beieinander habe, ist es mir um so unbegreiflicher, wie geschickt und tröstlich er sich und mir damals meinen Zustand klarzumachen wußte! – ›Mein Fräulein‹, sagte er, ›von Buffon haben Sie wohl gehört; – er war ein großer Naturgeschichtskundiger und brauchte nur einen Knochen, um sich das ganze ausgestorbene Tier daraus wieder zurechtzukonstruieren; uns von der Polizei (erschrecken Sie nicht!) genügt das Faktum, daß Ihr Herr Papa den Hund mitgenommen hat, um Ihnen die beruhigendste Versicherung geben zu können, daß wir beide wiedersehen werden (nicht wahr, Wassermann heißt der Steuerpflichtige?) und den Herrn Papa, wie ich hoffe, hoffentlich nicht unwohler als vorher. Bitte, nehmen Sie Platz, Fräulein. Nicht da auf jener Bank! Erlauben Sie, daß ich Ihnen meinen Stuhl anbiete. Sehen Sie, ich spreche nicht ohne Erfahrung: wer an das – absolute Weggehen aus unserer löblichen Zivilisation denkt, der nimmt keinen Begleiter mit und am allerwenigsten einen Hund – verlassen Sie sich drauf. Der aufgeregte Herr (Achtermann nannten Sie ihn?) will hier wieder vorgelaufen kommen; erwarten wir ihn also; ich würde gewiß selber – meiner Schwester nicht anraten, in einer abnormen Lage gleich der Ihrigen wieder nach Hause zu gehen. Bleiben Sie hier, bis dieser Herr Achtermann Sie abholt; sehen Sie einmal unsern Apparat arbeiten, das wird vielleicht Ihre Nerven etwas beruhigen; ich würde sagen: es wird Sie ein wenig zerstreuen, wenn das das richtige Wort wäre.‹ – Mama, ich bin geblieben und habe den Apparat in jene schreckliche Nachtwelt hinein arbeiten sehen, und – oh, könnte ich dir doch ganz deutlich sein! – meine Nerven haben sich wirklich und wahrlich nach und nach beruhigt. Ich habe auf Achtermann gewartet – nur dann und wann mit dem Taschentuch zwischen den Zähnen, des dummen Schluchzens wegen – bis – ihr kamt!«...

» Bis ihr kamt!« Bis zu ihrem letzten Atemzug wird Frau Natalie Schenck alle ihre höchsten Begriffe von freiem, erlösendem Aufatmen, von glücklichem Erwachen aus schwersten Träumen, von Äther überm Bergesgipfel, von frischestem Wehen über sonniges Meer mit diesen drei Worten in Verbindung bringen. Der Herr Revierleutnant, der so manche sonderbare Szene an sich vorbeigehen sah und sie meistens möglichst rasch zu vergessen strebte, bemühte sich merkwürdigerweise, diese im Gedächtnis festzuhalten, und es gelang ihm auch. Ein recht freundliches Verhältnis zu braven Leuten, das weit über ein höflich Grüßen über die Straße weg hinausging, knüpfte sich späterhin daran. –

Nun hatten sie wohl beide, – Ulrich und Natalie –, und nicht allein aus der Bibliothek ihres alten Freundes Achtermann heraus, sich ihre Phantasien über die inhaltvollste, wunderbarste Stunde ihres Lebens zurechtgemacht. Daß sie grade den Mond dazu hatten scheinen lassen, daß sie das Ganze mit Abendrot und Waldduft übergossen hatten, braucht nicht behauptet zu werden; aber das ist gewiß, daß sie die feierlich-schönen Momente nicht in diese übelduftende, anrüchige, verrauchte Polizeistube und in diese sonderbare Stunde des trübe anbrechenden Morgens verlegten. Einen verwundeten, verbundenen, gelähmten Arm des glücklichen Liebenden hatten sie sich wohl auch nicht als unumgänglich notwendig dazu gedacht; aber sie nahmen alles hin, wie es ihnen gegeben wurde, und gaben sich einander nicht nur vor Mutter und Freunden, sondern auch, da es nicht anders sein konnte, vor dem Revier-Polizeileutnant und seinen behelmten, rapportierenden und sehr große Augen machenden Untergebenen. Als Leutchen, die ihrer Jugend zum Trotz stellenweise zu den verständigen Menschen in diesem Erdendurcheinander gerechnet werden konnten, verließen sie sich unter Umständen ohne alle Naseweisheit auch auf die Weisheit der Vorvordern. Sie taten diesmal wohl daran; sie konnten gar nicht besser tun. Es sind die Vorvordern, die es schon längst ausfindig gemacht haben, daß Zeit und Umstände auf niemand warten.

Wenn wir hier endlich auch einmal das Wort nehmen dürfen, so sagen wir nur unsere Meinung, nämlich, daß es gar keine richtigere Stunde und gar keinen bessern Ort geben konnte, um sich zu gegenseitiger Hülfe und Aufrichtung im modernen Leben die Hände zu reichen. Und sie reichten sich dieselben ohne weitere Umstände und ohne alle Ziererei. Der Herr Polizeileutnant sah über sein Pult weg ihren ersten Kuß an; daß er wegsah, konnte man nicht von ihm verlangen. Der eben gegenwärtige rapportierende Schutzmann schien grüßend die Hand an den Helm legen zu wollen, besann sich jedoch aber noch und schob ihn nur auf das eine Ohr, um sich grinsend bequemer hinter dem andern kratzen zu können.

Viele Worte machten sie nicht dabei. Dazu waren die Stunde und der Ort und die Umstände, die sie hergeführt hatten, durchaus nicht günstiger als andere Stunden, Örter und Umstände. Die Mama wischte sich verstohlen eine Träne ab; Butzemann, der ja eben auch »sein einziges Kind ins Ungewisse weggegeben« hatte, versetzte sich schnaufend ganz in die Situation; und Achtermann – Achtermann wußte eigentlich gar nicht, was da »eigentlich vorging«, und das ist ein Glück für uns; denn als er später dahinterkam, erreichte seine Unzurechnungsfähigkeit ihren Gipfel, und es ist nie angenehm, mit einem unzurechnungsfähigen Menschen zu tun zu haben.

Der Kühlste, der Zurechnungsfähigste blieb natürlich Wedehop, der sich denn auch als der erste von neuem an den Leutnant wendete, und zwar mit den Worten:

»Nicht wahr, das ist doch endlich einmal etwas anderes, lieber Herr? Mal, sozusagen, eine niedliche Episode in Ihrer Geschäftspraxis!... Erquickend – rührend, was?... Wird einiger poetischen Auffassungsgabe bedürfen, um in Ihrem diesmaligen Berichte nach oben klargestellt zu werden und morgen in den Blättern unter der Rubrik ›Lokale Vorfälle‹ im rechten Lichte zu erscheinen?! Mein Name ist Wedehop; darf ich Ihnen eine Prise anbieten?«

Der Revierleutnant griff lächelnd in die dargebotene Dose:

»Wenn ich nicht irre, so habe ich bereits das Vergnügen gehabt, Herr Doktor –«

»Wirklich? Das freut mich! Lassen Sie uns jedenfalls die Bekanntschaft erneuern. Jaja, ich glaube mich jetzt auch zu erinnern: unsere ersten Beziehungen datieren aus der Konfliktszeit. Nun, wir waren beide damals noch jünger und grüner als heute. Ich bin in den kurzen Jahren fast ein wenig zu sehr in die Breite und ins Verständige gegangen. Aber nun, lieber Herr und Freund, geben Sie uns offen Ihre Meinung. Ist in dieser Nacht unsererseits noch irgend etwas zu tun oder zu lassen, um diesen – jenen – jenen andern betrübten Zwischenfall zum besten zu wenden?«

Der Revierleutnant zuckte die Achseln, und flüsternd sprach Wedehop zu ihm:

»Es ist auch meine Meinung, daß nicht die geringste Aussicht vorhanden ist, daß wir des armen Kerls vor Sonnenaufgang wieder habhaft werden.«

Der Revierleutnant zuckte wieder die Achseln und bestätigte, ebenfalls flüsternd, dem Übersetzer seine Ansicht durch eine kurze, bündige Auseinandersetzung der Sachlage.

Mit der gewohnten Sonorität, die schon an und für sich viel Beruhigendes an sich hatte, wenn eben nicht das Gegenteil erforderlich war, richtete Wedehop das Wort von neuem an die Freunde:

»Meine Herrschaften, unser guter Herr Leutnant hier – wie Achtermann da sagen würde – ist der festen Überzeugung, daß wir ruhig nach Hause gehen können, ohne uns mehr als die nötigsten Sorgen zu machen. Daß sich unser armer Freund – Papa und Schwiegerpapa wiederfinden wird, steht zweifellos fest; aber wir – wir können augenblicklich nicht das mindeste dazu beitragen. Ulrich, gib acht, d. h. gib deiner lieben Braut den Arm! O bitte, Fräulein Natalie, lassen Sie die Stuhllehne los! Die Mama wird Ihnen sagen, daß niemand so zur richtigen Minute vom Schicksal vom Schwarzwald hergeschickt wird, wenn es nicht für den augenblicklich zu lösenden Fall das Beste im Sinne hat.« – »Stimmt!« brummte Butzemann senior.

»Mein süßes Herz!« flüsterte Ulrich. »Du mußt meinen gesunden Arm nehmen! Nun müssen wir wohl zusammengehen, wie es sich geschickt hat, mein armes Mädchen. Es ist eine schlimme, aber schöne Nacht!«

»Ich bleibe bei dir, mein Kind«, sagte die Frau Marie. »Du nimmst mich mit nach deinem trostlosen Nestchen. Ulrich geht mit Wedehop; und Herr Butzemann bringt unsern guten, alten Achtermann nach Haus. Es ist wohl eine schlimme Nacht; aber wir wollen uns tapfer halten, Natalie. Zu Narren soll uns das Glück nicht machen, wie es uns auch schüttelt und rüttelt. Und was den Jungen da betrifft, so hab ichs mir genau überlegt, ehe ich ihn dir nahe kommen ließ.«

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