Wilhelm Raabe
Die Akten des Vogelsangs
1. Abschnitt
eingestellt: 20.7.2007Die wir dem Schatten Wesen sonst verliehen,
sehn Wesen jetzt als Schatten sich verziehen.
Peter Schlemihl
An einem Novemberabend bekam ich (der Leutnant der Reserve liegt als längst abgetan bei den Papieren des deutschen Heerbanns), Oberregierungsrat Dr. jur. K. Krumhardt, unter meinen übrigen Postsachen folgenden Brief in einer schönen, festen Handschrift, von der man es kaum für möglich halten sollte, daß sie
einem Weibe zugehöre.
»Lieber Karl!
Velten läßt Dich noch einmal grüßen. Er ist nun tot, und wir haben beide unsern Willen bekommen. - Er ist allein geblieben bis zuletzt, mit sich selber allein. Daß ich mich als seine Erbnehmerin aufgeworfen habe, kann er freilich nicht hindern; das liegt in meinem Willen, und aus dem heraus schreibe ich Dir heute und gebe Dir die Nachricht von seinem Tode und seinem Begräbnis. Dieser Brief gehört, meines Erachtens, zu der in seinen Angelegenheiten (wie lächerlich dieses Wort hier klingt!) noch nötigen Korrespondenz. Seinen Ton entschuldige. Es klingt hohl in dem Raume, in welchem ich schreibe: er hat die Leere um sich gelassen, und wie ein Kind nenne ich Dich, Karl, noch einmal Du und bei Deinem Taufnamen; es soll kein Griff in die Zukunft sein; es ist nichts als ein augenblickliches letztes Anklammern an etwas, was vor langen Jahren schön, lustig, freudenvoll und hoffnungsreich gewesen ist. Auch Deine liebe Gattin wird den Ton verzeihen, wenn sie auch gottlob nichts weiß von der Angst, die wir Weiber haben können in einem so leeren Raume. Ihre Angst im Dunkeln wird sie ja wohl auch schon gehabt haben in ihrem Leben.
Helene Trotzendorff als ein sich fürchtendes Kind? - Nein, doch nicht! - So ist es nicht! - Die wilde Törin möchte sich nur entschuldigen, daß sie Euch ruhigen Seelen durch ihre Nachricht den bürgerlichen und häuslichen Frieden stört. Von jetzt an, lieber Karl, gedenke meiner als einer mit dem Freunde zu den Toten Gegangenen; ich wollte, ich könnte sagen: in den Frieden.
Euer Freund Leon war sehr aufmerksam, doch Eure Frau Fechtmeisterin hat mir das Recht zuerkannt, das Begräbnis zu besorgen. Er, der Herr Kommerzienrat des Beaux, tut mir nur die nötigen Wege. Nun bin ich allein mit dem Freunde und freue mich über ihn und könnte ihm wieder wie unter den Holunderbüschen zwischen den Buchsbaumeinfassungen der Aurikelbeete unserer Kindheitsgärten oder auf unseren Bergen und Waldwiesen in den Haarbusch greifen und ihn Schelm nennen oder einen schlechten Menschen. Verdient hätte er das heute, wie vor Jahren. Er hatte in seinem Frieden noch denselben Zug um Nase und Mund wie vor Jahren, wenn er mich zu Tränen vor Ärger und Erboßung und Dich, guter alter Jugendkamerad, zu einem Zitat aus einem deutschen oder lateinischen Klassiker gebracht hatte.
Die Frau Fechtmeisterin hat das große, schlaue Kind wahrhaftig wie ein kleinstes, dummstes, hülfslosestes Kind besorgt und zu Tode gepflegt. Sie ist jetzt nahe an die neunzig Jahre alt und sagt: ›Daß ich das noch tun mußte, hat mich das ganze letzte halbe Jahr durch auf den Beinen erhalten; ich hatte es ihm ja aber auch so versprochen, wenn ich auch niemals geglaubt habe, daß mal ein Ernst aus seinem Spaß werden könne.‹ Sie konnte es nicht wissen, daß er immer Ernst aus dem Spaße machte!
Wenn wir nun zusammensäßen, so könnte ich Dir wohl noch vieles sagen. Zu schreiben weiß ich nichts mehr; ich bin auch sehr müde.
Mit den besten Wünschen für Dich und Dein Haus
Helene Trotzendorff, Widow Mungo.«
»Was hältst du so den Kopf mit beiden Händen?« fragte mich recht spät am Abend meine Frau, nachdem die Kinder längst gekommen waren, um mir eine gute Nacht zu wünschen. »Hast du heute
wieder mal kein Stündchen Zeit für uns übrig gehabt, armes Männchen? Großer Gott, diese Berge von Akten! Was haben wir denn eigentlich noch von dir?«
Sie lehnte sich bei diesen Worten über meine Stuhllehne und legte mir ihre kühle Hand auf die Stirn.
»Die bösen Akten sind es diesmal nicht, mein armes Weibchen. Es ist etwas viel Grimmigeres. Was erschrickst du denn? Dich und deine Kinder geht es nur recht mittelbar was an.«
Ich gab ihr den Brief der Witwe Mungo,
der mich in dieser Nacht über die gewohnte Zeit hinaus von dem allabendlichen Plauderstündchen im Wohnzimmer ferngehalten hatte, und Anna nahm ihn, wenn nicht erschreckt, so doch sehr verwundert und gespannt, und sah natürlich zuerst nach der Unterschrift.
»Von Helene Trotzendorff?«
»Von der Witwe Mungo.«
Die Pfeife war mir längst ausgegangen; ich stand auf, um sie in einem Wirrwarr von Gedanken gedankenlos wieder anzuzünden, und ging nun in meiner Arbeitsstube
auf und ab, während Anna an meinem Schreibtische in meinem Arbeitsstuhl Platz nahm und zwischen den freilich berghohen, ihr so ärgerlichen Aktenhaufen das liebe Gesicht über den unheimlich wunderlichen Brief aus Berlin beugte, um es sofort, jetzt doch im höchsten Grade erschreckt, wieder zu erheben und mir zuzuwenden.
»Velten tot? Unser - dein Freund Andres! - Und sie - Helene - die Witwe Mungo, allein bei ihm!«
Das Blatt zitterte in ihren Händen, als sie weiterlas; aber
sie machte weiter keine Bemerkungen, bis sie fertig war, das Schreiben niederlegte, mit der Hand darüber strich, wie um es zu glätten.
»Aber das ist ja ein entsetzlicher Brief! In seiner Unverständlichkeit doch gar nicht so, wie ich sie mir nach deinen - euren Reden und Erzählungen vorgestellt habe, daß unsereine trotz ihres Erschreckens und Mitgefühls wieder mal nicht weiß, was sie dazu sagen soll. Velten Andres tot, und die amerikanische Talermillionärin jetzt als seine Totenwache,
wie es scheint, in seiner leeren Dachstube. Was will sie denn jetzt da? Ganz dumm und irre wird man hierbei! Du lieber Gott, wie machen sich doch die Menschen aus puren Grillen das Leben schwer und das Sterben zu einem Komödienschluß! Ja, was siehst du mich an? Wenn es nicht so trauriger Ernst wäre, so möchte man wirklich sagen: aus seiner Rolle ist keiner von beiden gefallen. Und der gute Leon ist auch natürlich wieder da und steht dabei wie der brave Mensch im Hintergrund, der auf dem Theater
immer dabei ist, wenn so eine Katastrophe eintritt, daß doch wenigstens einer als vernünftiger Teilnehmer den Kopf schüttelt. Aber freilich - du mußt und willst doch auch wohl als erster alter guter Freund und Bekannter von allen jetzt zu ihr nach Berlin?«
»Morgen - wenn es mir irgend möglich ist.« -
»Weshalb sollte dir das nicht möglich sein? In solchem Fall darf sich jeder Mensch seinen Urlaub selber geben. Ich für mein Teil werde morgen diesen unheimlichen
Brief bei hellem Tageslicht lesen. Jetzt ist er mir wie ein Stein auf den Kopf gefallen, und ich gehe zu den Kindern. Die Mädchen sind eben aus dem Theater nach Hause gekommen. Das ist in diesem Augenblick meine einzige Rettung nach dieser Lektüre. Der Himmel bewahre sie uns vor zu viel Einbildungskraft und erhalte ihnen einen klaren Kopf und ein ruhiges Herz.«
»Ganz meine Meinung, liebe Anna«, seufzte ich, und dann ließ ich den Brief Helenens unter meinen Aktenhaufen, zog den Arm
meines klugen, klaren und ruhigen Weibes unter den meinigen, und wir gingen zusammen zu den Kindern. - Das sind schon ziemlich erwachsene junge Leutchen mit wenn auch jungen, so doch eigenen Lebenserfahrungen und Interessen: von Velten Andres und Helene Trotzendorff wußten sie nichts, oder doch nur wenig. Und das wenige konnte jetzt bloß ein romantisches Interesse für sie haben. Mit den Akten des Vogelsangs hatten sie persönlich nichts mehr zu schaffen. Ob sie später einmal persönlichen Nutzen
aus ihnen ziehen werden, wer kann das wissen?
Daß mein Vater nur auf das zu dem Landesorden hinzugestiftete Verdienstkreuz Erster Klasse und den Titel Rat die Anwartschaft besaß, sagt alles über unsere gesellschaftliche Stellung im deutschen Volk um die Zeit herum, da ich jung wurde in der Welt. In welchem juristischen Sonderfach er ein Beamteter war, ist wohl gleichgültig, daß er aber ein sehr tüchtiger Beamter war, haben alle seine Vorgesetzten anerkannt und viel häufiger von seinem
Verständnis in den Geschäften Gebrauch gemacht, als sie ihren Vorgesetzten gegenüber laut werden ließen. Es handelte sich in seinem Amt viel um Zahlen, und er hatte einen hervorragenden Zahlensinn, womit, beiläufig gesagt, meistens auch ein entsprechender Ordnungssinn verbunden ist. Beides gab ihm eine Stellung in unserer heimischen Bürokratie, die für unser häusliches Behagen nicht immer von dem besten Einfluß war; denn die Vorstellung, nicht studiert und es dadurch zu etwas Besserm gebracht zu
haben, verbitterte nur zu häufig nicht nur ihm, sondern auch uns, das heißt meiner Mutter und mir, das Leben.
Ich habe übrigens in meiner heutigen oberregierungsrätlichen Stellung dergleichen wackere Herren gleichfalls gottlob unter mir und hole mir nicht selten für meinen Amtsberuf nicht nur Aufklärung, sondern auch Rat von ihnen. Das Bild meines seligen Vaters aber, mit dem zu dem Landesorden hinzugestifteten Verdienstkreuz Erster Klasse auf der Brust, habe ich in Lebensgröße (nach
seinem Tode nach einer guten Photographie gefertigt) über meinem Schreibtische hängen und hole mir auch von ihm heute noch Aufklärung und Rat, und nicht bloß in meinen Geschäften, sondern im Leben überhaupt.
Meine Mutter war eine Frau, deren höchste Lebenswünsche und Ansprüche durch den Titel Rätin ganz und gar erfüllt wurden. Sie war eine gute Mutter und die beste der Gattinnen, wenn das letztere vom vollständigen Aufgehen in den Ansichten, Meinungen, Worten und Werken des Gatten
abhängig ist. Sie fühlte sich wohl in der Zucht, in welcher er sie und sein Haus hielt, und ich glaube nicht, daß sie je einen andern Willen haben konnte als den seinigen.
Geschwister habe ich nicht gehabt, wenigstens nicht solche, die so lange geatmet hätten, um von Einfluß auf mein Leben zu werden. Den Ersatz hierfür lieferte die Nachbarschaft, und zwar in ergiebigster Weise, und davon handelt denn auch, um es hier schon kurz zu sagen, die Akte, die ich jetzt anlege. Wem zum Besten,
wer mag das sagen? Jedenfalls mir zu eigenster Seelenerleichterung und aus tiefgefühltem Bedürfnis nach einem, nach etwas, das einen ruhig anhört, aussprechen läßt und nicht eher dazu redet, bis das Ganze vorliegt. Daß es nicht eine Personalakte in der wirklichsten Bedeutung dieses Wortes ist, nimmt in meinen Augen den Aufzeichnungen nichts von ihrem Wert. -
Die Nachbarschaft! Ein Wort, das leider Gottes immer mehr Menschen zu einem Begriff wird, in den sie sich nur mühsam und mit Aufbietung von Nachdenken und Überdenken von allerlei behaglicher Lektüre hineinzufinden wissen. Unsereinem, der noch eine Nachbarschaft hatte, geht immer ein Schauder über, wenn er hört oder liest, daß wieder eine Stadt im deutschen Volk das erste Hunderttausend ihrer Einwohnerzahl überschritten habe, somit eine Großstadt und aller Ehren und Vorzüge einer solchen teilhaftig geworden sei, um das Nachbarschaftsgefühl dafür hinzugeben.
Wir zu unserer Kinderzeit hatten es noch, dieses Gefühl des nachbarschaftlichen Zusammenwohnens und Anteilnehmens. Wir kannten einander noch im »Vogelsang« und wußten voneinander, und wenn wir uns auch sehr häufig sehr übereinander ärgerten, so nahmen wir doch zu anderen Zeiten auch wieder sehr Anteil im guten Sinne an des Nachbars und der Nachbarin Wohl und Wehe. Auch Gärten, die aneinandergrenzten und ihre Obstbaumzweige einander zureichten und ihre Zwetschen, Kirschen, Pflaumen, Äpfel und Birnen über lebendige Hecken weg nachbarschaftlich austeilten, gab es da noch zu unserer Zeit, als die Stadt noch nicht das »erste Hunderttausend« überschritten hatte und wir, Helene Trotzendorff, Velten Andres und Karl Krumhardt, Nachbarkinder im Vogelsang unter dem Osterberge waren. Bauschutt, Fabrikaschenwege, Kanalisationsarbeiten und dergleichen gab es auch noch nicht zu unserer Zeit in der Vorstadt, genannt »Zum Vogelsang«. Die Vögel hatten dort wirklich noch nicht ihr Recht verloren, der Erde Loblied zu singen; sie brauchten noch nicht ihre Baupläne dem Stadtbauamt zur Begutachtung vorzulegen. Wir hatten von ihren Nestern unsere Hecken, Büsche und Bäume voll und unsere Freude dran, trugen aber dessenungeachtet nicht auf eine »Katzensteuer« an und schlugen oder schossen jeden wackern Kater tot, der nach seinem Rechte mal im Bauplan der guten Mutter Natur mit einem »Immer und ewig Mäuse?« herumstieg und von der sämtlichen Käfer-, Fliegen-, Raupen-, Schmetterlings- und Würmerwelt nicht nur als ein Wohltäter, sondern auch als ein Rächer geachtet wurde.
Wohin reißt mich dieses Rückgedenken? Bedenke dich, Oberregierungsrat, Doctor juris K. Krumhardt, und bleibe bei der Sache! Bei der Stange! würde dein Freund Velten zu jener Zeit - unserer Zeit gesagt haben. -
Mein Vater, Oberregierungssekretär Krumhardt, hatte sein Haus im Vogelsang von seinem Vater geerbt und der wieder von seinem Vater. Darüber hinaus verlor sich unsere Kenntnis des Besitzstandes in der Nacht der Zeiten. Es war jedenfalls ein altes Haus, das nicht nur die drei Schlesischen Kriege, sondern auch den Spanischen Erbfolgekrieg miterlebt hatte als Zeitengenosse. Das Nachbarhäuschen, das seiner äußern Erscheinung nach etwas jünger war, hatte Dr. med. Andres erst bei seiner Niederlassung in der Stadt und der Vorstadt Vogelsang käuflich an sich gebracht. Seine Witwe und sein Junge gründeten ihre Wohnorts- und (möglicherweise) auch ihre Unterstützungsberechtigung auf diesen, der Zeit nach noch ziemlich naheliegenden »Eintrag« im Hypothekenbuch; aber auch sie fühlten sich ihres Besitztums sicher und gehörten vom Anfang an dazu - nämlich zur Nachbarschaft im alten, echten Sinne, und mein Vater war nach dem Tode des Doktors ganz selbstverständlich von der Obervormundschaft der Witwe als »Familienfreund« beigegeben worden.
Zugezogen war nur, jenseits der Grünen Gasse, Mrs. Trotzendorff from New York, in eine Mietwohnung. Wie aber deren Kind sein Bürgerrecht unter dem Osterberge im Vogelsang erwarb und es aufgab, darüber mögen denn diese Akten mit allen dazugehörigen Dokumenten das Nähere berichten. Ich werde mir die möglichste Mühe geben, nur als Protokollist des Falls aufzutreten. Wenn ich dann und wann an dem Federhalter nage, meiner Privatgefühle, Stimmungen, Meinungen und so weiter wegen, so bitte ich die geehrten Herren und Damen auf dem Richterstuhle des Erdenlebens, hier, in Sachen Trotzendorff gegen Andres, oder Velten Andres contra Witwe Mungo, nicht darauf zu achten. Meine Frau sagte seinerzeit:
»Guter Gott, wie dankbar können wir doch sein, daß du nicht so warest wie die beiden anderen von euch. So haben wir doch wenigstens unser geregeltes Dasein und unsere Kinder um uns. Aber auf deren vernünftige, ordentliche Erziehung wollen wir auch recht Achtung geben. Es wäre mir zu entsetzlich, wenn eines von ihnen auch so ins Wilde wüchse!« -
Dr. med. Valentin Andres, der Vater unseres Freundes Velten Andres, war ein echter und gerechter Vorstadtdoktor, ein gutmütiger Mensch und ein guter Arzt, welchem letztern nur die Berge und die übrige schöne Natur für seine Liebhaberei, die Insektenkunde, oft zu nahe lagen. Er war recht häufig nicht zu finden, wenn er an einem Krankenbette, bei einem Unglücksfall oder sonst in seinem Beruf höchst nötig war. Seine Abhandlung über Cynips scutellaris, die Gallapfelwespe, machte seinerzeit in den betreffenden Kreisen Aufsehen und ist auch heute noch von den Fachgenossen geschätzt. Zum Sanitätsrat aber brachte er es nicht durch dieselbe, und das geringe Vermögen, welches er bei seinem Tode seiner Witwe und seinem Sohn zu dem kleinen Hause und Garten im Vogelsang hinterließ, stammte weniger von ihm als von seinem Vater und Großvater her. Letzterer soll ein nach unseren Begriffen sehr wohlhabender Mann gewesen sein; aber wie verkrümelt sich die Wohlhabenheit, der Reichtum in der Folge der Geschlechter! -
Ich für mein Teil habe nur eine ganz dunkle Erinnerung an den Doktor Andres. Mein Nachbarschaftsleben war nur mit seinem Jungen und der »Frau Doktern«; aber seine Käfer- und Schmetterlingssammlungen in den Glaskästen an den Wänden haben doch einen Einfluß auf mich gehabt und behalten ihn heute noch, und sein freundliches Bild gleitet mir noch manchmal auf einem Waldwege um unsere jetzige »Großstadt« entgegen.
Wie kopfschüttelnd oder lächelnd er seinem Sohn auf dessen Wegen dann und wann erschienen sein mag? - Und was er aus seinem Lebensvermögen weitergegeben haben mag an diesen, seinen Sohn Velten Andres - unsern Freund? - -
Was nun die Frau Doktor Andres anbetrifft, so steht deren freundliches Bild hell und klar in meiner Seele und kann nie darin auslöschen. Sie hat an meiner Mutter Wochenbett gesessen und gut nachbarschaftlich in meine Wiege gesehen; ich habe an ihrem Sterbelager gesessen und sie in ihrem Sarge gesehen - ebenso gut nachbarschaftlich (ich gebrauche das Wort trotz allem, was nachher hierüber zu den Akten kommt). Zwischen meiner Wiege und ihrem Sarge aber haben so viele gute, liebe, lange Jahre des Zusammenlebens und Verkehrs von Haus zu Haus gelegen, daß wir wahrlich zueinandergehörten, obgleich mein Vater - ihr Familienfreund war, sie nur selten »begriff«, sie recht häufig sehr ängstete und dann und wann noch viel mehr ärgerte und obgleich meine Mutter in allem diesem der Ansicht und Meinung meines Vaters war und »Amalien« fast noch weniger »begriff« als er.
Natürlich wurzelten neun Zehntel aller Mißverständnisse in dem Vorhandensein meines Freundes Velten in dieser auf bürgerlichem Ordnungssinn gegründeten Erdenwelt. Weshalb hatte denn aber auch die Obervormundschaftsbehörde nach dem Tode des Doktors der Vormünderin des Jungen den Oberregierungssekretär Krumhardt als Familienberater beigegeben? Da mußte sich denn freilich manches zuspitzen, was von Natur keine Schärfe hatte, wenigstens auf der einen Seite. - Mit den Gärten sind heutzutage zwar auch die Vögel im Vogelsang ausgerottet; aber in den Wäldern jenseits des Osterberges singen auch heute noch, aus Überlieferung, vielleicht einige davon, was für ein sauberer Vogel Velten Andres war und was für eine unzurechnungsfähige Vormünderin seine Mutter. Freilich hatte er ja auch eine Eiersammlung seinerzeit, bis ihn - grade seine Mutter hier auf dem Felde seiner Liebhabereien zurechtwies und sich die »grausame, unnütze Spielerei« verbat. Natürlich unter gänzlich unberechtigtem Hinweis auf seinen seligen Vater, der nie ein Vogelnest ausgenommen hatte.
»Aber gucke mal, da seine Käfersammlung und seine Schmetterlinge. Tat es denen nicht weh, wenn er sie auf seine Nadeln spießte?« hätte der Sohn seines Vaters der Mutter antworten und sie fragen dürfen. »Da, mach du dir einen Eierkuchen draus«, sagte er jedoch nur zu mir, mir die ausgeblasene Herrlichkeit über die Hecke zuschiebend. »Die Alte hat auch recht, wenn sie mir dieser Dummheit wegen die Hosen nicht mehr flicken will. Sie mufft, und ich lege mich lieber auf Briefmarken.« -
Wann hätten wir je im Vogelsang die Nachbarin Andres »muffen« sehen? Daß sie weinen konnte, wußten wir daselbst. Aber muffen? Diese Schmach konnte ihrem lieben, freundlichen Gesicht nur unsereiner und also am besten ihr eigen Fleisch und Blut aus seinen Schulbubenerlebnissen und -redensarten antun. Auf das Lachen war sie von Natur eingerichtet oder, noch besser, auf das ruhige, stille Sonnenlächeln, das ohne irgend zutage liegenden Grund eben aus der Tiefe kommt und also da ist, weil einmal ein bevorzugtes armes Menschenkind die Welt schön sieht.
Wie muß ich heute mit Helene Trotzendorffs Brief vor den Augen daran denken, wie schön die Mutter Velten Andres die Welt sah!
»Die Frau ist unzurechnungsfähig, der Junge ein verwahrloster Strick und bei den Leuten Familienfreund spielen zu sollen und Vernunft reden zu müssen eine Aufgabe, die einen zur Verzweiflung bringen kann!« rief mein Vater, aus dem Nachbarhause nach Hause - unserm - seinem Hause heimkommend und den Hut verdrießlich, doch sorgsam neben meinen Cornelius Nepos auf den Tisch stellend. »Karl, was ist das wieder gewesen, und was für eine Rolle hast du bei dieser neuen Albernheit gespielt? Sie haben das Hartlebensche Gartenhaus beinahe in Brand gesteckt, Frau.«
Ja, ich hatte den Cornelius Nepos und das Leben des Alkibiades, des Klinias Sohn, vor mir und das Herz voll Angst vor meinem »Alten« und verquollene Augen und heiße, schwarzschmierige, zitternde Pfoten; und zu übersetzen hatte ich:
»At mulier, quae cum eo vivere consuerat, muliebri sua veste contectum aedificii incendio mortuum cremavit« - aber das Weib, das mit ihm zu leben gewohnt war, verbrannte den mit ihrem Frauenrock bedeckten Leichnam in dem brennenden Hause.
»Heraus mit der Wahrheit, Junge! Da drüben kriegt man doch nichts anderes als Phantasterei und Lügen zu hören«, rief mein Vater und faßte nun auch mich an der Schulter, wie er »drüben« wahrscheinlich den Freund Velten und »gegenüber« die kleine Helene Trotzendorff gefaßt und geschüttelt hatte. Aus mir schüttelte er jedenfalls die ganze Wahrheit heraus.
»Wir haben bloß Komödie gespielt in Hartlebens Pavillon. Velten hat sie angegeben, weil - weil - wir jetzt - in der Schule den Alcibiades haben!« schluchzte ich.
»Eine schöne Komödie, die auf Brandstiftung hinausläuft! Was meinst du dazu, Mutter?«
Meine Mutter rang nur stumm die Hände; mein Vater aber hatte ihr doch nun die Sache etwas deutlicher auseinanderzusetzen.
»Daß ihnen in der Schule aus den Griechen und Römern saubere Exempel vor die Augen gestellt werden, das ist freilich leider eine Tatsache, Frau«, brummte er. »Und da ist denn auch so eine Geschichte von einem griechischen General - Alcibiades heißt er -, die haben sie auf dem Hartlebenschen Grundstücke aufführen wollen und mit Streichhölzern, Schießpulver und Kolophonium, was weiß ich, gewirtschaftet; und daß das Mädchen bloß mit verbrannter Schürze, die sie dem Musjeh Alcibiades, ich meine dem Schlingel Velten, überdecken wollte, aus Hartlebens getrockneten Krautbündeln herausgekommen ist, das ist auch nur ein Wunder, wie es solchen Narrenköpfen allein passiert.«
»Du lieber Gott! Du lieber Gott! Und du bist auch wieder mit dabeigewesen, Karlchen?« wimmerte meine Mutter.
»Velten hat alles gleich gelöscht mit den Händen und mit Wasser aus dem Brunnen in seiner Mütze!« schluchzte ich.
»Und sitzt jetzt mit den Händen in Watte und Leinöl«, brummte mein Vater. »Nicht einmal ein regelrechtes Schmerzgeheul und Gewinsel kriegt man aus ihm heraus. Verstockt beißt der Taugenichts die Zähne aufeinander und glotzt nur von Zeit zu Zeit angstvoll auf die Mama, was die zur Sache von sich gibt. Ja die! Wer doch von Gottes und Rechts wegen in Tränen schwimmen sollte, das müßte die Frau Nachbarin Amalie sein; denn der dumme Junge muß arge Schmerzen haben. Aber tut sie es? Bewahre! Lieber sterben als dem zum Richtigen redenden Nachbar und Familienfreund seine Verantwortlichkeit durch Zustimmung zu erleichtern. Natürlich beißt auch die Frau Doktor nur die Zähne zusammen, sagt nur von Zeit zu Zeit: ›Aber Velten, das war doch zu dumm!‹ und läßt mich gewohntermaßen in den Wind und ins Blaue reden.«
»Die arme Amalie!« seufzte meine Mutter.
»Du bedauerst sie wohl gar noch?« fuhr mein Vater fast gröblich sie an. »Das kannst du dir dreist für andere und bessere Gelegenheiten sparen!«
Und mit einem Blick auf mich fuhr er fort: »Na, reden wir nicht weiter hierüber. Übrigens, um den neuen Skandal (der dich, mein Sohn, beiläufig, auch mit vor die Polizeibehörde bringen wird) völlig auszukosten, war ich denn auch drüben bei der dritten von euch drei lieben Jugendfreundinnen, Adolfine, - bei der berühmten (ich will kein anderes Wort gebrauchen), bei der berühmten Frau Agathe - unserer teuren Mistreß Trotzendorff. Nu, was ich da zu hören bekam, das hätte ich mir vorher schon selber sagen können. Saß die Person wieder sofort auf dem hohen Pferde, als ob die sämtlichen Vereinigten Staaten von Nordamerika es ihr gesattelt und gezäumt hätten! - Das habe das Kind eben aus einem größern Leben als das unserige hier von drüben mitgebracht, daß es die Welt (die Närrin sagte wahrhaftig: die Welt!), daß es die Welt nicht mit unseren hiesigen Philisteraugen (dies ist freilich mein Ausdruck), mit unseren hiesigen Philisteraugen ansehe. Der Spaß sei ja gottlob wieder glücklich abgelaufen; Hartleben werde sich wohl auch zufrieden geben, wenn man vernünftig mit ihm spreche, und auf die verbrannte Schürze des Kindes komme es gar nicht an; für die werde sein Papa drüben in New York wohl noch aufzukommen wissen. - Damit holte sie mir das naseweise Balg unter den Händen weg und hob es, wie Niobe ihr letztes aus den Büchern unseres Jungen, auf den Schoß. Der Hinweis auf den Schwindler, den Erzschwindler Trotzendorff, ihren Mann, imponierte mir aber so, daß ich nur meinen Hut nehmen konnte und sagen: ›Da hört alles Eingreifen von verständiger Seite gründlich auf!‹ - Du lieber Himmel, was für eine Nachbarschaft! Junge, Junge, ich rate dir, daß du bei den Grundsätzen deiner Eltern wie bei deinen Büchern bleibst und dich exakt hältst. Dich wenigstens kann ich windelweich hauen, wenn du mir bloß noch ein kleines mehr in dem Affenspiel rundum die Purzelbäume mitschlägst und nicht deine bürgerlichen, gesunden, nüchternen fünf Sinne beieinanderbehältst!«
»Ja, bitte, bitte, bester Karl, tue das und mache deinen Eltern und deinen Herrn Lehrern Freude!« sagte meine Mutter. »Ach, Vater, aber können denn die armen Frauen, die Amalie und Agathe dafür, daß die eine ihren armen Doktor so früh verloren hat und die andere ihren -«
Sie brach ab, und mein Vater brummte nur: »Na, was deine Andere dazu beigetragen hat, hier jetzt wieder als abenteuerliche amerikanische Strohwitwe im Vogelsang zu sitzen, darüber sind die Akten noch nicht mit allen dazugehörigen Dokumenten versehen. Für die Doktorin mag deine Entschuldigung zu mildernden Umständen beitragen, Adolfine.«
Welch eine Nachbarschaft! Jawohl, das war es, was trotz aller Warnungen und Drohungen, Aufregungen und Ärgernisse meines braven seligen Vaters mir den Vogelsang unter dem Osterberge bis heute noch zu einem Zauber macht, der mich dahin bannt, obgleich er so sehr, so ganz und gar recht hatte mit seinen Warnungen vor diesem Zauber. Bin ich nicht heute der einzige von uns dreien, der seine gesunden fünf Sinne exakt und werkmäßig beieinandergehalten und es nach bürgerlichen Begriffen (sehr wohl berechtigten!) zu einer soliden Existenz in der schwankenden Erdenwelt gebracht hat? Und hält mich dieser alte Zauber heute nicht mehr denn je - der Zauber der Nachbarschaft, trotzdem daß Velten Andres und Helene Trotzendorff auf anderen Wegen und, nach unseren bürgerlichen Begriffen, verlorengegangen sind in der Welt und die Welt nicht gewonnen haben? Wenigstens der arme Velten. Die hundertfache Millionärin, die Witwe Mungo, geborene Trotzendorff, ist ja wohl nicht ganz so sehr zu beachselzucken wie der ganz verrückte Mensch, der arme kuriose Kerl, der Andres! Schade um ihn, wie hätte der es mit seinen Talenten und seinen vielen, vielen guten Gelegenheiten, es zu was zu bringen, in der Welt zu etwas bringen können!
Aber pragmatisch, pragmatisch, Karl Krumhardt! Das heißt, referiere dir selber so werkmäßig als möglich, Oberregierungsrat Doctor juris Krumhardt, um dir selber wenigstens deinen Standpunkt in Sachen Andres contra Trotzendorff oder umgekehrt klarzuhalten. Wenn nicht wegen eines andern Publikums, möchte es deiner Kinder wegen wohl der Mühe wert sein.
Wir, Velten und ich, waren ungefähr zehn oder zwölf Jahre alt, als wir anfingen, mehr und mehr aufzuhorchen, wenn in unsere Kinderspiele, Schularbeiten und Dummejungenstreiche der Name Trotzendorff hineinklang, mit bedenklichem Kopfschütteln von seiten meiner Eltern, mit bedauerndem von seiten der Mutter Veltens. Da hieß es in unserm Hause: »Konnte man das nicht voraussehen?« und im Nachbarhause: »Die arme Agathe!« Bei uns: »Der Schwindler mußte ja zu diesem Ende kommen, und nun schickt er uns das leichtsinnige Geschöpf, seine Frau, auch gar noch wieder über den Hals!« Nebenan: »Mit so einem armen kleinen Kinde! Und so weit her, über die See; ganz allein mit dem kleinen Mädchen über das große Meer!«
Die weite See, wo Robinson Krusoe seine Wunderinsel fand und wir, Velten und ich, so gern eben eine solche gesucht hätten, - das große Meer, über welches Sindbad der Seefahrer schiffte und seine tausendundein Abenteuer erlebte, über welches Whittington (dreimal Lord-Mayor von London) seine Katze verhandelte und vom Negerkönig drei Säcke voll Goldstaub für das brave Tier zurückempfing: das war es, was natürlich zuerst unsere Knabenphantasie erregte.
»Du«, sagte Velten, »es kommt eine Frau mit einem kleinen Mädchen aus Amerika wieder hierher nach dem Vogelsang. Meine Mutter kennt seine Mutter, und deine Mutter kennt sie auch.«
»Das weiß ich auch schon. Mein Vater und meine Mutter haben aber auch seinen Vater gekannt und sagen, er sei ein Taugenichts.«
»Davon hat meine Mutter nichts gesagt, aber kennen tut sie ihn auch. Das ist mir übrigens ganz Wurst; aber das Wurm! Hol mal deinen Atlas. So eine dumme Schürze und Zimperliese auf dem Atlantischen Ozean, wenn wir ihn nur in der Geographiestunde haben und bloß Dummheiten vom Doktor Klebmaier zu hören kriegen, wenn wir nicht wissen, wie weit er reicht! Na, laß sie mir nur kommen! Drüben bei Hartlebens haben sie sich eingemietet; meine Mutter hat ihnen dabei geholfen.«
»Mein Vater und meine Mutter auch. Es geht ihnen recht schlecht, und man muß sich ihrer annehmen, sagen sie. Weißt du, sie sind eben alle gute Freunde miteinander gewesen, die Alten. Ja, wir sollten uns ihrer annehmen!«
»Meinetwegen. Was ich dazu tun kann, wird gemacht. Von einem Mädchen mehr soll mir diesmal noch nicht übel werden, obgleich wir des Zeugs schon eigentlich borstig hier zu viel im Vogelsang haben. Überall stehen sie einem im Wege, und über keine Hecke kann man steigen, ohne daß man zwischen einen Haufen von ihnen fällt und fünf Minuten nachher das Gezeter angeht: ›Wenn du dich nicht aus unserm Garten scherst, sagen wirs deinem Vater!‹ Übrigens, Karlchen, kannst du mir noch mal deinen Lederstrumpf leihen, ich will doch lieber vorher, ehe die Kreatur einrückt, über Amerika nachlesen.« -
Wie viele deutsche Jungen haben diese Cooperschen Lederstrumpferzählungen, »für die Jugend bearbeitet«, hinübergelockt in das Land der Langen Flinte, der Großen Schlange und des Renard subtil? Ob das bei Mr. Charles Trotzendorff aus dem Vogelsang auch der Fall gewesen war, kann ich nicht in den Akten nachweisen, was seine Jugendzeit betrifft. Aus späteren Dokumenten geht mir hervor, daß es sich nicht so verhielt - daß ihn weder der edle Unkas noch der tapfere Major Heyward und auch nicht die stolze schwarzhaarige Cora und die blonde liebliche Alice an- und dorthingezogen hatten, sondern ganz was anderes: etwas, was nicht das geringste mehr mit jener wundervollen, lügenhaft-wahren Kinder-Urwaldswelt zu schaffen hatte, nämlich ganz einfach das Geschäft in den glorreichen Vereinigten Staaten von Nordamerika. Auch aus dem edlen deutschen Vaterlande, vom grünen Rhein und aus dem Vogelsang, kann das deutsche Gemüt die vollkommene Befähigung mit übers Wasser nehmen, nicht nur mit Messrs. Longbow, Snake, Renard and Company vortrefflich auszukommen, sondern selbst sie bei günstiger Gelegenheit dergestalt übers Ohr zu hauen, daß sie sich den fernern Import von dergleichen Konkurrenz am liebsten gänzlich verbitten würden. Aber das sind Geschichten aus Väterzeiten. Ich habe, wie gesagt, wenig über Herrn Charles Trotzendorff in meinen Papieren. In unserer Heimatstadt war er Auswanderungsagent und wanderte seinerzeit selber aus, und zwar aus zwingenden Gründen. Seine Frau, die Freundin und Schulbankgenossin meiner Mutter und der Nachbarin Andres, nahm er aus dem Vogelsang mit. Sie soll in ihrer Jugendblüte sehr schön gewesen sein und war auch eine noch nicht häßliche Erscheinung, als er sie uns dahin, für eine Zeit, wiederschickte, »zur Aufbewahrung für besseres Glück«, wie mein Vater sagte und wie es sich später auch wirklich so herausgestellt hat.
Es war Veltens Mutter, an welche »Mrs.« Agathe Trotzendorff dann und wann aus Amerika schrieb; Velten hat bei seinem »großen Aufräumen« wohl ein halb Dutzend Briefe mit überseeischem Poststempel in den Ofen geschoben. Soviel ich mich erinnere, war weder stilistisch noch ethisch das geringste daran verloren; jedenfalls ging aus ihnen hervor, daß Mr. Charles Trotzendorff ein großer Schwindler war, der seine Sache verstand, also Glück gehabt hatte, es wieder haben konnte und jedenfalls im Pech sich zu helfen wußte. Das letzte Schreiben berichtete über ihn, daß er recht im Pech sitze, von »schlechten Menschen unglaublich betrogen worden sei« und deshalb fürs erste seinen Haushalt auflösen müsse. Wie uns, das heißt mir und Freund Velten, später die Sache klar wurde, war er damals nur mit genauer Not an einem längeren Aufenthalt in Sing-Sing vorbeigeglitten. Jedenfalls war er nach dem in jener Zeit noch mit einigem Recht »fern« genannten Westen verduftet und hatte Weib und Kind dem Vogelsang wieder zugeschoben. Was wußten wir im Vogelsang von Mr. Fisk und der Erieeisenbahn, von Mr. Tweed, dem Tammanyring und Sing-Sing? -
Sie kamen an, die deutsch-amerikanische Mutter und little Ellen, das amerikanische kleine Mädchen, und bezogen auf Hartlebens Anwesen die von uns ihnen im Nebengebäude daselbst gemietete Wohnung. Der Einzug ging vor, während wir beide, Velten und ich, in der Schule waren. Als wir nach Hause kamen, fanden wir unsere beiden Mütter in erklecklicher Aufregung und zitternder Ratlosigkeit beieinandersitzend und horchten, wie Jungens horchen, wenn ihre Mütter die Hände stumm im Schoße ringen oder sie laut schreiend über den Köpfen ausspreizen, als wollte ihnen nicht bloß das Himmelsgewölbe, sondern auch die Stubendecke auf die Hauben fallen.
»Das Frauenzimmer ist ja als eine komplette Närrin heimgekommen!« ächzte meine Mutter.
»Du lieber Himmel, was wird das werden!« seufzte die Nachbarin Andres.
»Weißt du, Amalie, wie ich hier sitze?«
Veltens Mutter schüttelte den Kopf.
»Vollständig mit dem Eindruck, als ob wir - wir beide hier im Vogelsang schuld dran seien, daß Hartlebens Nebenhaus nicht Unter den Linden in Berlin oder noch großartiger irgendwo drüben bei den Amerikanern in New York oder sonstwo liege. Und mit den hundert Talern, die der Schlingel Trotzendorff meinem Mann für die Einrichtung geschickt hat, hätten wir selbstverständlich unserer hiesigen Frau Herzogin häusliche Ausstattung drüben bei Hartlebens beschaffen müssen für diese - diese, unsere Mistreß, oder Lady, oder wie wir sie sonst zu betitulieren haben! Bitt ich dich!«
»Die arme Agathe.«
»Bedauere sie gar noch! Nimm es mir nicht übel, hier bin ich doch anders. Ich für mein Teil werde ihr bei späterer, kommender Gelegenheit meine Meinung nicht vorenthalten, daß sie sich in unsere Verhältnisse zu schicken habe, und wir nicht in ihre.«
»Großer Gott, ihre Verhältnisse!« seufzte Veltens Mutter.
»Nun, ich meine eben ihre großartigen früheren, nicht ihre jetzigen. Ja, da magst du wohl wieder recht haben, Malchen, und ich werde mich auch für mein Teil bemühen, ihr dieselben so behaglich und verständlich zu machen, wie es mir möglich ist.«
Ich ziehe selbstredend im besten Sinne des übelverwendeten Wortes diese Unterhaltung der Mütter aus den Akten. Daß wir dummen Jungen das so nicht aufbewahrten, ist selbstverständlich. Wir zwei - Velten und ich - wußten nur, daß etwas ganz aus der Regel Fallendes und durchaus nicht ganz und gar Angenehmes dem Vogelsang die Ruhe aufgestört hatte und die Behaglichkeit für unabsehbare Zeit (wie mein Vater meinte) zu kränken drohte. Übrigens gewannen wir sofort die Überzeugung, daß die Geschichte uns beide gar nichts angehe, und mit der »neuen Schürze bei Hartlebens« wollten wir schon bald fertig werden, wie mit den anderen dummen Gänsen auf den Schulwegen, in den Gärten und Gassen bei Sommersonnenschein und Winterschnee.
So warteten wir denn mit dem Kinn auf dem Zaun wie zwei europäische Indianer nach Hartlebens Wigwam hinüber.
»Aus den beiden dummen Engländerinnen, Cora und Alice, mache ich mir gar nichts«, sagte Velten, »aber wenn diese Neue rot, grün, gelb und blau angemalt käme, wie Junitau im Pfadfinder, dann wär doch noch was, und mal was Neues, hier bei uns in der ewigen Langweilerei aus dem Kokon gekrochen.«
»Du! Da kommt deine Mutter mit ihr! Ach, der Dreikäsehoch! Guck, läßt sich auch noch an der Hand führen und - richtig - hat natürlich geweint und zimpert noch und läßt sich nachziehen, als ob deine Mutter der richtige Oger wäre und ihr bei euch zu Hause bloß von Kinderfleisch lebtet. Na, nun mach nur, Velten, daß du auch nach Hause kommst. Du hast sie wahrscheinlich heute zu Tische - guck, da nimmt deine Mutter das große Balg in eurer Gartentür gar noch auf den Arm! Na, adjö, da rufen sie auch bei uns nach mir, und meinen Vater kennst du.«
Es war ein Sonnabend und keine Schule am Nachmittag; wir lagen also am Osterberg unter einem Busch, und ich vernahm den ersten Bericht über das erste Zusammentreffen der Familien Andres und Trotzendorff beim Suppennapf.
»Ja, sie waren bei uns zur Fütterung«, erzählte Velten. »Die englische Madam auch. Die kann Deutsch, aber sie tut manchmal, als ob sie es vergessen habe. Die Kleine kann nur Englisch, das heißt, Amerikanisch: die richtige Wilde! Und sie sind schauderhaft vornehm, das heißt eigentlich gewesen. Es ist übrigens nur gut, daß meine Mutter noch vornehmer ist und auch ein bißchen englisch kann, durch meinen Vater. So ging es denn so ziemlich glatt ab; nur ich kriegte es natürlich zu hören von meiner Alten, daß jetzt das Hinflegeln mit beiden Ellenbogen auf dem Tische aufzuhören habe und daß sich eine Masse anderes nicht schicke. Die Kleine hat den Teufel in ihren Augen und greinte, und auf gelbe Erbsen, dicke Bohnen, Steckrüben, Mohrrüben und sonst unser Futter scheint sie noch nicht recht eingerichtet zu sein. Sie hat eine Mohrin als Amme gehabt und Mohren als Bediente; aber meine Mutter hat sie zuletzt doch zum Lachen gebracht, und daß sie mich angrinste. Ihre Mama war zuletzt die einzige, die bei ihrem Jammergesicht blieb und nach Tische meiner Mutter auch jetzt wieder was vorweinte. Ellen heißt die Krabbe; auf deutsch Helene, und meine Mutter hatte sie auf dem Sofa auf dem Schoße und tröstete sie beide. Da habe ich mich gedrückt, denn den ganzen Nachmittag so was auszuhalten, konnte keiner von mir verlangen. Na, Mitleid will ich ja wohl gerne mit haben, wie meine Mutter verlangt; aber kriegt sie mich, dieser neuen, fremden Nachbarschaft wegen, auch noch an das Englische, so werfe ich auf. An dem Latein und dem Französischen haben wir grade genug in der Schule. Puh, Mitleiden! Hat da jemals einer mit uns Mitleiden gehabt, Karlchen?«
»Nee«, sagte ich.
»Aber wie sollen wir uns denn mit der Kröte verständlich machen, wenn wir kein Englisch können? Auf unsern Buckel laden sie sie doch ab; darauf nehme ich jetzt schon Gift. Übrigens habe ich auch versprechen müssen, nicht den ganzen Nachmittag vom Hause wegzubleiben. Drunten in unserer Laube sitzt die ganze Prostemahlzeit beisammen und hat Mitleid. Deine Mutter auch, Krumhardt.«
Nun bin ich mit meinen Erinnerungen wieder am Abend jenes Tages, an welchem wir in Hartlebens Gartenhause den Tod des Alkibiades aufgeführt hatten. Es waren damals schon einige Jahre seit der Rückkehr der Mistreß Trotzendorff in den Vogelsang hingegangen, und Miß Ellen hatte, auch mit unserer, Veltens und meiner, Beihülfe, doch allgemach ganz gut Deutsch gelernt, hörte (wenn sie Lust hatte) auch auf den Ruf: Helene! Lene! Lenchen! und - wir waren alle drei in den echtesten und gerechtesten Flegeljahren.
Daß die Deutsch-Amerikanerin eine dumme, aufgeblasene, einfältige Gans sei, hatten wir zwei Jungen längst heraus, und ebenso, daß sie doch ein Gutes hatte, nämlich daß man mit ihr aufstellen konnte, was man wollte, wenn man sie nur recht zu nehmen wußte. Mein Vater hatte nichts getan, den Eindruck, den die Arme auf uns gemacht hatte, zu verbessern. Meine Mutter war natürlich der Meinung meines Vaters, wenn auch in einem etwas mildern Grade. Und nur die Nachbarin Andres war ganz und gar dabei geblieben, daß man Mitleid mit ihr haben müsse, und gab der Ansicht bei jeder vorkommenden Gelegenheit nicht bloß Worte, sondern fügte auch die Tat hinzu. -
Ach, wie ich es mir jetzt überlege, kamen die Gelegenheiten recht häufig! Viel häufiger als die Briefe und Geldsendungen des Gatten und Vaters Trotzendorff aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Dem wollte es noch immer nicht wieder recht glücken, und aus meines Vaters Munde schnappte ich das Wort auf: »Gib acht, Adolfine, und erinnere mich seinerzeit an mein heutiges Wort: demnächst hören wir gar nichts mehr von ihm. Wir und die Stadt haben die Frau und das Mädchen allein auf dem Halse. Von Heimatberechtigung kann ja wohl nicht die Rede sein; aber wohin sollte die Kommune sie abschieben, wenn der Gauner seinen Verpflichtungen gegen seine Familie genügend nachgekommen zu sein glaubt oder, was mir wahrscheinlicher ist, wenn sie ihn irgendwo da drüben an einem Strick an einem Baume in die Höhe gezogen haben werden. Nach oben strebte er ja auch schon hierzulande; aber hier hatte er doch nur mit den ordentlichen Behörden, Gerichten und nicht mit dem Lynchsystem zu tun.« -
In einem Hause, in welchem solche Reden über ihren Papa geführt wurden, fühlten sich weder die Mutter noch das Kind des exotischen Sünders so wohl und in verhältnismäßiger Sicherheit, wie es sich für eine treue Nachbarschaft im Vogelsang eigentlich gebührte. Da bot das Häuschen und Stübchen der Nachbarin Andres einen behaglichern Unterschlupf. Es wurde dort allen Sündern viel leichter vergeben als - bei uns. Ich habe eben wahr zu sein, wenn ich durch diese Blätter bei meiner Nachkommenschaft irgendeinen Nutzen stiften will, und so sage ich, daß auch ich selber mich lieber bei der Mutter Veltens zu den Sündern als bei meinen eigenen Eltern zu den Gerechten zählen ließ. -
Also das Unglück war wieder einmal geschehen, und hier hole ich es noch einmal hinein in die Akten aus der fernen unaufgeschriebenen Vergangenheit, unseren Kindertagen: es hatte Feuerlärm im Vogelsang gegeben. Ich hatte die Hand meines Vaters am Kragen gefühlt, meine Mutter hatte die Hände gerungen, der Nachbar Hartleben hatte seiner »Amerikanischen« zum zwanzigstenmal gedroht, sie mit ihrem Balge beim nächsten Quartal auf die Gasse zu setzen - »einerlei, wer mir dann zu meiner rückständigen Miete verhilft!« - Lenchen-Timandra hatte sich, wie immer bei solchen Gelegenheiten, auf dem Osterberge in den Wald geschlagen und vergeblich nach sich rufen und suchen lassen, der Hauptsünder, mit seinen »nichtsnutzigen Pfoten« wahrlich in Leinöl und Watte, agierte in der Sofaecke den Heros weiter, indem er seine nicht kleinen Schmerzen so gut als möglich verbiß, und Frau Amalie seufzte:
»Junge, Junge, dein seliger Vater! Das war wieder ein Tag und Streich, bei dem wir beide ihn mit Tränen von neuem vermissen. Großer Gott, Velten, wen haben wir denn jetzt, der uns sagen könnte, was aus dir, du Strick, noch mal werden soll?«
»Oh heaven, und mein Mann!« ächzte Mistreß Trotzendorff; doch da zuckte die Doktorin Andres nur die Achseln und meinte ablehnend:
»Die Hauptsache ist jetzt Hartleben mit seiner Drohung für dich, Agathe.«
»Der Grobian! Der unverschämte Mensch!« wimmerte die Exmillionärin vom New Yorker Breiten Weg. »O wenn doch mein Mann hier wäre!«
»Nun, nun«, meinte Veltens Mutter, »der würde uns wohl nicht viel helfen. Jawohl, grob war er, der gute Nachbar, und recht hätte er eigentlich wohl, Ernst zu machen und dich mit deinem armen Würmchen auf die Gasse zu setzen. Velten, Velten, was habt ihr angerichtet.«
»Puh«, rief aber jetzt Andres der Jüngere, die umwickelten Hände erhebend und wie ein kranker Affe grinsend, »da ist doch mein Vater noch!«
»Dein Vater, dein armer seliger Vater?« stammelte Frau Amalie.
»Hat der etwa nicht dem Nachbar Hartleben und seiner Frau und seiner Schwiegermutter ein halb dutzendmal das Leben gerettet? Hat er ihn nicht wieder zurechtgebracht, als das Wagenrad über ihn weggegangen war? Und hat Hartleben dir nicht geschworen, Mutter, du solltest nicht bloß deinetwegen, sondern auch wegen meines Vaters zu jeder Stunde bei Tage und bei Nacht bei ihm anklopfen, wenn du was von ihm brauchtest? Und hat er dir nicht zugeschworen, wenn er dich nötig hätte, käme er auch zu dir, und du solltest immer das letzte und beste Wort bei ihm haben und dafür bedankt sein?«
»Man muß die Güte der Menschen aber auch nicht zu sehr in Anspruch nehmen, Kind«, lächelte die Nachbarin Andres trotz aller Aufregung und Sorge des Tages.
»Soll das etwa wieder ein Stich auf mich sein, Amalie?« fragte die Nachbarin Trotzendorff, ihr Taschentuch in Bereitschaft setzend und im Begriff, ihren fragbedenklichen Lebensjammer der Schlechtigkeit und Bosheit der Welt überhaupt und also auch der Mutter Veltens aufzuladen.
»Da kommt Herr Hartleben und bringt Lenchen!« Ich wars, der vom Fenster her dieses erlösende Wort in diese »Gesellschaft am Krankenlager« warf, und es war der Kranke, der aufsprang und gegen die Tür lief, und zwar mit den Worten:
»Was schreit es denn so? ... Wenn Herr Hartleben ihm -«
Er kam nicht zum Schluß seiner Rede. Hartleben hatte »ihm«, das heißt dieser anderen jungen Sünderin nicht ihren Lohn dahin aufgezahlt, wohin er von Rechts wegen gehörte, er zog nur die »widerborstige Range« am Arm hinter sich her durch den Garten und trat mit ihr jetzt ins Haus und in die Stube und sagte, ohne sich um seine Madam Trotzendorff im geringsten zu kümmern:
»Sehen Sie doch mal nach, Frau Doktern. Ich meine, sie hat auch eine häßliche Brandwunde am Ellbogen. Ich habe sie oben am Osterberge mit dem Gesicht im Grase und mit dem Arm im feuchten, kühlen Erdboden und Moose begraben gefunden. Ich war wegen einer Holzabfuhr da oben und bin dem verbissenen Geschluchze seitwärts in den Busch nachgegangen. Ist das eine Komödie! Ist das eine Schwefelbande! Na, nu fangen Sie nur nicht auch an zu schluchzen, Madam - Mistreß Trotzendorff. Lieber Gott, Frau Doktern, und nun fangen auch Sie noch an, den alten Hartleben wehleidig anzusehen! Ja, das ist recht, sehen Sie erst nach dem Kinde. Nicht wahr, eine arge Brandblase. Und damit in den Wald laufen, so weit als möglich von den Menschen weg. Je ärger der Schmerz, desto dickköpfiger die Verstockung, der Trotz und Eigensinn. Na, na, die beiden passen zusammen, Frau Doktern, Ihr Junge und dies kuriose Geschöpfe, unser Lenchen Trotzendorff. Ich sage nichts, aber wenn diese zwei sich durch die Jahre und in der Nachbarschaft noch näher aneinander heranspielen, so gibt das mal nen Haushalt mit Mord und Totschlag.«
»Ich bin nicht trotzig! Ich bin nicht eigensinnig! Ich ging nur auf den Osterberg hinauf, weil Velten wieder alles allein für sich haben wollte und den Großartigen spielen. Mir tat es so weh, mir tat es weher als wie ihm. Karlchen weiß es, wie er ist, und ich will mich nicht von euch allen eine Heultrine schimpfen lassen!« weinte, schluchzte unter wahrem Tränenstrome Helene Trotzendorff jetzt unter den Händen der beiden Mütter. Das heißt, eigentlich nur unter den Händen der Nachbarin Andres; denn die Nachbarin Trotzendorff konnte Verwundungen nicht gut ansehen, geschweige denn hülfebringend fest und kräftig anrühren.
Das Kind stand große Schmerzen aus; aber es behielt während des Verbandes den Unheilskameraden im Auge und rief, mit dem Fuße aufstampfend: »Ja, gucke nur. Bilde dir nur nichts drauf ein, dummer Junge, daß du ein Junge bist. Und wenn uns Herr Hartleben jetzt deiner Dummheit wegen aus dem Hause wirft, so will ich auch allein schuld daran sein und gehe wieder in die Welt und nach Amerika und suche meinen Papa. Nicht wahr, Ma, und wenn wir den gefunden haben, dann können wir wieder auf den Vogelsang aus unserer eigenen Kutsche heruntersehen?«
»Nun höre einer! höre sie einer!« brummte Hartleben. »Und was schwatzt der kleine Racker von mir und dem, was ich tun werde oder nicht? Aber da sie denn einmal die Rede auf die Sache gebracht hat, so wollen wir auch bei ihr bleiben. Frau Doktern, was Hartlebens Anwesen angeht, so wissen Sie, wie Sie dazu stehen - Sie im Vogelsang! Und also auch zu dem Wohnungskündigen und dergleichen. Also wenn es Madam Trotzendorff nicht mehr bei mir - aber eigentlich bei Ihnen nicht mehr gefällt, so muß sie das mit Ihnen ausmachen. Von wegen meiner ist sie sicher. Wir zu unserer Zeit waren ja eben auch Kinder und Jungen im Vogelsang und haben ihn oft unsicher genug gemacht. Was mich aber nicht abhält, dem Haupträuberhauptmann, dem Musjeh Velten, da ein bißchen anzuraten, sich doch manchmal ein warnendes Beispiel an seinem Freunde Karlchen hier, dem Karl Krumhardt, zu nehmen. Wenn ein Randalmacher im Vogelsang existiert, dem ich noch nicht mit einer Tracht Prügel habe drohen oder aufwarten müssen, so ist er das. Also grüße du deinen Herrn Vater, Karl, und mache ihm fernerhin alle Freude. Mistreß - Madam Trotzendorff: Hartleben kann wohl grob, sackgrob werden, wenn er das Recht dazu hat; aber ein Unmensch ist er nicht, und wo er sieht, daß weder Hart- noch Sanft-Dreinreden hilft, da weiß er sich auch zu bescheiden - vorzüglich bei Damens. Also empfehle ich mich und, liebe Frau Trotzendorff, wenn unsere Frau Doktern Ihrem Wurm für diese Nacht ein Lager da auf ihrem Sofa machen würde, wie sies auch mal meinem kleinen seligen Hans getan hat, so hielte ich das für das beste. Das Kind wird doch wohl diese Nacht durch ein bißchen unruhig sein und Pflege verlangen und Sie, liebe Madam, recht stören. Habe ich schon wieder zuviel gesagt? Na, denn guten Abend rundum! Zwischen uns beiden bleibt alles wie es ist, Frau Doktern.«
Er war gegangen, und Lenchen Trotzendorff bekam ihr Lager für diese Nacht und manche folgende im Andresschen Hause, dem rechten Nachbarhause.
»Ich bin dir so dankbar, Amalie! Aber meine unglückseligen Nerven! Und dann bist du ja auch eine Doktorsfrau, und selbst eine halbe Ärztin, du liebe, liebe Seele«, wimmerte die Nachbarin Agathe.
Ich habe dem Nachbar Hartleben Raum zu seinen Eräußerungen gegeben. Es lag mir daran, diesen guten Mann aus der Erinnerung mir hinzumalen, wie er war und sich gab zum Besten seiner Nachbarschaft. Have, pia anima! Sanft ruhe seine Asche: er hats auch um den Ritter mehrerer Orden Dr. jur. Oberregierungsrat Krumhardt verdient, daß der ihn seinen Nachkommen nach den Akten, wenn auch nicht aktenmäßig, aufbewahre als ein Zeichen, wie es vordem zuging im Vogelsang. Sein schmeichelhaftes Wort über mich auf dem vorigen Manuskriptblatt kommt hierbei wahrlich nicht in Betracht, sondern vielmehr ein vollkommenes Gegenteil davon. Es half sehr, wenn der Nachbar Hartleben seine Meinung über den Sohn meines Vaters dahin abgab:
»Bengel, wenn ich du wäre, so hätte ich gestern doch nicht mit den Händen in den Hosentaschen dabeigestanden und die anderen allein es ausfechten lassen!«
Ich war dann wirklich das nächste Mal nach besten Kräften mehr mit dabei. Gewöhnlich litten dann aber leider nicht nur meine Jacken, Hosen, Nase und Augen, sondern auch die Gefühle der Eltern sehr unter dieser Besserung in Nachbar Hartlebens Sinne. Die »Frau Doktern« hatte dann nicht nur mit einem Waschnapf für die blutende Nase, einer Kompresse für das geschwollene Sehorgan, sondern auch noch mehr mit sanft überredender Bitte im Nachbarhause »einzuspringen«, wie Velten sich ausdrückte.
»Meiner ist natürlich der Hauptsünder gewesen. Sagen Sie es ihm nur ja recht ordentlich, Herr Nachbar!« -
Mein wackerer, braver Vater! meine gute, sorgenvolle Mutter! sie hatten wahrlich ihre täglichen und nächtlichen Nöte im Vogelsang. Leider aber tröstet und erquickt den Menschen auf seinem Erdengange auch die sicherste Gewißheit, daß er recht habe oder es jedenfalls bekommen werde, wenig. Meine Eltern hatten vollkommen recht und wußten das auch, aber Genuß zogen sie kaum aus ihrem Wissen. Dieses konnte sie nur darin bestärken, ihr eigen Fleisch und Blut möglichst auf dem richtigen Wege zu erhalten, auf daß und damit die Welt bestehe und ordnungsgemäß an nachfolgende Geschlechter weitergegeben werde. Nach besten, treuesten, sorglichsten Kräften haben sie so an mir getan, und - gottlob, ich weiß, daß meine Frau und meine Kinder mit ihren Erziehungsresultaten zufrieden sind. Sie sehen alle mit Respekt zu dem alten Herrn Rat, dem »Großpapa«, über meinem Schreibtische auf, und meine Frau sagt dann auch wohl lächelnd:
»Du, es ist möglich, daß du es nicht glaubst; aber ich glaube, die Mama, deine Mutter, setzte häufiger ihren Willen gegen ihn da auf dem Bilde durch, als ich den meinigen dir gegenüber. Vorzüglich was die Kinder anbetrifft.«
»Sie teilten sich eben auch in die Verantwortlichkeit dafür gegenüber der Welt, mein Schatz.« -
Jaja, so redet man, über den Schreibtisch weg, am trauten Winterofen, in der Gartenlaube über die, so ihrer Arbeit für diesmal entledigt sind, über die Gras wächst und zu denen noch einige Zeit ihre Nächsten im Leben kommen, bis Straßenzüge, Eisenbahngeleise oder, im besten Falle, der Ackerpflug über sie weggehen und ihre Stätte nicht mehr gefunden, doch auch nicht mehr gesucht wird.
Ja, über den Schreibtisch weg sehe ich heute (nicht mit leiblichen Augen) auf unsern alten Kirchhof im Vogelsang, wo sie den Rat und die Rätin Krumhardt, den Doktor und die Frau Doktern Andres und den Nachbar Hartleben so nachbarschaftlich nebeneinander gebettet haben und wo wir, meine Kinder, mein Weib und ich, wo Velten Andres und Helene Trotzendorff nicht ihre Ruhestätten bei ihren besten Erziehern finden werden. Jetzt liegt auch er schon zwischen Backsteinmauern und Zement-Kunsthandwerk, der Friedhof des Vogelsangs; damals lag er noch vollständig im Grün, und eine lebendige Hecke ging um ihn her. Hohe Bäume überschatteten ihn, und die Vögel sangen da noch - auch die Nachtigall zu ihrer Zeit, und hier wars, wo wir, wenn uns der Weg zum Walde hinauf zu sonnig war, nicht Schiller und Goethe (die hingen uns von der Schule her aus dem Halse, wie Velten sich ausdrückte), sondern Alexander Dumas den Vater lasen und mit seinen drei Musketieren, wie er, die Welt eroberten.
Und dann -
Und dann -
Dort vor dem Tor lag eine Sphinx,
Ein Zwitter von Schrecken und Lüsten,
Der Leib und die Tatzen wie ein Löw,
Ein Weib an Haupt und Brüsten.
Die Nachtigall sang: O schöne Sphinx!
O Liebe! Was soll es bedeuten,
Daß du vermischest mit Todesqual
All deine Seligkeiten?
Und wenn sich alle Schulmeister der Welt auf den Kopf stellen oder vielmehr fest hinsetzen aufs Katheder: sie erobern die Welt zwischen dem sechzehnten und zwanzigsten Lebensjahre doch nicht durch moralisch, ethisch und politisch gereinigte Anthologien. Der »Unsinn«, der Mondenschein, der »frivole Ungeschmack« und die
Nachtigall, der »Blödsinn«, der Lindenduft, das ferne Wetterleuchten und die hübsche Jungfer Lorelei im lichten Sommerkleide im Mondlicht behalten doch ihr Recht: der Spiegel behält sein Recht, aber nicht die Rute dahinter...
»Das Gewitter scheint doch heraufzukommen, Velten!« sage ich, während wir jetzt noch im Mondlicht neben einem Grabe stehen, auf dem eine einfache Steinplatte in Goldschrift den Namen Valentin Andres, Doktor der Arzneikunde, nebst Geburts- und
Todes-Jahres- und Tagesdatum trägt; und Velten Andres lacht:
»Laß es kommen,
Den Toten im Meere kümmerts nicht,
Er ist ja naß genug«,
und das ist wieder aus einem Poeten, den man um diese Lebenszeit sehr gern zitiert, wenn auch die Zitate wie die Faust aufs Auge passen. Aus dem Ferdinand Freiligrath ists, der auch nicht von den Herren Lehrern zu den Klassikern gezählt wird, sich selber nicht dazu zählte und doch auf ungezählte
Hunderttausende von Schuljungen von größerm Einfluß ist als der Dichter des Egmont, der Iphigenie und des Torquato Tasso. -
Seinen Vater kennt Velten eigentlich nur aus den Erzählungen seiner Mutter.
»Nur der Mutter und meinetwegen hat er sich was aus dem Sterben gemacht, für sich selber nichts«, sagte der Sohn seines Vaters. »Kommt dieser Sofaheld uns hier auf dem Kirchhofe mit seinem dummen Gewitter! Geh du dreist nach Haus und hol dir einen Regenschirm, wenn deine Alten
dich wieder loslassen; Miß und ich bleiben hier, bis wir naß sind bis auf die Knochen. Famos, da verkriecht sich die holde Luna, und da haben wir die Prostemahlzeit, wie sie in Schödlers Buch der Natur steht. Komm rasch nach Hause, Lenchen! Deine Alte kenn ich; die wird ja rein verrückt beim leisesten Donner, und auf meine Alte und mich wirds natürlich allein abgeladen, wenn du morgen mit einer Schnupfennase herumläufst.«
»Lächerlich machen lasse ich mich nicht«, sagt Helene und setzt
sich auf einen halbversunkenen Grabstein neben dem des Doktors Andres. »Ich bleibe hier, wie du gesagt hast! Aber auch allein. Bilde dir ja nicht ein, du Schafskopf, daß du morgen mit mir renommieren willst! Karlchen, nimm ihn auf den Arm und trag ihn zu seiner Mama. Ja, ich bleibe hier und denke an meinen Vater - was kümmern mich eure Toten und dummen Gewitter? In Amerika kommt das ganz anders, und kommt mein Vater, um uns wieder zu sich zu holen, so - o Himmel, Velten!«
Sie hatte
trotz ihrer großen Worte doch einen kleinen Schrei ausgestoßen ob des ersten grellen Leuchtens und rasch nachfolgenden Krachs aus der Höhe. Sie duckte sich auch vor dem Platzregen; aber sie biß die Zähne zusammen und blieb auf ihrem Sitze.
»Jetzt sei keine Närrin, Lenchen, komm mit nach Hause.«
»Nein.«
»Tu es Karls wegen. Der arme Teufel besieht Redensarten, an denen er wochenlang zu kauen hat, wenn er mit verdorbenem Sonntagsstaat heimkommt.«
»Er kann
ja laufen. Ihr könnt meinetwegen beide laufen; ich finde meinen Weg schon allein. Ich denke an meinen Vater in Amerika und brauche keinen andern hier. Meine Mutter sagt, wenn er kommt, ist er reicher und vornehmer und stärker als alle hier.«
»Es ist wahrhaftig Hagel dabei, und die Sache wird ungemütlich, Karl«, brummt Velten. »Na, bei schönem Wetter habe ich nichts dagegen, daß du die Märchenprinzeß herausbeißt, Miß Ellen; jetzt hör auf mit deinem Schnack - und gehst du nicht willig,
so brauch ich Gewalt, sagt Goethe, und nun komm, Herzchen -
Eine Wassermaus und eine Kröte
Gingen eines Abends spöte
Einen steilen Berg hinan.«
Der sechzehnjährige Signor Petruchio hat den Rock abgerissen und ihn dem sein wildes, phantastisches Köpfchen mit beiden Armen gegen den niederrasselnden Hagel- und Platzregensturm schützenden Kinde übergeworfen, das nur schwach widerstrebende aufgegriffen, und zwar mit dem fernern Zitat aus dem
Sekundaner-Klassikertum:
»Da begann die Wassermaus zur Kröte:
Warum gehen wir des Abends spöte
Diesen steilen Berg hinan?«
fügt aber hinzu: »Eigentlich ists umgekehrt: die Kröte hat das Wort. Ja, zapple nur, Kröte, kleine Riesenkröte! Diesen Abend sind wir noch in Deutschland, und deiner Mama Vereinigte Staaten von Nordamerika und sonstigen Herrlichkeiten können mir - kommen.«
Wie Helene und Velten von den Müttern empfangen werden, habe ich nicht in den Akten; was mich selber betrifft, so wird mein Vater wohl gesagt haben:
»Endlich könnten diese Dummheiten wohl aufhören.
Allotria auf dem Kirchhofe! ... Und übrigens scheinst du mir auch seit längerer Zeit schon dich einer recht überflüssigen, wenn nicht schädlichen Leserei zu ergeben. Bleib bei deinen wirklichen Büchern und meinetwegen auch älteren Poeten; aber laß mir diese dummen Romane und sogenannten neueren Dichter aus dem Hause, mein Sohn. Nebenan da zur Vernunft zu reden, hilft ja nicht; da laß ich den Narreteien allmählich ihren Weg; aber hier in meinen vier Pfählen bleibt Verstand Verstand, Sinn Sinn,
Unsinn Unsinn und Schund Schund. Was ist deine Meinung, Adolfine?«
»Bis auf die Knochen muß der Junge durchweicht sein. Eine wahre Überschwemmung hat er mir in die Stube gebracht. Gott sei Dank, Kind, daß du wenigstens mit heiler Haut wieder da bist! Mir beben noch die Glieder - das sieht schön aus im Garten nach dem Hagel und Gewitter. Geh jetzt hin und zieh dir was Trockenes an und vor allen Dingen Pantoffeln.«
Habe ich mir so sehr Pantoffeln und so sehr »was Trockenes« nach dem Rat meiner armen, guten Mutter angezogen, daß man es mit Mißbehagen aus diesen Blättern mir anmerkt?
Ich glaube nicht.
Was erzieht alles an dem Menschen! Und wie werden mit allen anderen Hoffnungen und Befürchtungen Eltern-Sorgen und -Glücksträume zunichte und erweisen sich als überflüssig oder besser als mehr oder weniger angenehmer Zeitvertreib im Erdendasein!
Als ein wohlgeratener Sohn, als ein älterer, verständiger Mann, als wohlgestellter Familienvater, als »angesehener«, höherer Staatsbeamter erzähle ich heute weiter vom Vogelsang und teile zuerst mit, daß wir, wenn nicht die besten Lateiner und Griechen auf unserm illustren Gymnasium, so doch die besten Engländer waren. Der für diesen Unterrichtszweig vom Staate besoldete Oberlehrer und Doktor war, obgleich er ein ganzes halbes Jahr »in London gewesen war«, durchaus nicht schuld daran. Wir hatten das einzig und allein dieser »kleinen amerikanischen Krabbe« zu verdanken, die zuerst uns in den Vogelsang die verblüffende Offenbarung brachte, daß allerhand nichtsnutzige Sprachen nicht nur tot zu unserm Elend in den Grammatiken und in Büchern ständen, sondern wirklich und wahrhaftig lebendig seien und bei allerhand Völkerschaften außerhalb des deutschen Vaterlands tagtäglich im Gebrauch und um uns im Vogelsang zu »imponieren«.
»Imponieren lasse ich mir nicht. Schlage mal auf im Lexikon: nasty«, sagte Velten, lange vor unseren Sekundaner-Mondschein- und -Gewitter-Abenden mit Heine, Geibel und Uhland in der Tasche und im Hirn und Herzen. »Boy heißt Junge, Bengel oder dergleichen, das weiß ich; aber nasty boy hat das Balg zu mir gesagt und die Zunge herausgestreckt. Gib mir das Buch, wenn du es nicht finden kannst.«
Er riß mir das Lexikon aus den Händen, fand das Wort, und - von da an bis zu Shakespeare, Byron und dem übrigen Groß und Klein ist wieder einmal nur ein Schritt gewesen.
Als wir Primaner geworden waren, hatte Miß Ellen Trotzendorff sich zu einem allerliebsten, naseweisen, eigensinnigen deutschen Backfisch herausgewachsen, aber ihr Englisch oder Amerikanisch so ziemlich vergessen: wir aber konnten es. Velten ausgezeichnet, ich mittelmäßig, doch auch vollkommen genügend für ein rühmliches Schulabgangszeugnis in dieser Hinsicht. Mistreß Trotzendorff, die mit ein paar angelernten Phrasen von New York herübergekommen war, blieb bei denselben: übrigens wuchs sie sich, wie der Vogelsang sagte, im Laufe der Jahre allgemach aus einer armen Person, die für ihre Kümmernisse nichts konnte, zu einer kompletten Närrin heraus. Und obgleich sie auch dafür eigentlich nichts konnte, so ließ der Vogelsang hier doch keine Entschuldigung gelten, ausgenommen die Nachbarin Andres, die mitleidig und geduldig bei dem Wort blieb:
»Die arme Agathe!« -
Jawohl, wir hatten alle unsere Not mit der »armen Agathe«; jeder auf seine Weise. In der besten die Frau Doktor Andres, in der schlimmsten des wirklich armen Weibes eigenes Kind. Was für eine Närrin wäre das geworden, wenn nicht der Vogelsang in allen seinen Nuancen, Schattierungen und Abschattierungen um es herum gewesen wäre? Welche Bilder und Gedanken steigen mir da auf, wie ich wieder den Brief in die Hand nehme, den mir Helene Trotzendorff, verehelichte Mungo, aus Berlin geschrieben hat und der mich dazu gebracht hat, diese Blätter mit meinen Lebenserinnerungen zu füllen!
Während wir, Velten und ich, wie letzterer sich ausdrückte, unsern Stiefel fortgingen, wuchs unsere Kleine auf wie eine gebannte, verzauberte Prinzessin aus dem Märchenbuch der Brüder Grimm. Sie war klug und schön und wurde immer klüger und immer schöner; aber sie hatte in Lumpen zu gehen und im wilden Walde im bloßen Hemde zu irren, auf bloßen Füßen Wasser zu holen für die Küche und die goldenen Haare auf der Heide als Gänsemädchen zu strählen. Und leider war sie in ihrer Verzauberung im Vogelsang nicht so geduldig wie die ins Elend geratene Königstochter der lieben Sage. In den Bäumen am Osterberge saß sie wohl auch dann und wann auf einem bequemen Zweig als Allerleirauh; aber »die Haare sehr nach innen«, wie wiederum Velten sich zierlich und bezeichnend ausdrückte. Wer sie zu Tränen der Reue, Rührung und Ergebung bringen wollte, mußte das fein anfangen, und gelang es eigentlich nur der Nachbarin Andres; Tränen der Wut und Bosheit ihr zu entlocken, war recht leicht, und diesen »Spaß« machte sich Velten Andres, der Sohn seiner Mutter, nur zu häufig. Was Helene Trotzendorff Gutes aus dem Vogelsang in ihres Vaters Königreich später mitgenommen hat, hat sie zum größten Teil doch nur den beiden zu danken gehabt. -
»Nun höre sie einer da drüben«, sagte um diese Lebenszeit mein Vater, in unserer Gartenlaube beim Sonntagsnachmittagskaffee von der Zeitung aufsehend. »Da liegen sie sich wieder bei der Doktorin in den Haaren - einerlei, ob es Spaß oder Ernst ist: die Passanten bleiben stehen, und die Nachbarschaft legt sich in die Fenster und hat ihren Grund dazu! Und die Amalie lacht dazu! Endlich könnte sie doch bedenken, daß sie keine Kinder mehr sind. Junge, Junge, wenn ich dich nur erst glücklich auf der Universität habe! Sieh doch mal über die Hecke, Frau, und frage deine Amalie, was sie nun wieder vorhaben. - Der Lärm ist ja unerträglich.«
Jawohl, der Lärm war unerträglich, vorzüglich für mich, der trotz seiner bessern Erziehung und Beaufsichtigung, oder gerade wegen derselben, so gern mit dabeigewesen wäre; aber -
»Was habt ihr denn, Kinder?« fragte, ihr Strickzeug niederlegend, meine Mutter über den nachbarlichen Zaun, und - da sind sie schon mit hochroten Köpfen, Fräulein Ellen und Velten Andres, und hinter ihnen erscheinen die Mütter, Mistreß Trotzendorff in Tränen - und die Frau Doktern sagt über deren Schultern weg mit ihrem Lächeln:
»Ja, es war die höchste Zeit, daß von hier aus mal wieder eingeschritten wurde. Jetzt reden Sie Vernunft, Nachbar Krumhardt; ich bin mit der meinigen vollständig zu Ende.«
Es war am Tage vorher eine Hundertdollarnote aus Nordamerika im Vogelsang angelangt, und Mrs. A. Trotzendorff hatte, ohne alte Schulden in der Nachbarschaft abzutragen, sofort an diesem Sonntagnachmittag ihre Vernunft walten lassen, das Wort genommen und es behalten trotz Veltens »naseweisen, unverschämten Einredens«, trotz der Frau Amalie abwehrenden Kopfschüttelns und Lächelns, ja, auch trotz ihres Lachens.
Sie hatte ein gar liebes, doch auch vielbedeutendes Lachen an sich durch ihr ganzes Leben, die Frau Doktorin Amalie Andres; aber es wirkte auch am heutigen Tage so wenig auf Deutsch-Amerika wie meines braven Vaters nüchterne, ehrliche Ernsthaftigkeit.
Die neunte Woge ist ja wohl im Auf und Nieder des Meeres die Woge der Götter und des Glücks, und wenn das auf den Wassern mit Hülfe des Winters wirklich der Fall ist, weshalb sollte da nicht auch im Auf und Nieder des Menschenlebens solch eine neunte Woge den mutigen Schwimmer zur Höhe heben? Nach den dann und wann aus den Vereinigten Staaten im Vogelsang einlaufenden Briefen hob sich Mr. Charles Trotzendorff mindestens wieder auf der siebenten, wenn nicht gar achten Welle: »Daß er die armen Seelen, seine Närrin von Frau und das Kind, nicht ganz abgeschüttelt hat und für sie verschollen ist, ist mir freilich ein Wunder; aber ein Schwindler war er, und ein Schwindler bleibt er, und was an seinen Rimessen hängen mag, das möchte ich auch nicht alles auf meinem Gewissen haben«, sagte mein Vater.
Doch -
»O, lieber Krumhardt, bester Nachbar«, ruft jetzt die Frau Nachbarin Agathe; »o, mein Charles! Mein armer herrlicher Charles! Mein Einziger! Ich weiß das ja nur zu gut, wie ihr hier über ihn denkt. Glaubt ihr, ihr hättet es mich diese langen schrecklichen Jahre durch nicht merken lassen? Wenn auch nicht durch Worte, doch auf jede mögliche andere Weise! Und nun schreibt er: wir könnten anfangen, die Fühlhörner wieder aus dem Schneckenhause zu stecken, er tue es auch. Elly, die Schneiderin kommt doch übermorgen gewiß? O Gott, und wenn ich dann mit meinem vollen Herzen zu euch komme, so sitzt ihr da und zieht Gesichter in mein Glück; der eine auf die eine Weise, der andere auf die andere. Ich bin ja ganz gewiß dankbar und weiß, wie sehr ich euch für so manche Güte verpflichtet bin; aber ich weiß auch, daß Charles ganz gewiß seine und meine Schuld bei euch abtragen wird. Dem Himmel sei Dank, daß ich mir und meinem armen Kinde bald nicht mehr jeden armseligen Fetzen auf dem Leibe nachrechnen lassen muß! Und, Amalie, Hartleben will ich ja auch fürs erste noch nicht mein entsetzliches Unterkommen bei ihm kündigen und mich nach einer anständigeren Wohnung in der Stadt umsehen. Fragt doch nur Ellen, ob wir nicht ganz genau wissen, was wir an dem Vogelsang haben, wenigstens bis jetzt gehabt haben. Nur noch eine kurze Zeit abwarten, schreibt er ja, gottlob; also, bitte, habt auch ihr gütigst nur noch eine kleine Weile Geduld mit uns! Ihr sollt uns ja auch drüben später willkommen sein, und das sage ich besonders dir, lieber Velten. Jawohl, dir! Schneide du nur deine Gesichter und zupfe Ellen am Ärmel! Das Kind hats ja leider Gottes hier in unserm Hunger und Kummer vergessen, in was für eine andere Welt es hineingehört von Vater und Mutter wegen. Bester Krumhardt, in dieser Hinsicht werden Sie ganz auf meiner Seite stehen, wenn ich unserer guten Amalie jetzt ganz offen sage, daß der junge Mann, ihr Sohn, unser guter Velten, nicht von dem besten Einfluß auf - ich will mal sagen, seine Umgebung ist. Mit bloßem Gesichterziehen und spitzigen, lächerlichen Anmerkungen und allem übrigen von der Art kommt man nicht durch die Welt, lieber Velten, und besuchst du uns später wirklich vielleicht einmal auf dem Broadway, so werden dir mein herrlicher Gatte, Ellens Pa - und die große Welt selber dir das noch etwas klarer machen, als ich es könnte und - hier Lust dazu hätte.«
Dieser Sommer-Sonntagnachmittag, der eigentlich ganz gemütlich und vogelsangmäßig angefangen hatte, ging wieder einmal recht unbehaglich zu Ende. Die Nachbarin Trotzendorff irrte sich doch sehr, wenn sie meinte, meinen Vater durch ihre unvermutete Hinweisung und den Angriff auf den armen guten Velten ganz für ihre sonstigen Anschauungen, sowie überhaupt ihre Lebensanschauung gewonnen zu haben. Es war dem ernsten, würdigen Herrn manches nicht recht an meinem besten Freunde, aber eigentlich gar nichts an Mistreß Agathe Trotzendorff und gar an Mr. Charles Trotzendorff.
Nun, was den letztern anbetraf, so genügte fast immer eine wegschleudernde Handbewegung und eine lang hingeblasene Tabakswolke, um den vollkommen und für immer aus Raum, Zeit und Kausalität für den Obergerichtssekretär Krumhardt hinauszuweisen.
Da er dazu aufgefordert worden ist, so nimmt er das Wort, mein seliger Vater, und sagt der Nachbarin Agathe seine Meinung, gibt sie vor der gesamten Freundschaft umher zu Protokoll. Ohne im geringsten wegen Injurien belangt werden zu können, erklärt er sie für die albernste, unzurechnungsfähigste Gans, die jemals dem Vogelsang durch ihr Gegacker und Geschnatter die Harmonie gestört habe. Wie er selbst meinetwegen wohl seine Hoffnungen hat, aber sich keine Illusionen macht, so sind ihm Illusionen der Nebenmenschen vollkommen unerfindlich und also auch unbegreiflich. Obgleich er selber die mehr oder weniger spärlich aus Amerika einlaufenden Banknoten und Wechsel zu deutschem Gelde zu machen hat, glaubt er doch im Grunde an sie nie recht und hat immer das Gefühl, der transatlantische Telegraph sei ihm bei dem Bankier mit dem einheimischen Staatsanwalt zuvorgekommen, und zwar in lakedämonischer Kürze durch das eine Wort: Schwindel! Er ist ein eifriger Zeitungsleser und weiß, daß merkwürdige Sachen in der Welt vorkommen und merkwürdige Leute ein kurioses Glück haben, nicht bloß in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, sondern auch im deutschen Vaterlande; aber an seinen alten Schulbankgenossen Charley Trotzendorff glaubt er weder im deutschen Vaterlande noch in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Es gibt auch Illusionen der Verneinung. Sie nehmen überhaupt wunderliche Formen und Farben an, unsere - Täuschungen im Dasein auf dieser Erde. -
Wie deutlich die verstörte Gruppe in der Gartenlaube mir heute noch vor Augen steht! Mistreß Trotzendorff in kindischen Tränen, Helene in trotzigen; meine Mutter in verhaltenen, verlegenen, aber ganz und in allem der »Ansicht des Vaters«. Freund Velten mit einem zugekniffenen und einem nach Miß Ellen hinüberblinzelnden Auge und überhaupt einem Gesicht wie: »Herr Gott, wozu dein schönes Wetter und deine angenehme Welt, wenn keiner was damit anzufangen weiß?« - und die einzige auch jetzt dem Vogelsang vollkommen Gewachsene, »unsere Amalie«, seine Mutter, Nachbar Hartlebens Frau Doktern - die Frau Doktorin Amalie Andres! -
Im Grunde ist sie doch die einzige von allen, vor der auch mein Vater Respekt hat und auf die er hört, wenn er das Wort genommen hat und sie es nach ihm nimmt, trotzdem er als »Familienfreund« auch ihr gegenüber das Wort: »Unzurechnungsfähiges Frauenzimmervolk« oft genug hinter den Zähnen brummt. Und sie sagt jetzt, »ihr« Kind - nicht ihren »dummen Jungen«, sondern die »arme Kleine von drüben überm Weg und überm Weltmeer« zu sich heranziehend:
»Lieber Nachbar Krumhardt, ich bitte! - Aber ihr Leutchen, was seid ihr für ein Volk! Wie soll sich denn unsereins hier durchfinden, wenn jeder rundum recht hat von seinem Standpunkt aus? Beste Agathe, was hätte ich wohl, und der arme Velten, diese letzten langen, traurigen Jahre ohne den verständigen, treuen Freund unserer Familie, ohne unsern Familienfreund anfangen sollen? Und wie undankbar sind wir oft gewesen! Wie oft haben wir es besser verstehen wollen als er! Ja, Nachbar Krumhardt, das ist nun eben Ihr Schicksal, daß Sie in eine solche Gesellschaft von Phantasiemenschen gesetzt worden sind und Geduld haben müssen. Wie oft habe ich mir in schlaflosen Nächten vorgehalten: im Grunde bist du die Allerschlimmste, Amalie! Selbst Agathe Trotzendorff fährt nicht so närrisch wie du auf den Wolken und ihren Hirngespinsten über den Vogelsang im blauen Himmel umher. Da habe ich denn wohl nach Entschuldigungen gesucht und die beste nur auf unserm Kirchhofe gefunden: Hätte der Liebe da, der dort unter seinem grünen Hügel liegt, dich nicht so sehr verzogen und mit sich in die Höhe gezogen, so möchtest du ja auch wohl vernünftiger und verständiger in den tagtäglichen Dingen und Angelegenheiten sein und deinen Velten besser erziehen und dem Herrn Oberregierungssekretär weniger Verdruß machen können. Sehen Sie, bester Nachbar, und diese Entschuldigung hat dann grade das Gegenteil von meiner und Veltens Besserung bewirkt. Ich habe mir verhältnismäßig glückliche Tränen abgetrocknet und bin doch mit besserm Gewissen auf meinem Kopfkissen eingeschlafen, als ich mich drauf hingelegt hatte. Und weil wir denn hier plötzlich so in eine allgemeine Beichte hineingeraten sind, so kann ich nur sagen, daß ich am andern Tage nach jeder solchen Gewissensbißnacht stets die allermöglichsten und Ihnen verdrießlichsten Einwendungen gegen Sie hatte, bester, teurer Freund - und wie gesagt, so haben Sie eben mit uns Geduld haben müssen, diese letzten schweren Jahre durch, wo Sie unsere einzige treue, sorgliche männliche Stütze in der nahen Nachbarschaft und der weiten Welt waren, Herr Nachbar. Sie schütteln den Kopf, weil ich hier so in den schönen Sonntagsabend hineinschwatze, und ich bin noch nicht fertig, sondern komme jetzt auf Agathe. Ja, Nachbar, da sehen Sie mich nur an: gegen die habe ich die nämliche vergebliche treue Familienfreundsrolle gespielt wie Sie gegen mich. Wie habe ich der, in Ihrem Sinne, Herr Nachbar, Vernunft gesprochen, ohne das geringste auszurichten. Eben noch, wie Sie selber von hier aus gehört haben. Und das Resultat? Wie immer! Wie ich gegen Sie, Herr Regierungssekretär: halb Tränenflut, halb zehn ausgespreizte arme, wehrlose, dumme Weiberkrallen! Gradeso wie ich! Nur ein kleiner, ganz kleiner Unterschied: sie sucht immer noch ein Glück, welches es doch nicht gibt; ich will nur aus angeborener Schwäche und Ängstlichkeit mir manchmal nicht gern eine erträgliche Stunde verderben lassen. O ja, auch deshalb wäre es für uns beide Frauen wohl besser, wenn ich meinen Velten von Hause wegschickte und ihr ihr liebes Kind auch genommen würde, um unter bessere Zucht und strengere Obhut zu kommen, als sie, und ein bißchen auch ich, leisten können. Aber sie will ihre Helene für den lebenden Vater bei sich aufbewahren, und ich frage mich bei allem: was würde Valentin dazu sagen? Was würde der tote Vater zu dir und deinem Velten sagen? Und das nimmt mir auch gegen Agathe alle Waffen aus der Hand. Ja, schütteln Sie nur den Kopf, Nachbar; Sie haben vollkommen recht: wir bedürfen eines Vormunds, auch wo, oder besonders wo, wie in unserm Fall, unsere Kinder und unsere Männer für uns armen Weibsleute mit im Spiel sind. Freilich ists kein dankbares Geschäft, grade da den Vormund spielen zu müssen! Leider wissen Sie das auch mir gegenüber aus tausendfacher Erfahrung, Nachbar Krumhardt; also« - und so weiter, und so weiter noch eine geraume Weile.
Aber mein Vater hielt sich auch schon seit einer geraumen Weile den Kopf mit beiden Händen, um nicht zu sagen: mit beiden Händen die Ohren zu. Was sie sagen wollte, die Frau Doktorin Amalie Andres, wußte er wohl; jedoch wie sie es herausbrachte, das ging ihm doch über die Bäume, nicht nur seines Hausgartens, sondern auch des ganzen Vogelsangs. Und noch dazu in Gegenwart der Kinder - der Unmündigen - dieses jungen Volkes, dem da eine saubere Heckenpredigt gehalten wurde, auf die es sich freilich bei jeder nachfolgenden Lebenstorheit und Nichtsnutzigkeit berufen konnte.
Man brauchte da nur den Schlingel, den Velten, anzusehen, wie der, nach außen mit dem komödiantenhaftesten Armesündergesicht, nach innen hinein seine »gloriose Alte« herzte und küßte und den ernsten, treumeinenden Familienfreund zum Narren und für einen Narren hielt.
Und dann gar die verzogene Krabbe der entmündigungsreifen Amerikanerin aus dem Vogelsang! Dies junge Ding, das Hartleben heute mit der Peitsche aus seinem Lieblingsbirnenbaum herunterholen wollte, um ihm morgen den Korb mit der ganzen Ernte und einem Blumenstrauß drauf persönlich ins Dachstübchen auf seinem Anwesen hinaufzutragen! Diese »kleine Affe«, die einen selbst in diesen jungen Jahren zur Verzweiflung bringen konnte mit ihren angeborenen »Allüren« und den aus allem, was nichtsnutzig im Leben war, zugelernten; gleichviel ob es mütterliche Erziehung, Modenzeitung, Leihbibliothekslektüre oder Herumtreiberei mit allen jungen Taugenichtsen des Vogelsangs in Wald und Feld hieß! - -
Ich habe diesen einen Sonntagnachmittag von vielen hunderten seinesgleichen, und nicht bloß im Sommer, sondern auch in jeder andern Jahreszeit, wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten so deutlich und farbenfrisch als möglich zu Papier gebracht. Es erübrigte mir also nur noch, auch zu schildern, wie mein Vater all das Seinige: Pfeife, Tabakskasten, Zeitung, Amtsblatt an sich nahm und immer als ein durch Weiberlärm, Dummheit, Gezeter betäubter, durch feuchte Taschentücher und trockenste Albernheit aus jedwedem Konzept gebrachter Familienvater, Familienfreund und wohlmeinender Nachbar im Sommer die Gartenlaube, im Winter die Familienstube hinter sich ließ und sich in sein Reich, eine Treppe hoch, zurückzog und mich gewöhnlich mit sich nahm. Ich verzichte drauf; aber seinen Griff verspüre ich heute noch am Oberarm, wie ich mich in diesem düstern Wind- und Reifmond, mit Mistreß Mungos Brief vor mir, in jene doch so unschuldige, glückselige, sonnedurchleuchtete Zeit zurückdenke. Dann aber sehe ich auch zu dem Bilde des alten Herrn über meinem Schreibtisch unter einigen Gewissensbissen auf und - möchte das Nachgefühl seiner grimmigen, aber treuen Faust an meinem Arm wahrlich nicht missen, auch durch mein ganzes ferneres Leben.
Und doch! Mit welchem Verdruß, Trotz und mehr oder weniger deutlichen Widerstreben habe ich zu jenen Zeiten, da er noch mehr als eine Erinnerung war, jenen guten Griff erduldet! Und wie oft habe ich mich von ihm frei gemacht und bin mit den beiden anderen durchgegangen im Vogelsange in den Vogelsang und auf den Osterberg, aus der Niederung zu den Höhen, aus dem Alltag in den Sonntag, aus der griechischen und lateinischen Grammatik in die Tausendundeine Nacht, aus Vegas Logarithmen, aus der Mathematik und Arithmetik in die wirkliche Idealität von Zeit und Raum, in das raum- und zeitlose Jugendphantasiereich von Velten Andres und Helene Trotzendorff!
Auf dem Osterberge waren wir auch wieder alle drei zusammen an jenem Abend, der auf den eben beschriebenen stürmischen Familien- und Nachbarschaftssonntagnachmittag folgte. Die zwei anderen, wie gewohnt, ihre eigenen Wege gehend, ich verstohlen etwas später einem verstohlenen Wink und Zeichen Veltens folgend. Der Wald war selbst damals schon dort oben von ziemlich wohlgehaltenen Pfaden durchschnitten, wie man sie heute in den Bädern als »Promenadenwege« kennt. Hier und da hatte sogar schon irgendein Naturliebhaber und Wohltäter der Menschheit eine Bank aufgestellt, die meisten in das Gehölz und Gebüsch hinein, doch eine oder zwei auch an den Rand des Hügels mit dem Blick ins Tal und auf die liebe Heimatstadt und Hochfürstliche Residenz, halb in diesem Tale und halb im offenen Lande.
Auf dieser Bank am Waldrande im tiefsten Frieden der Natur fand ich auch diesmal die beiden ärgsten Störenfriede des Vogelsangs, den Sünder in die eine Ecke gedrückt, die Sünderin in die andere, so daß in der Mitte vollkommen Raum für mich, den guten Freund, übrigblieb. Da Neumond im Kalender stand, so war der Abend ziemlich dunkel. Die vereinzelten Sterne oben zählten nicht; nur die Lichter der Stadt in der Tiefe und die Gaslaternen ihrer Straßen und Plätze gaben einen bemerkenswerten Schein. Im fürstlichen Schloß schien »irgendwas los zu sein«, denn das leuchtete sogar sehr hell in die warme Sommernacht hinein und zu dem Osterberge empor. Im Walde war es still; wildes Getier, das nächtlicherweile in ihm aufgewacht wäre und sich bemerkbar gemacht hätte, gabs nicht mehr drin; die Fledermäuse, die ihre Kreise um uns zogen, zählten nicht; ihre weichen Fittiche störten den Frieden der Natur nicht. Nur vom Bahnhof her dann und wann das Pfeifen und Zischen einer Lokomotive, und aus den drei Bier- und Konzertgärten der letzte Wiener Walzer, der Einzugsmarsch aus dem Tannhäuser und der Hohenfriedberger harmonisch ineinanderdudelnd und den Abendfrieden hier oben wenig störend.
»So! Da sitzt ihr wieder!«
»Jawohl; und Gott sei Dank, frommer Sohn Karl, daß auch du noch da bist, Tugendbold! Keine fünf Minuten hätte ich es mit dem Mädchen da länger allein hier ausgehalten. So ne ganz verrückte Prise! Ist der das Gezeter, Gezerr, Geplärr und Geplapper da unten zu Hause auf die Nerven gefallen! Jawohl, dich brauchen wir grade recht notwendig, Krumhardt. Da ich mit meiner Mutter nicht gegen sie ankomme, so rücke du ihr noch einmal mit deinem Herrn Vater auf den Leib und kratze deinen eigenen Verstandskasten aus, um ihr Vernunft zu sprechen. Da haben unsere Mütter - ich meine meine und ihre - eine saubere Pflanze großgezogen. Höre sie nur, höre sie nur, Krumhardt! Ja, leg nur los, Elly - Miß Ellen Trotzendorff: die Nachbarschaft im Vogelsang ist ganz Ohr!«
»Wäre deine Mutter nicht, Velten, so könnte ich dich - könnte ich dich -«
»Erdrosseln, erwürgen, vergiften, mir jedenfalls mit beiden Krallen in die Haare fallen und beide Fäuste voll Skalp bergunter nach Hause rennen. Da, greif zu und zieh mir die Kopfhaut ab, Mamsell Squaw, und das übrige Fell meinetwegen mit. Mir liegt nichts dran.«
Es war die höchste Zeit, daß ich mich zwischen sie setzte, denn Helenchen war vollkommen bereit, von der Erlaubnis, die ihr da eben gegeben wurde, Gebrauch zu machen. Ihr bester Kamerad im Vogelsang hatte ihr wirklich seinen Strubbelkopf zu beliebigem Verfahren hingehalten; nun aber sprang sie doch nur auf von der Bank und stand vor uns am Rande des Osterberges und streckte uns die Faust zu und schnuckte und schluchzte zwischen den zusammengeklemmten Zähnen durch:
»Und ich glaube doch an meinen Vater! Ihr mögt alle sagen, was ihr wollt. Ihr könnt die Nasen verziehen und rümpfen, ihr könnt den Kopf schütteln, und ihr könnt meiner Mama Sottisen sagen, wie ihr wollt: ich glaube ihr doch, meiner Mama! Ich glaube doch an meinen armen Vater, er mag sein, wie er will! Und was könnt ihr hier im Vogelsang von ihm wissen? Ich, die ich als bloßes Wickelkind hierhergebracht worden bin, weiß doch noch mehr von der wirklichen Welt als ihr alle - deine Mutter ausgenommen, Velten. Aber die ist auch eine Märchenkönigin - eine viel höhere als die da unten, die kleine Durchlaucht da in ihrem lächerlichen Residenzschloß da unten! Das sind ihre Fenster - seht ihr, und so sollen meine Spiegelscheiben auch noch einmal leuchten, und noch viel heller! Deine Mutter braucht keine Kronleuchter über sich und keine türkischen Teppiche, und wäre sie meine Mutter und ich ihr Kind, so wollte ich auch nichts davon. Aber jetzt bin ich meines Vaters und meiner Mutter Kind und eine freie Republikanerin und Amerikanerin, und ich glaube an meinen Vater und werde auch meine Salons haben und Bediente, schwarze und weiße, Kammerfrauen und hohe Fenster, Kronleuchter und Teppiche und Reitpferde und Wagen und meine Loge im Theater und alles andere! Ja, und nun geh nur hin, Velten, und sage es deiner Mutter, was ich gesagt habe, und daß alle ihre Güte und Lehre an mich weggeworfen gewesen ist; aber sage ihr auch, daß ich so schreien muß, ich weiß nicht was, nur weil ihr alle, alle mich dazu getrieben habt, jeder auf seine Art. Ach Gott, was bin ich für ein armes Mädchen und so unglücklich in der Welt!« ...
Vor einem Jahre noch würde Velten Andres, kreischend vor Vergnügen ob dieses »himmlischen Witzes«, dieser »ausgezeichneten Komödie«, sich auf den Kopf vor der Bank auf dem Osterberge gestellt haben. Jetzt war dem schon nicht mehr so. Er lachte nicht mehr, sprang nicht mehr auf, sondern blieb ruhig auf seinem Platz auf unserer Bank, aber faßte mich mit noch fast schärferm Griff als mein Vater am Arm und sagte, auch zwischen den zusammengebissenen Zähnen durch:
»Nun höre sie, Besterzogener, Treuestbehüteter, Verständigster und Vernünftigster unserer ganzen Blase - ich meine nicht die herzogliche Residenzstadt - da unten: was kann der Vogelsang, meine Mutter und dein Vater, was - kann ich noch dazu tun, um in diesem Mücken-, dem Nachtschmetterlingshirnkasten Ordnung zu stiften? Also - vivat natürlich der Papa Trotzendorff mit allen seinen schönen Aussichten für sich, für Lenchen und unsere Allerschlaueste und Beste, Lenchens Mama! Aber ungefangene Fische kann man nicht braten, sagte schon der weise Kikero im vollen Senat zu meinem lieben Freunde Katilina; also - verrücktes Herze, an deiner Stelle setzte ich mich doch fürs erste mal wieder ruhig da auf die Bank neben den braven Karl. Was? Du willst nicht? Habe ich mich etwa heute noch nicht genug geärgert? Guck einer, wie der Mieze die Augen im Dunkeln leuchten! Was? Nun wohl am liebsten in den hiesigen Urwald hinein oder kopfüber kopfunter bergab nach Hartlebens Anwesen und nach Hause? Na, denn meinetwegen noch mal die Hände aus den Hosentaschen! Da kann ich meine Pauke an dich und die Welt auch stehend halten. Na, Wurm?«
Nun war er doch, nicht aufgesprungen, sondern langsam aufgestanden, und sie duckte sich wirklich vor ihm, ohne daß er sie an den Schultern niederzudrücken brauchte und setzte sich mit dem Worte »Hansnarr!« auf der Bank an meiner Seite wieder fest hin. Er aber stand und redete seinerseits seinen Unsinn in den Sommerabend hinein, wie mein Vater sich ganz gewiß ausgedrückt haben würde.
»Recht hat sie eigentlich, Krumhardt. Ein fideler Nachmittag wars, und zwar sehr auf ihre Kosten. Aber habe ich nicht mit ihr auf demselben Rost gelegen, während die liebe Verwandtschaft und gute Nachbarschaft die Kohlen unter uns schürte? Um den zehnten August herum sind wir auch. Da ist wieder eine! Ihr habt doch für nichts Augen! Die Tränen des heiligen Laurentius, Krumhardt; wie du aus der Schule besser wissen solltest als ich! Selbst der Himmel schnuppt sich uns zuliebe. Noch eine! Wer soll denn da keine Wünsche haben, wenn ihm das ganze Firmament Gewährung winkt? Bloß aufpassen, Miez, daß der Wunsch mit dem Fallen der Sternschnuppe stimmt: nachher ist alles in Richtigkeit, als ob die Weltregierung, der Vogelsang mit, Hand und Siegel dazu gegeben und dein Vater, Krumhardt, die Registratur in der himmlischen Kanzlei besorgt hätte.«
»Laß endlich mal meinen Vater aus dem Spiel, Andres!«
»Warum denn? Sage ich denn etwa gegen den was? Gar nichts! Ist er nicht etwa auch heute nachmittag wieder der einzige gewesen, der ganz und gar recht hatte und wußte, was er wollte? Da nehme ich selbst meine Mutter nicht aus, denn ein Frauenzimmer bleibt doch auch die. Ja, Elly, das ist eben unser Jammer, daß wir zwei doch nur von unseren Müttern erzogen worden sind. Wie die Flügelengel haben sie uns unter beiden Armen und wollen uns mit in die Höhe nehmen, jede auf ihre Weise; und wenn dein Vater, Krumhardt, es auf seine Weise mit dir ebenso machen will und auch uns aus guter Nachbarschaft gern an den Beinen auf dem richtigen Erdboden festhalten möchte: wer hat was dagegen einzuwenden? Ich wahrhaftig nicht - noch dazu so nahe vor dem Abiturientenexamen ... da schnuppt sich wieder einer! Na, was hast du dir eben gedacht und gewünscht, Karlchen?«
Ich konnte es nicht leugnen, mit dem Wort waren in demselben Moment alle meine Gedanken und Wünsche bei diesem Examen gewesen -
»Du kommst durch!« lachte Velten. »Mit Eins A natürlich! Selbstverständlich erlebt nicht bloß dein Vater, sondern auch deine Mutter diese Ehre an dir. Aber nun du, Mädchen, woran hast du gedacht und was hast du dir gewünscht, als dieser Stern fiel?«
»Ich habe ihn gar nicht gesehen. Aber das ist auch einerlei. Für mich mögen so viele fallen, als sie wollen, ich wünsche wie immer nur eines: daß es für mich wieder so wird, wie ich es drüben gehabt habe in Amerika als kleines Kind, ehe ich hier im Vogelsang ins Elend gebracht wurde, ehe meine Mama mit mir auf dem Arme zu euch hier im Vogelsang ins Elend kam.«
»Du kriegst deinen Wunsch - da fiel eine!« jauchzte Velten. »Na, was sagst du nun, Krumhardt? ... Also nur weiter, du verunglückter Paradiesvogel, verflogener Tropenengel«, brummte er dann. »So? Das ist also das Resultat aus deinen Studien im Hey und Speckter und bei Mutter Andres und ihrem Sohn Velten:
Dick fällt der Schnee, der Wind geht kalt,
Habe kein Futter, erfriere bald.
Lieben Leute, o laßt mich ein.
Will auch immer recht artig sein!
Was? Schwarz sollten wir uns hier auch wohl noch färben, der brave Karl Krumhardt und der böse Velten Andres, um dir deine verflossenen Livreenigger ganz zu ersetzen? Und dabei soll dein Vater nicht wütend werden, Krumhardt, und meine Mutter noch immer ein und aus wissen in diesem ihrem sogenannten
Kindergemüte? Na, da möchte ich wahrhaftig, der Papa Trotzendorff hätte denn bald wirklich mal wieder das Glück, was er verdient, und käme erster Kajüte und holte dich vierspännig, mit allem, was an dir hängt, wieder weg. Mir - wollte ich sagen Hartleben kann es ja einerlei sein. Meine Mutter - da schnuppt sich wieder einer!«
Von neuem ist Helene Trotzendorff aufgesprungen; jetzt aber bitterlich und zornig weinend. Sie schreit ihren besten Freund aus der Nachbarschaft fast an, mit dem
Fuße aufstampfend:
»Ich sage dir wie Karl: laß unsere Väter zufrieden! Was ich an deiner Mutter gehabt habe in eurem Vogelsang und wie lieb und gut sie ist, das weiß ich wohl und brauchst du mir wirklich nicht vorzurechnen. Und mit deinen albernen Sternschnuppen - ja was hast du dir denn bei der letzten gedacht? Bist du besser und vernünftiger mit deinen Wünschen gewesen als ich? Dich kenne ich doch, du Phantast! Jawohl, da hat der Herr Oberregierungssekretär ganz recht, wenn er dich
so nennt - wenn er dich einen Phantasten und Seiltänzer nennt und dir prophezeit, daß du noch mal den Hals brechen wirst, einerlei, ob du jetzt dein Schulexamen bestehst oder nicht, einerlei, ob du Schuster, Schneider, Ministerexzellenz oder Alexander der Große werden willst. Von dir lasse ich mir eure Wohltaten im Vogelsang am allerwenigsten vorrücken. Da, da fiel wieder eine, und jetzt habe ich mir gedacht: Oh, wenn du dem einmal zu Hause, das heißt drüben über dem Meer, bei uns zu Hause alles
vergelten könntest, was er und der Vogelsang und seine liebe Mutter und alle hier an uns getan haben.«
»Du, die fiel, ehe du den Wunsch hattest!« sagte Velten.
»So? Dann wünsche du dir meinetwegen bei der nächsten Schnuppe, was du willst; ich habe für heute mal wieder genug von euren hiesigen Dummheiten und gehe nach Hause.«
»Dem seligen Diogenes seine Tonne wünsche ich mir«, lachte Velten Andres. »Den Heckepfennig, den Däumling und das Tellertuch der
Rolandsknappen, den Knüppel-aus-dem-Sack, das Vergnügen, Persepolis in Brand zu stecken, und ein friedliches Ende auf Salas y Gomez. Fallet, ihr Sterne, und winket Gewährung! Übrigens habe auch ich für heute abend genug des Blödsinns. Also:
Mein schönes Fräulein, darf ich wagen,
Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?«
Sie machte eine Faust und holte wie zum Schlage aus, drückte ihm aber doch nur diese geballte kleine Hand auf die Stirn:
»Du bist und
bleibst ein ganz alberner Peter, Velten. Komm, Karl; meinetwegen mag er sich in seine Tonne stecken und sich den Osterberg allein herunterrollen - meinetwegen über eure ganze Stadt und den Vogelsang weg.«
»Da fiel eine!« lachte Velten Andres. »Der Wunsch gilt!«
Sie schlug die Hand weg, die er ihr doch bot; er aber zog ihren Arm doch unter den seinigen:
»Nun aber im Ernst, mach ein Ende mit dem Unsinn. Heute ist der Wagen mit den silbernen Laternen für das gnädige
Fräulein gottlob noch nicht vorgefahren; und das Gequiek und Gezeter von neulich unter der Armenmannsbuche, wo jemand erst mit der lächerlichen Schleppe am Busch hängen blieb, um sodann über dem Wurzelwerk sich auf die Nase zu legen und nach seinem besten Velten um Hülfe zu schreien, will ich nicht wieder haben. O Tränen des heiligen Laurentius, sie werden uns da unten vor Schlafengehen noch einmal schön die Leviten lesen! Da freue ich mich schon auf meine Mutter.«
»Deine Mutter ist
viel zu gut für dich!« rief Miß Ellen, noch einmal mit dem Ärmel über die Augen fahrend, der letzten Zornestränen wegen.
»Jawohl, da hast du zum erstenmal heute abend recht«, sagte Velten. »Von der Scheußlichkeit der Menschheit hat sie nur sehr dunkele Begriffe, und ich tue deshalb auch mein möglichstes, ihr nach und nach klarere beizubringen.«
So wußte er damals schon zu denken und zu reden; ein Herr in einem Reich, das leider auch nicht sehr von dieser Welt war. Ich habe es in den Akten, wenn auch nicht aktenmäßig. Ich hole dies alles aus Ungeschriebenem, Unprotokolliertem, Ungestempeltem und Ungesiegeltem heraus und stehe für es ein. Ich muß es aber heute sehr aus der Tiefe holen, daß damals auf dem Osterberge, um den zehnten August jenes Jahres herum, wir Nachbarkinder des Vogelsangs die Tränen des heiligen Laurentius so fallen sahen und ihr leuchtendes Niedergleiten mit so wunderlichen Gedankenspielen begleiteten.
Aktenmäßig kann ich es leider bezeugen, daß er, Velten Andres, wirklich beim Maturitätsexamen durchfiel und dem Vogelsang wieder mal eine der Enttäuschungen und Genugtuungen bereitete, die er dem guten Ort, solange er sich dort aufhielt, immer von neuem schuldig zu sein glaubte.
»Man kann seiner armen Mutter nicht einmal raten, ihn gleich ganz hier zu behalten und einen Schuster aus ihm zu machen«, sagte mein Vater, mein »Zeugnis der Reife« in der Hand. »Unter den Komödianten wäre er vielleicht noch am besten aufgehoben, der Windsack! Da hast du es, mein Sohn, wie es kommen mußte. Nun geh hin und höre dir an, wie nebenan die Klagelieder Jeremiä lauten. O ich hätte dort Vormund und nicht bloß Familienfreund sein müssen!«
»Dann hättest du doch wohl nur noch mehr Ärger davon gehabt, bester Krumhardt«, sagte meine Mutter, mit vollberechtigter Genugtuung über unsern eigenen Familienerfolg mich in den Armen haltend. Für mich selber lag an diesem Tage die Sache so, daß ich mich des glücklichen Anlangens an diesem Ziel natürlich sehr freute, jedoch des Behagens darob durchaus nicht vollkommen froh war. Dazu war Velten doch ein zu guter Freund von mir und wußte ich zu genau, wie vieles er besser wußte als ich und wie es im Grunde doch nur die Mathematik gewesen war, die ihm das Bein gestellt hatte. Konnte er, Velten, dafür, daß er nach seinem Ausdruck da ein leeres Loch im Gehirn hatte, wo das meinige nach innen vollgestopft war und nach außen hin den betreffenden Buckel getrieben hatte? Es ist zwar eine Torheit, aber wie oft griff ich später meinen Jungen nach den Köpfen und tastete sorgenvoll nach den Höckern und Gruben, die ihnen die Begabung zum ruhigen Wandel auf der breiten Straße der goldenen Mittelmäßigkeit verbürgen sollten! Und am bedenklichsten dann, wenn meine Gattin einen außergewöhnlich offenen Kopf an einem der armen Kerle bemerkt haben wollte. -
Ich ging also vor dem Freunde aus dem Vogelsang weg, um nach dem Wunsche oder Willen meines Vaters selbstverständlich Jurisprudenz zu studieren, und - da die Wacht am Rhein und die an der Memel ebenfalls ihren Anspruch an mich erhoben - nach einer mitteldeutschen Universität, die mir Gelegenheit bot, mit möglichst geringen Kosten mich mit dem römischen Recht und dem damals gültigen deutschen Schießgewehr bekannt zu machen, wenigstens in den Grundzügen.
Aus dieser Zeit habe ich folgenden Brief in den Akten:
»Lieber Freund!
Denn dafür halte ich Dich noch trotz Schiller und aller Würde, die jegliche schöne Vertraulichkeit zwischen Dir und mir zu einem Dinge der Unmöglichkeit machen sollte. Du kannst es mir ja übrigens sagen oder schreiben, wenn es Dir gar nicht mehr paßt, das bisherige angenehme Verhältnis zwischen uns.
Einfach großartig war es von Dir! Mathematik sehr gut - Latein gut - Griechisch fast gut - Geschichte und so weiter gut - deutsche Sprache und Literatur genügend: Mensch, Göttergünstling, da Du ihn doch fürs erste weniger brauchst, so pumpe mir ihn, Deinen wohlorganisierten Hirnkasten, für nächste Ostern bloß auf acht Tage. Auf Ehre, Du kriegst ihn bestens geschont umgehend zurück; aber die Idee, ihn aufzustülpen und vor dem Rate der Zehn mit ihm aufs Seil gehen zu können, steigt mir derartig in den meinigen, daß meine Alte eben schon gefragt hat: ›Junge, was hast du jetzt wieder im Kopfe?‹ Die Benachrichtigung aber: ›Ich schreibe an Karlchen Krumhardt, daß ich mir ein Muster an ihm nehme‹, hat sie sofort gottlob beruhigt ob meines Stierens ins Blaue, und ich soll Dich von ihr grüßen. - Mir selber liegt ja leider weniger dran, mich nicht noch mal zu blamieren; aber der alten Frau möchte ich doch den Verdruß und Deinem würdigen Erzeuger sein melancholisches Behagen an meiner Schande nicht zum zweitenmal zum vollen Auskosten anbieten. Ich büffle. Und Du Ochse treibst Dich fessellos in der süßen Freiheit herum; und teure Angehörige, sowie Staat und Kirche halten Dir schon die volle Krippe und den warmen Stall bereit, wenn Du heimkehrst von der blumigen Wiese Deiner jungen Ungebundenheit. Mir blühte bis jetzt hier im Vogelsang bloß die Eselswiese, und wäre ich nicht ich und meine Alte sie, so wäre die Geschichte einfach nicht zum Aushalten gewesen, der faulen Redensarten wegen ob meiner bodenlosen Faulheit. Na ja! Hätte mich nicht auch unser allerhöchst Regierender, das heißt eigentlich mehr unsere allergnädigste Landesmutter kommen lassen, um mich persönlich kennenzulernen und mir ins Gewissen zu reden, so hätte allgemach meine Mutter jedem, der sich sonst nach mir erkundigte, nur sagen können: ›Unterm Sofa steckt er. Locken Sie ihn mal! Ich kriege ihn weder durch Güte noch durch Gewalt mehr drunter weg.‹ - Cäsar und sein Glück! Die Geschichte ist so ulkig, daß sie sogar meiner Alten die Kummertränen getrocknet hat. Dir, mein Junge, schreibe ich sie nur, um sie, wenn sie sonst brieflich an Dich gelangen sollte, auf das richtige Maß herunterzudrücken. Eigentlich war es Unsinn; aber da kein anderer augenblicklich vorhanden war, so mußte ich wohl dran: ich habe Schlappen für die menschliche Gesellschaft gerettet! ... Du kennst die öde Jammerseele in Baumwolle, Watte und mit Glacé. Mußte es dem Optimatensimpel - äh, hä, jä, nä - einfallen, auf die brüchige Stelle im Eise zu geraten und durchzubrechen! Good gracious! würde Mistreß Trotzendorff gekreischt haben; aber Elly, die das hochnäsige Vieh beinahe mit heruntergerissen hätte ins Verderben, setzte sich gottlob nur zeternd neben das Loch, in welchem der Tropf verschwunden war; das übrige kannst Du Dir denken. Ein Riesenulk, aber etwas kühler Natur! Und mit dem Kopfe, wie eine Fliege an der Fensterscheibe, in der feuchten Tiefe herumzusurren und vergeblich nach dem Auswege zu suchen, auch grade kein Vergnügen; noch dazu mit der Verpflichtung, einen andern Blechschädel am Schopfe zu halten und mit nach oben zu nehmen. Na, er - atmete lang und atmete tief und begrüßte das himmlische Licht - Schiller ist nicht unten gewesen, sonst würde sein Tauchergedicht um ein merkliches kürzer sein und sich wahrscheinlich auf ein ›Brr! Pfui Deubel!‹ beschränken, höchstens mit dem Zusatz: ›Lieber nicht zum zweitenmal!‹ - Daß wir - Schlappe und ich, nicht länger unten blieben, als nötig war, kann uns kein Mensch verdenken. Kurz also, ich brachte die Honoratiorenpuppe glücklich wieder zutage, fand das halbe Residenznest in vorsichtiger Entfernung um die Bruchstelle versammelt: von dem Rest schweigt des Sängers Bescheidenheit. So dumme, verbrüllte Frauenzimmergesichter, wie die des Vogelsangs, möchte ich aber doch nicht gern wieder um mich sehen - um den gloriosesten Schnupfen in der Welt nicht! Sie sämtlich mit strömenden Augen, ich mit fließender Nase und etwas verkrackeltem linken Handgelenk.
Volle vierzehn Tage hat es gedauert, bis die Arche wieder auf dem Trocknen saß. Meine Alte war selbstverständlich die erste, die den Fuß wieder auf festen Boden setzte und meinte: ›Junge, wenn es nun nicht so gut für uns abgelaufen wäre?‹
›Cäsar und sein Glück, und Unkraut vergeht nicht, Mama!‹
Unser Backfisch betrug sich wie gewöhnlich wie verrückt bei der Geschichte, war zum Anbeißen und verdiente selbstverständlich mal wieder Prügel; er war zu nett in seinem Kummer. Aber was hatte das Balg mir einen Korb zu geben und mit dem Maulaffen Schlappe auf das Windeis zu laufen? Ich wollte gar nichts sagen, Karlos, wenn Du es gewesen wärest, den sie gegen mich ausspielte.
Si vales, bene est, ego valeo, bis auf die dumme linke Vorderpfote, die ich fürs erste noch in Windeln und Schindeln zu tragen habe.
V. Andres.«
»Schlappe« hieß
der gerettete Zeit- und Schulgenosse eigentlich nicht; das war nur sein Schulname. Sein wirklicher Name liegt sehr bei meinen Akten; übrigens gehörte sein Träger zur maßgebendsten Gesellschaftsschicht unserer Landeshauptstadt, und - ich habe seine Schwester geheiratet und eine gute Frau an ihr bekommen. -
Ach, was helfen die besten Karten dem in der Hand, der keinen Gebrauch von ihnen machen - kann?
Was half es Velten Andres, daß Schlappes Papa seiner Mutter und ihm mehr
als einen Besuch machte und ihn aufrichtigst seiner hohen Protektion versicherte? Was half es ihm, daß Serenissimus und Serenissima ihn sich vorstellen ließen und ihm gleichfalls ihre freundlichste Gunst versprachen?
Nichts; da er blieb, was und wie er war!
Ob ihm das Leben zu einem hölzernen Löffel einen goldenen Napf unter die Nase schob, ob es ihm einen goldenen Löffel in die Hand gab und einen irdenen Napf auf den Tisch schob (was ihm auch passiert ist), es blieb ein
und dasselbe, da er auch ein und derselbe blieb, nämlich derselbe ewig unberechenbare odd fellow des Vogelsangs - who had no harm in him and who had parts if he would use them, wie man in Cambridge von einem ähnlichen Menschen sagte, der es nach der Meinung der Vernünftigen in der Welt gleichfalls zu wenig mehr als zu einem schlimmen Ende brachte. Da er nur sich selber schadete, ging es ja aber auch eigentlich keinen was an, in welcher Weise er sich seiner Fähigkeiten bediente. -
»Es
ist und bleibt eben der dumme Tropf aus Eurem Märchenbuche, der Hans im Glück. Vom Pferd auf den Elefanten, vom Elefanten auf den Esel und so abwechselnd, bis er endlich einmal auf platter Erde auf dem Rücken liegenbleiben wird«, schrieb mir mein Vater um diese Zeit. »Die Avancen, die ihm sein Zufallrettungswerk in der hiesigen besten Gesellschaft in die Hand gab, hat er richtig wieder verspielt. Wie auf unserm Büro erzählt wurde, haben Durchlaucht zu dem Herrn Vater Eures unter das Eis
geratenen Schulfreundes längst bemerken müssen: ›Schade um den jungen Mann; ich würde ihn gern im Auge behalten haben.‹ - Mein einziger Trost ist, daß Du, mein Sohn, wenigstens fürs erste seinem verderblichen Einfluß aus dem Wege gerückt bist. Ob er demnächst sein Examen bestehen wird, weiß der liebe Himmel. Wenn nicht, was dann mit ihm? frage ich Dich!« ...
Ich habe mich nun wirklich erst für eine Periode von anderthalb Jahren des näheren zu besinnen. Man hatte damals so viel mit sich selber zu tun, und die Tage gingen so leicht hin, daß es in der Tat seine Schwierigkeiten haben würde, ganz Genaues darüber zu Papiere zu bringen. Wir sind noch in den Ferien zu Hause beisammen: ich als Student und er noch als Schüler, und es ist für mich ein gewissermaßen peinliches Verhältnis. Für ihn nicht.
Auch Helene Trotzendorff ist noch im Vogelsang. Aber sie steigt nicht mehr über die grüne Hecke oder den Gartenzaun, kriecht auch nicht mehr unter der ersteren durch, sondern lehnt nur an ihnen: das schönste Mädchen, nicht bloß der Vorstadt, sondern der ganzen Stadt - hochgewachsen, goldblonden Haars, doch dunkel von Augen und Augenbrauen. Die Nachbarn sagen, sie sei vorzeitig in die Höhe geschloddert, aber das ist eine dumme und mehrfach auch vom Neid der Konkurrentinnen eingegebene Redensart. Im Waldgebirge Leukos, im arkadischen Gebiete des Pan und auf dem thrakischen Hämus würde man anders von ihr gesprochen und sie jedenfalls unter die zwanzig amnisiadischen Nymphen gezählt haben, die sich Artemis, wie Kallimachus singt, von ihrem Vater Zeus als Begleiterinnen ausgebeten hatte.
Mein Freund Velten ging freilich noch weiter und setzte mich durch philologisch-mythologische Kenntnisse über Verhältnisse in Erstaunen, von denen ich keine Ahnung aus der Schule mitgebracht hatte.
»Dieses Frauenzimmer«, sagte er. »Guck sie dir nur an, Mensch! Trägt sie nicht den von den Kyklopen geschmiedeten kydonischen Bogen der Diana selber? Und umklammert das prachtvolle Wurm nicht Tag und Nacht in ihrer Einbildung die Knie ihres Erzeugers mit der Bitte, ihr dreißig Städte und sämtliche Gebirge der Erde zu schenken? Kallimachus in seinem Hymnus hats. Lies es selber nach, wenn es dir Spaß macht; mir macht es schon längst kein Vergnügen mehr, sie von ihren Phantasien abzubringen, und ich habe es auch aufgegeben.«
»Du scheinst dich aber jetzt sehr mit solchen Sachen abzugeben. Woher hast du denn dieses alles?«
»Sehr aus mir selber«, sagte Velten Andres, den sie erst ein Jahr nach mir für die Universitas literarum reif erklärten. -
Es schien damals, drüben in Amerika, einen kleinen Niedergang in den Angelegenheiten Mr. Charles Trotzendorffs gegeben zu haben. Mutter und Tochter wohnten noch bei Hartleben und warteten nicht im Optimatenviertel der Stadt auf den völligen Aufgang der Glückssonne von »Papa«. Mutter Andres hatte noch mehrfach zwischen den Bäcker, den Fleischer sowie die Milchfrau und den Kaufmann Tienemann und - Mistreß Agathe Trotzendorff treten müssen. Aber das ist so: ein heißer, glänzender Tag bricht öfter, als die Leute an Regentagen glauben wollen, aus wechselndem Gewölk hervor. Und manchmal bleibt es denn auch für die, welche »diese Witterung brauchen« können, »schön« bis zum Abend. -
Wie gesagt, ich habe wenig über diese Zeit in den Akten, was Velten und Helene anbetrifft. Mein kluger und wackerer Vater trug den Verhältnissen in einer Weise Rechnung, die ihm Velten Andres am allerwenigsten zugetraut haben würde. Wenn er mich im Vogelsang fest im Griff gehalten hatte, so ließ er mir jetzt merkwürdig freie Bahn.
Ich darf wahrlich nicht darüber lächeln; aber es ist so! Sein Ideal war, das, was er zu protokollieren und in die Registratur zu nehmen hatte, durch mich zu Protokoll und in die Registratur geben zu sehen: »Es ist mein Wunsch, daß du dich zu der besten Gesellschaft hältst. Wir, deine Mutter und ich, haben unser Leben darauf eingerichtet von deiner Geburt an. Laß mich an dir erleben, was ich selber nicht habe abreichen können.«
Selbstverständlich war ich daraufhin einer vornehmen Verbindung beigetreten, der schon die höchsten Spitzen der maßgebenden Kreise unserer heimatlichen Residenz angehört hatten als jugendfrohe Jünglinge; und ich kann es nicht leugnen: einige Male kam mir in dieser Lebensepoche ob meiner damaligen Verpflichtungen und Ehren der Vogelsang dann und wann so sehr aus dem Gesicht, daß Velten Andres vollkommen recht hatte, wenn er mich an den Beinen aus den Lüften wieder herunterzog durch das Wort:
»Bengel, von hier unten aus gesehen - aus der Froschperspektive betrachtet, bist du wirklich großartig, perpendikularmalerisch! Schade, daß du dich nicht selber so sehen kannst! Wie siehst du den fliegenden Göttergünstling, Mama?«
»Werde nicht unanständig, Junge«, sagte die Frau Doktorin. »Fliege du nur selber erst mal so.«
»Könnte mir nur im Traume einfallen!«
»Was haben wir vom wachen Leben mehr als unsere Träume?« fragte unsere Frau Nachbarin, und damit war ich denn damals schon wieder unten im wirklichen und wahrhaftigen Vogelsang - in der besten Nachbarschaft, die auf dieser verworrenen, feindseligen Erde möglich ist. -
Noch einmal ging ich aus den Ferien nach Göttingen, ehe wir beiden Nachbarsöhne wieder zusammentrafen, und zwar in Berlin. Am Tage meiner Abreise aber kam drüben bei Hartleben ein Brief an, der alles »zu Hause« veränderte: die neunte Woge, die Woge des Glückes, des Erfolgs rollte heran, goldglänzend, leuchtend, funkelnd von aller Herrlichkeit und Pracht der Welt, spülte hinein in den Vogelsang und trug zurückrauschend Helene Trotzendorff und ihre Mutter weg daraus. Mr. Charles Trotzendorff schrieb einen kurzen Brief, in welchem er dürr, nüchtern und wie als ob es sich so von selber verstehe, mitteilte, daß er demnächst als zehnfacher Dollarmillionär sich die Ehre geben werde, alte Freunde zu begrüßen und zugleich Weib und Kind zu sich zu holen.
Wie mir mein von Vorgesetzten und Untergebenen anerkannter guter Geschäftsstil abhanden kommt, je länger ich diese Blätter beschreibe, je klarer und deutlicher ich mir das zu Sinnen und Gedanken bringe, was ich hier dem Papier übergebe! Was bis jetzt das Nüchternste war, wird jetzt zum Gespenstischsten. Sie wackeln, die Aktenhaufen, sie werden unruhig und unruhiger um mich her in ihren Fächern an den Wänden und machen mehr und mehr Miene, auf mich einzustürzen. Ich kann nichts dagegen: zum erstenmal will an diesem Schreibtisch, jawohl an diesem Schreibtisch, die Feder in meiner Hand nicht so wie ich; und Velten Andres ist wieder schuld daran. Was meinem armen Vater seinerzeit so oft Verdruß und Sorgen machte, das Übergewicht dieses »Menschen« über mich, das ist heute noch ebenso sehr da wie in jenen Tagen, wo er mich durch die Hecke und über die Zäune des Vogelsangs zu jedem Flug ins Blaue aus dem Schul-, Haus- und Familienwerkeltag wegholte und wir Helene Trotzendorff mit uns nahmen, wenn sie uns nicht gar voranflog. -
In Berlin verfiel ich ihm sofort wieder.
Wie der Tag vor mir steht, an welchem ich diesem »krassen Fuchs« in der vollen Hahnenhaftigkeit meines vornehmen Verbindungsbewußtseins meinen ersten Besuch machte, nachdem ich mir herablassenderweise seine Adresse auf der Universitätsquästur hatte geben lassen!
»Studiosus Philosophiae Valentin Andres, Dorotheenstraße Numero 00, Hintergebäude, 3 Treppen, Frau Fechtmeisterin Feucht«, lautete sie, und es war ein Apriltag nach den Osterferien, als ich mit meiner Berliner Matrikel in der Tasche meinen Weg dorthin nahm. Wenn das Hinterhaus hielt, was das Vorderhaus versprach, so hatte der Neuling im Weltleben es gut getroffen; gewöhnlich ist das aber freilich nicht der Fall. Nicht ohne Grund bin ich hier etwas ausführlich.
An einem außergewöhnlich eleganten Schneiderladen (Herrenmoden) vorbei schritt man durch den gewölbten Hausflur, vorüber an der mit Teppichen belegten, in den ersten Stock führenden Treppe auf einen umfangreichen Hof, über den etwas nervenschwache Gemüter sich nur mit einiger Bedenklichkeit dem Hintergebäude zu wagen konnten. Der Eigentümer des Hauses, einer der ersten Hufschmiede der Stadt, bediente daselbst seine Kunden, und nicht jeder geht gern zwischen zwei Reihen Gäulen durch, die ihm alle die Hinterteile zuwenden und nicht alle ganz gutwillig ihr Schuhwerk in Behandlung geben. Schmiedegesellen, Reitknechte, Stallknechte, Kutscher in Livree und ohne solche walteten ihres Amtes zwischen ihren Schutzbefohlenen, je nach dem Temperament derselben und dem eigenen mehr oder weniger lärmhaft. Aus der Halle des Seitengebäudes leuchteten die Schmiedefeuer und klangen die Hämmer in das Gewieher, die Flüche, Begütigungen und die sonst übliche Unterhaltung zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Vieh, Tier und Mensch hinein. Man hatte wirklich zu schreien, wenn man sich hier nach der Frau Fechtmeisterin Feucht erkundigte.
Aber da war das Hintergebäude, und wer mit uneingeschlagenem Schädel oder Brustkasten zu ihm gelangte, der fand auch wohl, ohne zu fragen, die Pforte, von der aus die Treppe in den dritten Stock emporging.
Ich hatte damals das Glück, gelangte in das dritte Stockwerk und zog auf dem dämmrigen Vorplatze die Glocke.
»Frau Fechtmeisterin Feucht?«
»Bin ich«, sagte eine kleine, zierliche alte Dame zwischen fünfzig und sechzig Jahren.
»Studiosus Andres?«
»Dort jene Tür, mein Herr.«
Ich grüßte, und die kleine Frau setzte mir einen vollkommenen Hofdamenknicks hin; meinen Freund fand ich in einer der bekannten Berliner Studentenbuden zu Hause und Besuch bei ihm: einen feinen, eleganten, schmächtigen jungen Herrn mit schwarzen Haaren, von etwas kränklicher Gesichtsfarbe und von ungemein höflich-schüchternem Wesen. Gottlob auch bereits mit dem Hut in der Hand.
»Guten Tag, Krumhardt«, sagte Velten, als ob er mich noch über die Hecken des Vogelsangs grüßte. »Bist du da? ... Auf Wiedersehen, des Beaux! Übrigens könnte ich euch Leute doch auch der Bequemlichkeit wegen gleich miteinander bekannt machen. Mein Provinzialfreund, Herr Karl Krumhardt, der Rechtswissenschaft möglichst Beflissener - Herr Leon des Beaux aus dem Vorderhause, seines Zeichens -«
»Oh, ich bitte Sie, Herr Andres! Ich möchte jetzt nicht stören; - wenn Sie mir erlauben -«
»Menschenkind, nehmen Sie sich alle Freiheiten bei mir, die Ihnen angenehm sind. Ich werde mir bei Ihnen zu Hause selbstverständlich das gleiche erlauben.«
»Ich bitte darum!« rief der interessante, bleiche, schwarzhaarige Jüngling und entschlüpfte mit scheuen Verbeugungen, sowohl gegen Velten wie gegen mich.
»Es ist der Sohn des Schneiders aus meinem Vorderhause«, sagte Velten. »Seine Ahnen haben unter Ludwig dem Neunten gegen die Ungläubigen gestritten, haben Toulouse gegen Simon von Montfort verteidigt, im Löwengolf Galeeren gegen die Beis von Tunis, Tripolis und Algier kommandiert und unter Ludwig dem Vierzehnten, dem Edikt von Nantes und der Frau von Maintenon zuliebe, selber auf solchen gemütlichen Fahrzeugen gerudert. Der Zweig des Geschlechts, der sich unterm Großen Kurfürsten hierher nach Berlin ins Trockene gerettet hat, scheint mir jetzt auch sein Schäflein ins Trockene zu bringen. Ich glaube, ich kann dir die Firma des Beaux empfehlen für deinen Bedarf an Hosen, Jacken und Westen. Die Schwester des guten Jungen heißt Leonie, du findest sie im Vorderhause im ersten Stock - Blüthnerscher Flügel, deutsche, französische, englische Literatur und was sonst zu einer höhern Tochter gehört. Ich kann dich vorstellen, aber nehme die Verantwortung nicht auf mich, denn das Fräulein ist auch hübsch - immer noch südfranzösisches Genre. Leonie des Beaux! Wie klingt dir das von einer Schneidertochter hier im Lande der Fritzen und Karlinen? Wie mir scheint, hat die ganze Familie ein gut Stück Romantik aus der Langue dOc in den märkischen Sand durch die Jahrhunderte hineingerettet. Na kurz, die Gesellschaft gehört zu der noch immer so genannten französischen Kolonie, und ich benutze die Gelegenheit, mein Französisch zwischen Leon und Leonie aufzupolieren.«
Ich hatte ihn reden lassen müssen. War das der Mensch, dem ich im Innersten doch mit meiner deutschen Burschenherrlichkeit zu imponieren gewünscht hatte? Es ging ein Zug von so frühreifer Welterfahrung und Weltgewandtheit durch dies alles, daß ich nur verblüfft brummen konnte:
»Na, du scheinst dich ja auch ohne Beihülfe recht gut außerhalb des Vogelsangs und der Schulstube orientiert zu haben!«
Da flog es dunkel über sein eben noch so lachendes Gesicht:
»Doch wohl nicht ganz ohne das, was du Beihülfe nennst. Halb schob es, halb zog es, wenn du die Weiber zu den Menschen rechnest.«
»Du bist seit vierzehn Tagen in Berlin und in der weitern Welt, du krasser Fuchs?«
»Und ich habe daheim Miß Ellen Trotzendorff aus dem Vogelsang in den Eisenbahnwagen erster Klasse geholfen und meiner Alten über den Zaun des Vogelsangs versprochen, es ferner gut zu machen. Lieber Junge, in dieser Beziehung hat deines Vaters Gebrumm ebenfalls gar nichts genutzt: es bleibt eben für mich bei der Weibererziehung. Soll etwa Großvater Goethe den zweiten Teil seines Fausts bloß für sich und eure frechdummen Literaturgeschichtsschreiber zusammengestolpert und -geholpert haben? Nee, nee, mein Junge! Ich habe mich von den Weibern erziehen lassen und lasse mich von den Weibern weiter erziehen. Geh du nur hin; ich bleibe bei den Müttern, bei den Frauen und bei den Mädchen. Übrigens, Mensch, wäre es doch recht freundlich und herablassend von dir, wenn es dein erster Weg gewesen wäre, mich bei der Frau Fechtmeister Feucht aufzusuchen.«
»Gehört die etwa auch schon zu den Schürzen, hinter denen du dich im Dasein außerhalb der philosophischen Fakultät verkriechen willst?«
»Sehr!« lachte Velten Andres.
Wir waren also wieder zusammen. Was ich aus eigener Erfahrung und aus den Briefen meiner Eltern von den letzten Vorgängen im Vogelsang wußte, konnte er mir und sich nun noch einmal, wie unsere damalige Redensart lautete, zu Gemüte führen. Er tat es; und da er von allen Menschen, die ich im Privat- wie im Geschäftsleben kennengelernt habe, der einzige gewesen ist, dem nie etwas darauf ankam, wann, wo, wie und vor wem er sich lächerlich machte, so hätte er wohl einen bessern Schreiber seiner Geschichte, als ich bin, verdient. Wenn ich in dem einen Augenblick den vernünftigen Leuten zu Hause recht geben und sagen mußte: er ist wirklich ein unzurechnungsfähiger Narr und Phantast, so wurde mir doch schon im nächsten Moment so heiß bei seinen Worten, Blicken und Gesten, daß ich ihm um den Hals hätte fallen mögen: »Du bist und bleibst doch der famoseste, beste Kerl in der Welt, Velten! Geben dir die Götter nur ein bißchen Glück auf deinem Wege, so stirbst du nicht auf Salas y Gomez, wohl aber, nachdem du vielleicht leider auch dein Persepolis in Brand gesteckt hast, zu Babylon. Alter Junge, was ist das aber für ein Glück, daß wir uns von Kindesbeinen an kennen: daß viele andere dich ernst nehmen, verlangst du wohl selber nicht!«
Er lag auf dem Sofa, mit den Beinen über der Lehne, er saß auf dem Stuhl, er saß auf dem Tische, er lief auf und ab, während er jetzt mir erzählte von dem Vogelsang und Helenen Trotzendorff. Von Zeit zu Zeit griff er nicht sich, sondern mir in die Haare und schüttelte mir den Kopf mit einem:
»Lache nicht, Mensch! Oder ja, lache nur, denn das tue ich ja selber über mich, wenn ich mich aus der Haut eines von euch Pachydermen bei sogenannter ruhiger Überlegung beurgrunze. Weißt du, und das Frauenzimmer kann wirklich nichts dafür! Es hat das Seinige in wahrhaft großartiger Weise getan, sich mir zu verekeln. Wenn es sich da drüben in Amerika so weiterspielt, wie hier bei uns im Vogelsang, so kann es sich, sich, sich zu was bringen in der Welt - sagt auch meine Mutter, und bei deren lieben, alten Falten um den Mund weiß man denn auch nie, ob sie sich ins Rosige hinaufziehen oder ins graueste Elend herunter. Na kurz und gut, das Mädchen und seine Mutter sind weg, und der Vogelsang hat Gott sei Dank! gesagt. Ich auch. Denn dies hielt kein Mensch mehr aus - selbst meine Mutter nicht. Ein paar Löffel von dem letzten Rest unserer Kindersuppe hast du ja auch noch abgekriegt; aber den Napf gründlich auszuscharren, das hatten die Götter allein mir vorbehalten und mich auch wahrscheinlich schon darum noch ein Jahr länger als dich auf der Schulbank sitzenlassen. Freilich, den Mister Trotzendorff im Vogelsang einrücken sehen, war allein schon das Vergnügen wert. Die Kröte! Ich meine meiner Mutter Helenchen.
Ich habe mich aus ihrem Arm gerissen,
Doch nur mit ihr werd ich beschäftigt sein. -
Den ›Bazar‹, von dem nachher auch bei Schiller die Rede ist, hielten sie ja schon längst bei Hartlebens. Lies den Quatsch Don Manuels selber nach und denke dir mich, das Mädel, meine Alte, ihre alte verbohrte Schachtel von Mama, deine Eltern, den alten Hartleben, kurz, den ganzen Vogelsang in all den Glanz, der da in der Braut von Messina zutage kommt, hinein. Die Sorte Schlappe und Familie, das heißt das übrige Nest in seinen Spitzen der Gesellschaft, laß ja nicht aus der Komödie heraus und male dir die vier Wochen, die ihrer Abfahrt, nicht aus dem Vogelsang, sondern aus dem Hôtel de lEurope vorangingen, selber. Weißt du, was dein Vater sagte, als wir vom Bahnhofe nach Hause zogen, Krumhardt?«
»Nun?« fragte ich, nicht ohne einige Sorge, meinem besten Freund sofort die Nase einschlagen zu müssen.
»Es steckt doch leider viel Gemeinheit in der Menschheit! sagte er und hatte wieder mal, wie meistens, recht.«
»Die alte Nachbarschaft und Freundschaft ist also doch wenigstens bis zu der Abreise zusammengeblieben, Velten?«
»Jawohl. Aber da frage nur den alten Hartleben nach dem Dank, den er für seine langjährige Gastfreundschaft gehabt hat von Papa und Mama Trotzendorff!«
»Und Helene?«
Da faßte der Freund meine Schulter:
»Wäre dieser ganze Quark des Erzählens wert, wenn die nicht auch bei uns zu meiner Mutter Kinde geworden wäre? Wie hätte man vor Lust kreischen können, wenn man nicht selber mit an dem Wurm erzogen hätte! Jetzt offen gesagt, ich ganz besonders sehr, Krumhardt! Karlos, sie gehörte doch zu uns, und so lasse ich sie auch noch nicht fahren. Sie weiß es auch selber, was für ein gut Stück von uns sie mit in die neue Herrlichkeit, drüben jenseits des Ozeans, nimmt. Krumhardt, ich nehme gar nichts dafür, mich auch vor dir bodenlos lächerlich zu machen: es steht geschrieben, daß ich dem Geschöpfchen bis an der Welt Ende nachlaufen soll.«
»Über Berlin?« fragte ich, um doch etwas zu sagen.
»Jawohl über Berlin! Habe ich mein Leben und damit auch alle meine Wege nicht noch vor mir?«
Er hob den linken Arm, dessen gelähmtes Handgelenk ihn nur für den vaterländischen Kriegsdienst untauglich gemacht hatte.
Es leuchtete eine solche siegessichere, lachende, unverschämte Zuversicht aus seinen Augen, klang so sehr aus seiner Stimme, daß er wirklich nicht nötig hatte, mich auch noch derartig mit der gesunden, eisernen Rechten auf die Schulter zu klopfen, daß ich nicht nur körperlich in die Kniee knickte, sondern mir auch seelisch niedergedrückt, zusammengeschnurrt - kurz, klein vorkam. -
Er erzählte nun des genauern, wie sich die letzten Tage des Aufenthalts der Familie Trotzendorff im Vogelsang abgesponnen hatten. Wie der Glanz, den der Vater der Familie mit sich brachte, seine Wirkung nicht bloß auf den Vogelsang, sondern auch auf die ganze Stadt ausübte. Es mochte wiederum nur ein trügerisches »bengalisches« Licht sein; aber das Meteor stand doch lang genug am Himmel über dem Osterberge, um das Volk, das seiner Meinung nach wahrlich nicht in Finsternis saß und sich durchschnittlich für sehr helle hielt, zum staunenden Aufsehen zu bringen. Merkwürdigerweise hatten sämtliche offizielle öffentliche Wohltätigkeitsanstalten der Residenz, vor allem die unter hochfürstlichem Schutz stehenden Stiftungen und Stifter, sodann aber auch die Kleinkinderbewahranstalten, die Krippen und so weiter, ja, auch der Verein zur Besserung entlassener Strafgefangener sich des kurzen Aufenthalts Mr. Charles Trotzendorffs im ersten Gasthof der Stadt (mit Familie) auf eine Weise zu erfreuen, die nur für ausnehmend nüchterne, schlechte Charaktere nichts Erstaunliches an sich hatte. Kein anderer Ortseingeborener hatte in so kurzer Zeit so oft in den öffentlichen Blättern der Stadt gestanden als Mr. Charles Trotzendorff. Seit Menschengedenken hatte kein anderer wie er es so verstanden, sich binnen kürzester Frist so sehr loben zu lassen. Daß es vom fürstlichen Residenzschloß an bis in den Vogelsang hinein zu feine Nasen gab, denen er zu gut roch, ließ sich freilich nicht leugnen und also auch nicht ändern. Seine Durchlaucht verweigerte eine nachgesuchte Audienz. Mein Vater brummte: »Schwindel!« Veltens Mutter seufzte: »Mein armes, liebes Kindchen!«, und der alte Hartleben meinte: »Wissen Sie, Frau Doktern, ich kann lange zurückdenken, aber solch eine Komödie, mit solch einem Hanswurst als Hauptperson drin, hab ich doch noch nicht erlebt hier in der Nachbarschaft! Herrje, was hat das Karlchen, der Kerl, zugelernt, seit er vor Jahren seinen Abschied von hier nehmen mußte!« -
»Weißt du, Karlos«, sagte Velten Andres zu mir, »die Alte ließ sich grade in jenen reizenden Wochen mal wieder das Neue Testament von mir vorlesen, und da kamen wir denn naturgemäß auf die Situation im Evangelium Johannis. Es war auch Nacht, das heißt spät am Abend, und wir saßen bei der Lampe und waren beim dritten Kapitel: Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern, mit Namen Nikodemus, ein Oberster unter den Juden; der kam zu Jesu bei der Nacht und sprach zu ihm - ›Du, da hat ja wer geklopft‹, sagte Mutter, und da war sie, unsere Kleine, und stand scheu in der Stubentür und wagte sich nicht herein - sie wagte sich nicht herein, grade wie der alte spitzbärtige Jüd und Schriftgelehrte. Ob der aber bei seinem Besuch so geschluchzt hat wie das Kind, kann ich nicht wissen, glaube es auch nicht. Sie hatten sie schon im Hôtel de lEurope in Purpur und köstliche Leinwand nach der neuesten Modenzeitung ausstaffiert, aber die Hauptsache war doch das naßgeweinte Taschentuch. Mit dem in den Händen tat sie nun einen Sprung zu meiner Alten Sessel und lag vor ihr auf den Knieen und zog mit beiden Armen und Händen ihren Hals zu sich herunter und winselte: ›Tante Andres, ich kann nicht so von euch - von dir, dir, dir fortgehen! O bitte, bitte, verzeihe mirs, daß ichs nicht ändern kann und daß es mir auch Vergnügen macht! Ich habe mich auch jetzt ja nur weggestohlen, um es dir noch einmal zu sagen, daß ich euch - dich, dich und den Vogelsang so lieb habe und daß es mir so sehr leid tut, daß ich draus fort muß! O könnte ich euch doch mitnehmen! Wir haben ja nun das viele Geld und das Glück, von dem Mama immer geredet und sich damit in unserm Elend getröstet hat; aber mein Vater lacht und sagt: Nonsense, und es ist wieder mal alles, was ich denke und fühle, nichts als Unsinn! Jawohl, Velten, du hast mir dasselbe oft genug gesagt, und ich bin oft genug wütend drüber geworden; aber nun sage es mir dreist noch einmal. Jetzt biete ich dir keine Ohrfeige mehr dafür an. Die ganze Welt kommt mir mit einemmal so dumm und unsinnig vor, daß auf das bißchen, was ich von der Sorte dazu gebe, wirklich nichts ankommt. Tante, Tante, liebste, beste Tante Andres, laß es mich nicht entgelten, daß ich so gern weggehe von hier und mich so sehr auf das neue Leben freue. Wenn du mich nicht liebbehältst, ist ja alles nichts; und dem alten lieben Hartleben sag auch, daß ich nichts dafür kann, daß meine Eltern so grob gegen ihn gewesen sind. Zu dir wage ich mich ja noch bei Abend aus dem Hotel heraus; aber zu Hartleben wage ich mich nicht mehr bei Tage und bei Nacht; o bitte, bitte, sagt es ihm - du auch, Velten! -, daß er immer der beste alte Mensch gewesen ist und ich von uns allen drein - dir, Velten, Karlchen Krumhardt und mir - die einzige gewesen bin, die es ganz genau wußte, daß es unrecht war, wenn wir ihn alle Tage halb zu Tode ärgerten! Ach Gott, was hätte ich noch alles zu sagen! - O küsse mich nur nicht, Tantchen Andres! Oder doch, doch, küsse mich nur - es war ja zu schön, zu gut hier bei euch, und wenn du es nicht weißt, was ich auf dem Herzen habe, so kann ich uns nicht helfen.‹«
»Deine Mutter kann ich mir hierbei vorstellen, Velten«, sagte ich.
»So? Ja, du hast freilich immer mehr gekonnt als ich; aber in dieser Hinsicht meine ich doch, daß du dich irrst. Du meinst, sie brüllte sich das Herz aus dem Leibe? Sie hätte die Kleine in Krämpfen hin- und hergerissen? Nicht die Idee! Famos hielt sie sich, die alte Riesin, für meinen Geschmack in der tragischen Stunde beinahe zu ruhig. Aber am andern Morgen schon wußte ich natürlich, daß sie wieder mal das einzig Richtige getroffen hatte. Das weißt du, wie oft sie auf uns hineingepredigt hat; aber so wie diesmal hat sie noch nie zu einem von uns dreien gesprochen: ›Gehe in Frieden!‹ - Das Kind ist an dem Abend in Frieden aus dem Vogelsang gegangen und hat an der Gartentür leise hingeweint: ›Ja, du hast recht; Vater und Mutter gehen freilich vor, und ich gehe ja auch gern mit ihnen; aber du bleibst dicht hinter mir, Tante Male, und ich will deine Hand immer an meinen Rockfalten haben. Und wenn - wenn mal - so viel - Dummes über mich hier nach dem Vogelsang geschrieben wird, wie über Papa, so glaubst du es nicht eher, bis du Velten geschickt hast, um nachzusehen. Aber ich will auch jede Woche selber schreiben.‹«
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