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Wilhelm Raabe

Deutscher Adel

Achtes Kapitel

eingestellt: 4.8.2007



Der Leihbibliothekar stand hinter den trüben Glasscheiben seiner Ladentür und wischte mit dem Rockärmel drüber, um dem trüben Tage noch einen letzten Blick auf seinen Freund Wedehop abzugewinnen. Aber Wedehop war bereits um die Ecke verschwunden, und so wendete sich auch Achtermann wieder und sah sich seufzend in seinen Geschäftsräumen um.

Ja, da stand es in den Fächern von Tannenholz, gebunden, numeriert, mehr oder weniger abgegriffen – alles, was mehr oder weniger der Menschheit über sorgenvoller ärgerliche oder nur lang sich hinschleppende Stunden hinweggeholfen hatte, und er verspürte nicht die mindeste Lust, sich durch einen Griff aufs Geratewohl auch wieder einmal selber in das gute Reich, das Zwischenreich, welches er so trefflich beherrschte, zu erheben und von seinem, ihm eben noch durch den Freund bestätigten Bürgerrecht darin Gebrauch zu machen.

Er war ja selber durch den Straßenkot und das Tauwetter spazierengegangen; es blieb ihm also nichts übrig, als mit dem Knöchel des Zeigefingers die winterwetterlich juckende Nasenspitze zu reiben und zum Himmel emporzuschauen.

»Von dem muß man es heute auch schriftlich oder gedruckt haben, um es glauben zu können, daß er einmal blau gewesen ist!« murmelte er. In demselben Augenblicke sah er auf die gegenüberliegende Haustür und wich zurück: »Da ist sie!«...

Sie kam über die Gasse, rot wie eine Rose (das gewöhnlichste Bild ist und bleibt immer das beste). Sie fuhr mit dem Arm und Ellbogen mehrmals auf dem kurzen Wege vor dem Gesicht her. Sie sah auch zu dem grauen Winterhimmel empor, und halb weinerlich, halb lächerlich zuckte es um ihren hübschen Mund. Sie hatte die beste Absicht, so ruhig als möglich auszusehen, aber fertig brachte sie es nicht, und zu verlangen war es auch nicht von ihr.

Sie tastete nach dem Türgriff, ehe sie ihn faßte; und dann gelang es ihr auch nicht, auf den ersten Griff die Tür zu öffnen. Die kleine, sonst so feste und geschickte Hand war in diesem Augenblick nicht mehr imstande, das Gewöhnlichste ruhig zu nehmen.

»Lieber Herr Achtermann, ich brauche heute kein neues Buch mehr. Ich komme heute doch nicht zum Lesen! Adieu, Herr Achtermann!«...

»Ach – Fräulein Na–!« Es war vergeblich, und der Gründer und Inhaber des K. Achtermannschen Geschäfts gab es auch sofort auf. Als er wiederum an seine Glastür trat, war Fräulein Natalie Ferrari um die nämliche Ecke verschwunden wie Freund Wedehop; und nachher war es gerade, als ob rein der Teufel in das deutsche Lesepublikum gefahren sei.

»Ich bin fest überzeugt, sie lesen auch in Paris heute unter ihren Bedrängnissen weiter. So sind die Leute!« rief der Leihbibliothekar, und das Wort fiel in den einzigen Augenblick freiern Nachdenkens, der ihm bis zum späten Abend hin gegönnt wurde.

»Der gute Paul!... Er ist also wieder da!« sagte er, als er am Abend in seinen abgetragenen Oberrock kroch. »In einer Beziehung hat Wedehop recht: aufeinander angewiesen sind wir von der Natur. Es ist nicht mehr zu zählen, wie oft er von Kindheitsbeinen an mir den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Wenn ich nur an die Prügel denke, die er verdient hatte und welche ich bekam! Von meinen Sparbüchsen hat er auch immer mehr gehabt als ich. Und dann – und dann –«

Er dachte an Natalie Ferraris Mama, die auch nicht als solche in die Welt fiel, sondern ganz allgemach zu einem lachenden, lockigen Backfisch heranwuchs und mit den »übrigen Zeitgenossen« in die Tanzstunde ging.

»Sie hatte ihr großes Vergnügen damals an Wedehop und mir. Und wie ich mich und ihn in der Erinnerung beim alten Thürnagel in der Leipziger Straße dahinhopsen sehe, kann ich ihr eigentlich einen Vorwurf aus ihrer Lust an uns nicht machen!«

Damit schrob er die Gashähne zu, und das Reich der Romantik, soweit es in den Büchern gedruckt stand, versank im Dunkel. Kopfschüttelnd schloß er Läden und Tür und wanderte seinem häuslichen Herde zu. Es ist wahrhaftig nicht wahr, daß man einen vorsätzlichen Mord begangen und das Wissen davon unentdeckt zwanzig Jahre lang mit sich herumgetragen haben müsse, um erkennen zu lernen, was das Gewissen in des Menschen Brust bedeute. Aber wenn etwas das Furchtbare unseres Daseins in dieser Welt zum Bewußtsein bringen kann, so ist es die Erkenntnis davon, daß wir auch den Erinnyen zum Scherze in sie – die Welt hineingesetzt worden sind.

Man konnte nicht sagen, daß es eine Todsünde sei, um neun Uhr abends von einem Freunde abgeholt zu werden, um einem andern Freunde in der Bedrängnis des Lebens womöglich beizustehen, aber – der Mensch rechne da mal mit seines Busens Tiefen! Was den sonst gar nicht so übeln Menschen Achtermann anbetraf, so kam der mit dem Gefühle, alle sieben Todsünden auf dem Gewissen zu haben, zu Hause an. Er hatte sich auch nicht im mindesten in seinen Ahnungen und Voraussetzungen getäuscht: erträglicher war die Stimmung gegen ihn an seinem Häuslichen Herde nicht geworden seit dem Morgen.

Schlimmer war sie geworden. Ducrot ließ auch hier grüßen, und Trochu empfahl sich gleichfalls. Das naßkalte Wetter den Tag über war von dem übelsten Einfluß auf die Laren und Penaten des armen Leihbibliothekars gewesen. Wenn es am Morgen von schnöden Bemerkungen nur geträufelt hatte, so goß es jetzt von ihnen. Bäcker und Müller, Regen und Schnee jagten einander auch hier, und klatschend schlugen die wässerigen Flocken dem heimgekehrten Hausherrn auch innerhalb seiner vier Wände ins Gesicht. Gattin und Tochter taten ihr möglichstes, den Gatten und Vater mit dem Dache über dem Kopfe obdachlos zu machen. Den Tee hatten sie ihm selbstverständlich kalt gestellt, die Butter war gerade fünf Minuten vor seiner Heimkehr zu Ende gegangen. Seine Zähne waren leider Gottes nicht so hart als das Brot, welches er auf dem Tische fand. Das Messer hatte er sich selber aus der Küche zu holen, und zwar ohne Licht. Der Zucker wurde ihm natürlich zugeteilt; aber Pfeffer und Salz waren dagegen in wirklich verschwenderischem Überfluß vorhanden, und er hatte durchaus nicht nötig, selber sich damit zu bedienen; es waren die beiden einzigen Gewürze, die ihm willig handgerecht zugeschoben und dargereicht wurden.

Daß er seine Damen im hellen Hauskriege mit dem Hausbesitzer und einen wenig erfreulichen Brief (geöffnet) des letztern neben seinem Teller vorfand, eröffnete seiner heimischen Behaglichkeit nur die bekannte Aussicht nach einer anderen Seite hin. Er kannte das wirklich schon, und so seufzte er nur im stillen:

»So muß ich morgen schon wieder einmal mit dem guten Manne reden.«

Neun Uhr! Die nahe Kirchenuhr zählte ihm die Schläge langsam zu.

»Zieh mir endlich die Pantoffeln an, Achtermann!« schnarrte die Gattin. »Was soll denn das bedeuten, daß du mir den ganzen Abend in den Stiefeln herumläufst?«

»Liebe«, stotterte der Vater der Familie, »du hast recht; aber – aber, wenn du nichts dagegen hast, so möchte ich –«

»Du möchtest?... Was möchtest du denn wiedermal?«

»Ja, das möchte ich gleichfalls wohl wissen«, rief Fräulein Meta, das dünne Gesicht so weit als möglich vorschiebend.

»Ich – ich habe wirklich – noch – einen Weg –«

»Auszugehen?« kreischte die Gattin, der mit vollem Rechte die Arme am Leibe niedersanken. Die Tochter zeigte den dünnen Hals noch mehr:

»Wohin, Papa? Das muß ich sagen!«

»Ich versichere euch –«

»Du sagst uns auf der Stelle, was du vorhast, Achtermann! Das ist ja einmal wieder eine ganz neue Mode, und ich will auf der Stelle, auf der Stelle wissen, was das zu bedeuten hat.«

»Ja, Mama, daß ich nicht neugierig bin, weißt du; aber dieses macht selbst die Beine hier unter meinem Stuhle wißbegierig. Papa, du mußt das freilich auf der Stelle sagen, was du vorhast. Nachher weiß ich denn schon, ob ich in meinen Gedanken recht gehabt habe, nämlich daß das Fräulein da drüben, die Klaviermamsell, das Fräulein Ferrari, wieder in der Geschichte auftritt.«

Der Leihbibliothekar suchte vergeblich in allen Geschichten, die seine Bibliothek enthielt, durch das in- und ausländische romantische Alphabet, durch seinen Auerbach, Balzac, Clauren, Dumas, Eichendorff, Freytag, Goethe und Hesekiel, kurz durch sämtliche alte und neue Literaturpropheten mit all ihren Helden, Rittern, Räubern, idealen Künstlern, Juden und Gründern nach einem schneidigen lösenden Worte. Es blieb ihm aus, und er war geradeso verloren wie jeder andere Held auf seinen Bücherbrettern, wenn es nicht auch hier im letzten, schrecklichsten Moment kurz, aber deutlich an die Türe gepocht hätte.

»Recht schönen guten Abend, Achtermann. Meine Damen – ich mache mir das Vergnügen!« sagte Wedehop. Er war seit längeren Jahren an irgendeinem Orte nicht so pünktlich erschienen und so zur richtigen Zeit.

»Nun, was ein heißer Stein ist, weiß ich«, pflegte er zu sagen, »und was ein Tropfen darauf bedeutet, weiß ich auch, also komme ich stets ganz gemütlich als kompletter Platzregen, und wenn es nicht anders geht, auch mit dem nötigen Wind. Überall mit Haufen – einerlei, ob Grobheit oder Liebenswürdigkeit; das ist meine Maxime. Damit richtet man was aus. Alles, was unter dem Ganzen und Vollen bleibt, ist lächerlich und macht lächerlich. Laßt nur einen Dicken und einen Magern zu gleicher Zeit in die Tür kommen und seht, wer von beiden am meisten imponiert.«

Dick trat der gute Wedehop durch jede Pforte, aber im gegenwärtig vorliegenden Falle auch unendlich liebenswürdig. Die Art und Weise aber, wie er den alten Freund seinem gemütlichen Neste entnahm und ihn seinen behaglichen Hausgöttern und -göttinnen entführte, steht etwas weiter hinten, wo er wirklich sein Wort wahr macht und Fräulein Meta Achtermann unter die Haube bringt. Butzemanns Keller spielt auch dabei mit – oh, selbstbewußte Charaktere überwältigen die Welt in jeglicher Art, Form und Darstellung nur dadurch, daß sie die feste Gewißheit in sich tragen, daß ihnen von außen her dabei geholfen werde.

Freund Wedehop stand fest, nicht nur auf seinen Füßen, sondern auch auf der Gewißheit, daß Butzemanns Keller ein nicht geringes Interesse für Frau und Fräulein hinter seiner roten Laterne in sich trage.

»Wir sind nur die Vermittler, wo wir uns groß, bedeutend, epochemachend zeigen, und nichts weiter. Frage Helden und Weise danach, sie werden bescheidentlich dir dasselbe gestehen, Achtermann. Dir ist das natürlich noch nicht klargeworden; aber ich gebe dir mein Wort darauf, deine Tochter heiratet hinein in Butzemanns Keller. Das Fatum hat es beschlossen, also wundere dich heut abend nicht weiter über die Liebenswürdigkeit deiner Frau gegen – mich.«

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