Wilhelm Raabe
Deutscher Adel
Viertes Kapitel
eingestellt: 4.8.2007
Das eine Lebewohl war so rasch dem anderen gefolgt, und so plötzlich hatte Fräulein Natalie Ferrari von dem Gründer und Eigentümer der Achtermannschen Leihbibliothek Abschied genommen, daß es gar nicht zum Verwundern war, wenn er erst nach einer längeren Pause imstande war, sich an den Hund zu wenden, und zwar mit den Worten:
»Du bist mir ein schöner Patron mit – allen – deinen – Talenten! O, den Monsieur Ulrich sollte ich heute an deiner
Stelle hier vor mir haben! Da kann man doch wahrhaftig sagen: wie der Herr, so der Hund! Ist das die Aufgabe des Menschen, in allen vier Fakultäten und sieben freien Künsten Rad zu schlagen und dann ruhig hinzugehen, Paris zu belagern und uns hier mit drei eingetretenen Rohrstühlen, einem dreibeinigen Stehpult, einem Dintenklecks auf dem Boden und einem Stiefelknecht in Holzkohlenzeichnung an der Wand abzumalen? Jetzt kann ich mir nur den ganzen Tag einbilden, ich steckte in seiner
Haut und hätte mich heute so sträflich blamiert vor einer solchen Mutter und solcher ausgezeichneten jungen Dame wie Fräulein Natalie Ferrari!... Und die Frau Professorin hat wieder nur gelacht – und Fräulein Ferrari scheint sich auch recht amüsiert zu haben! Und ich weiß, ich weiß vor vielen Menschen, wie viele ungezählte Millionen dieses Lachen und dies Amüsement wert ist, aber unrecht ists doch, sich so darauf zu verlassen und in den Tag hinein zu wirtschaften! Hut und Weide sollte man
euch beiden kündigen, dir, Wassermann, so gut wie dem jungen Herrn da vor Paris! Ohne die Sorge, die man hat, daß selbst solchem Unkraut wie dieser Ulrich doch einmal aus Zufall ein Unglück zustoßen könne, wärs meinerseits gewiß schon längst geschehen. Ja, stelle dich nur auf die Hinterfüße, stelle dich nur tot, spring mir nur über den Stuhl und Ladentisch, komme du mir nur mit deinem Wedeln und Winseln: Prügel verdient ihr beide – du trotz deiner Künste und er trotz seinem Griechischen
und Lateinischen und seiner Philologie und Philosophie und was er sich sonst von Wissenschaften hat anfliegen lassen, während er mit offenem Munde in der Sonne lag oder dem lieben Gott seinen Tag mit Spazierengehen stahl! Dem Halunken Trute werde ich aber doch meine Meinung wegen Amtsmißbrauch nicht vorenthalten, sobald ich ihm einmal von meiner Ladentür aus die Hand an den Kragen lege; – ach Gott, meine Frau! Weiß der Himmel, wieder einmal Mittag!«...
Wie nichts in der Welt, so
ist auch der ärgste Schneesturm nicht von Dauer. Es war fürs erste alles niedergeschüttet worden, was da oben im Widerstreit von Kalt und Warm aus der Feuchte sich zu Kristallen umgesetzt hatte; und durch die Spalten des wehenden Gewölks besah sich die Sonne kaltlächelnd die weiße, reinliche Stadt. Wer sich aber weder kalt- noch warmlächelnd den Leihbibliothekar Achtermann und den Hund Wassermann besah, das war die Frau Leihbibliothekarin, nachdem sie ihren Handkorb mit einem klirrenden Stoß auf
den Boden niedergesetzt hatte. Frieden und Freundschaft, gleich dem Züricher Breitopf, bedeutete hier der schwach dampfende Essennapf wahrlich nicht, und mit dem glückhaften Schiff war der Omnibus, auf dem er den größten Teil des Weges hergeführt worden war, auch nicht zu vergleichen.
»So?!« sprach die resolute Dame, die Arme in die Hüften stemmend. »Natürlich ganz wie ich mich schon vom Hause her darüber im voraus geärgert habe! Du und das Vieh! Das Vieh und du; wie aus
einer Mutter Schoße! Das Lokal verunreinigt wie eine Meßmenagerie und ich mit dem Mittagessen durch das Unwetter unterwegens, um die Nichtsnutzigkeit weiter zu füttern und mir den Tod vor Gift und Galle an den Hals zu holen!... Achtermann, Achtermann, sagen tue ich nichts mehr, aber was ich tun werde, das will ich dir sagen. Die schnippische Gans, die Ferrari, ist mir da eben auch an der Ecke begegnet: der kann ich nicht mit Fliegentod aufwarten; aber wem ich damit dienen werde, dem werde
ich jetzt den Tisch decken, und wenns mich eine Groschenwurst für mein gutes Geld in den Handel kosten sollte.«
»Aber Beste«, stammelte Achtermann, »ich bitte dich um alles in der Welt –«
»Und da schnüffelt er mir wahrhaftig vor der Nase an dem Korbe herum!« schrie die zornentbrannte Gattin. »raus, hinaus! heißt es für jetzt, für heute, und was es für morgen heißt – das – wird sich – finden!«
Schon hatte sie niedergegriffen und den
unglückseligen Gegenstand ihrer Erregung an dem Halsbande mit der Steuermarke gepackt. Der Griff war zu plötzlich – es würde gar nichts genützt haben, wenn sich die Liebe, die Angst oder der Schrecken mit einem Schrei hindernd dazwischen geworfen hätten. Achtermann stand nur starr, und schon war die Tür aufgerissen, und heulend flog das bedeutendste kanine Talent der Gegenwart hinaus in die Gasse und überschlug sich mehrere Male in dem gottlob immerhin weichen Schnee.
»Jetzt
mach rasch, Achtermann«, keuchte die Gattin, »ich habe nicht Lust, stundenlang auf deine leeren Teller zu warten.«
Der Leihbibliothekar kroch neben seinem Ofen zu Tische, und – nachher wundern sich die Staatsanwälte immer noch über die Unzulänglichkeit der Wissenschaft, der Chemie, wenn sie nicht in jedem Falle des Gattenmordes imstande sind, sofort anzugeben, was für ein Gift in Anwendung gebracht wurde! Für uns aber tritt eine kuriose Frage heran, nämlich die: wer von diesem
Moment an weitererzählen soll, wir oder der Hund – der Hund oder der deutsche Schriftsteller.
Wir halten das Ohr hin und horchen hinaus:
»Der Hund Wassermann natürlich!«
Wir neigen den Kopf nach der andern Seite hinüber:
»Bah, der deutsche Humorist!«
Damit sind wir denn ziemlich so klug als zuvor.
»Wir ersuchen dringend, die Stimmen zu zählen«, klingt es von der Partei des Hundes her.
»Man soll die Stimmen wägen
und nicht zählen«, zitiert die Gegenpartei.
»Sie würden mir einen unendlichen Gefallen erweisen, wenn Sie mir Ihre Meinung nicht vorenthalten würden, lieber Wedehop! Sie, der Sie uns alles übersetzen, werden wissen –«
»Was?... Dummes Zeug! Nichts weiß ich; aber einen guten Magen habe ich gottlob, und die Milz ist auch noch so ziemlich in Ordnung, alter Kerl. Wäre ich ein Russe, Holländer oder Engländer und hätte Sie zu übersetzen, so würde ich
selbstverständlich meine Stimme ebenfalls dem Wassermann geben; so aber als Glied des Volks der Denker frage ich erstens einfach: weshalb stellen Sie solche alberne Fragen? und – da Sie dieselben gestellt haben – gebe ich Ihnen ruhig den Rat: schreien Sie die Antwort tot, übertrumpfen Sie den verdammten Köter, überheulen, überwinseln Sie ihn; kurz, bleiben Sie kein Narr, sondern fangen Sie endlich einmal an – etwas für sich selber zu tun.«
»Das ist freilich
ein guter Rat, aber –«
»Ihnen ist nicht zu helfen. Wissen Sie was? Ich gehe jetzt zu Tische und habe keine Zeit mehr. Hier aber sind wir vor Achtermanns Laden. Der Brave wird bereits gespeist haben; wünschen Sie ihm also eine gesegnete Mahlzeit und lassen Sie sich mal das Mémorial de Sainte-Hélène herunterreichen. Im vierten Bande Seite 391 bis 392 werden Sie finden, wie der große Kaiser Napoleon der Erste, das Individuum an sich, als persona dramatis, das heißt hinter der
Schauspielermaske, dachte über das Abstimmen durch Majoritäten und Minoritäten unter den Vorkommnissen, Anlässen und Zudringlichkeiten des – täglichen Lebens. Selbst er ließ sich durch das größere Geschrei bestimmen und umstimmen; und so kann man es der Menge freilich nicht verdenken, wenn sie sich ihre Hauptwaffen gegen den einzelnen nicht nehmen lassen will und nötigenfalls, ihr heiligstes Recht im Busen tragend, einem Widersprechenden das Gehirn ausschlägt oder die Seele aus dem Leibe
trampelt. Leben Sie wohl für jetzt, lieber Freund. Es hat mich recht gefreut; – auch unnütze Worte, kurz vor Tisch in den Wind gesprochen, sind imstande, den Appetit zu heben.«
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