Frei Lesen: Die Leute aus dem Walde

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Kapitelübersicht

Die hohe Polizei nimmt ein Protokoll auf | Der Polizeischreiber Fiebiger setzt seinen Chef in Erstaunen; Julius ... | Julius Schminken macht sich nützlich; Robert Wolf macht die ... | Treffliche Beschreibung des Hauses in der Musikantengasse und des ... | Große Gesellschaft bei dem Bankier Wienand Mr. Warner aus New-Orleans ... | Expektoration des Autors über die Einsamkeit; Lebensläufe aus ... | Auf dem Observatorium des Sternsehers Heinrich Ulex; Fräulein Juliane ... | Herr Leon von Poppen wundert sich ganz ungemein | Die Sterne Eva Dornbluths; Was sie sagten, wie man ihnen folgte und ... | Die Sterne Friedrich Wolfs aus Poppenhagen; Ein Stein des Anstoßes ... | Das Hinterhaus von Nummer zwölf in der Musikantengasse erfährt eher ... | Julius Schminkert für immer! Schlaue Bemerkungen des Autors uber die ... | Blick über die Dächer Veränderte Aussichten und Ansichten | Von einem grünen Gartenflecke, einer weißen Marmorbildsäule, einem ... | Herr Leon von Pappen zeigt sich als guter Sohn und liebenswürdiger ... | Viel Schutt und Trümmer fallen auf Helene Wienands Gärtchen, sowie in ... | Unter dem Schutt und der Asche – unter den Trümmern! | Schreckliches Unglück des Fräuleins Aurora Pogge Der deklamierende ... | Glänzende Fäden in dunkelm Gewebe | Zeigt an dem Beispiel des Barons Leon von Poppen, wie leicht es ist, ... | Große Krisis in Nummer zwölf –; höchst tragisches Kapitel Der ... | Die Lebendigen wandeln in Unruhe; – der Tod guckt in das Buch | Es kommt Nachricht von den Wanderern Robert Wolf läßt sich naßregnen ... | Reden der Weisen und Guten Herr Leon von Pappen hält sich aber auch ... | Zwischen Himmel und Erde Stimmen aus der Nähe und aus der Ferne ... | Auf der alten Stelle Zum zweitenmal soll der Schüler die Lektion ... | Robert Wolf beweist, daß man auf den alten Fleck zurückkommen kann, ... | Der Baron Leon von Poppen steigt wieder herunter vom Observatorium ... | Zeigt, daß Leute, die aus dem Blick entschwinden, darum doch an der ... | Robert Wolf steht an einem Grabe und tritt an ein Sterbebett Konrad ... | Es wird ein neuer Hügel unter den drei Fichten aufgeworfen Konrad von ... | Ein Ritt vom Stillen Ozean zum Missouri Konrad von Faber hält ... | Robert beschleunigt seine Heimreise; der Autor begleitet ihn und ... | Juliane, Freifräulein von Poppen, setzt wieder einmal ihren Willen ... | Es gewinnt den Anschein, daß die Sterne auch ihren Willen durchsetzen ... | Die Sterne setzen ihren Willen durch, ihrem Willen befiehlt der ... |

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Wilhelm Raabe

Die Leute aus dem Walde

Die Sterne Friedrich Wolfs aus Poppenhagen; Ein Stein des Anstoßes wird aus dem Wege geräumt; Westward ho!

eingestellt: 5.7.2007



Die Lampe flammte noch einmal auf und erlosch. Friedrich Wolf aus Poppenhagen rief:

»Wie du zitterst, Mädchen! Es ist so kalt hier. Komm fort aus dieser Dunkelheit; komm wieder in dein hübsches, heiteres Reich; dort wie hier bleibst du meine süße, meine tapfere Eva. Ich bitte dich, stoße du mich nicht von dir, du bist viel besser als ich. Weh mir, daß ich es wagte, Rechenschaft von dir zu fordern. Willst du mir verzeihen?«

»Was wäre ich ohne dich?« flüsterte Eva, das Gesicht an der Brust des Freundes verbergend. »Nimm mich. Ich bin ganz dein und ohne dich nichts.«

Sie ließ sich von dem Freunde in das warme Gemach zurückführen. Hier hatte die junge Magd aufgeräumt, die Unordnung und der Dunst war verschwunden, eine schöne Lampe mit mattgeschliffener Kristallkuppel brannte auf dem runden Tisch vor dem Diwan. Die Magd machte sich noch zu schaffen im Zimmer und sah verstohlen neugierig auf den Fremden. Eva nahm sie an der Hand und führte sie zu Fritz:

»Sieh, das ist meine gute Marie. Ich habe ihr viel zu danken. Sie ist mir die treueste Freundin gewesen.«

Die Kleine warf ihr keckes Stumpfnäschen in die Höhe:

»Also Sie sind der vortreffliche Herr, welcher uns so viel Sorgen und schlaflose Nächte gemacht hat? Angenehme Bekanntschaft. Sind Sie endlich doch noch gekommen? Wenn ich an der Stelle meines Fräuleins wäre –«

»O, Marie, sprich nicht so«, sagte Eva. »Du freust dich doch mit mir!«

»Das ist es ja eben, was mich ärgert«, rief die Kleine; das mutige Näschen senkte sich, die hübsche Schürze fuhr nach den noch hübschern Augen; dann drehte sich Marie auf den Hacken, fuhr blitzschnell aus der Tür, brach draußen in ein helles Weinen aus und lachte noch heller dazwischen. Sie saß den ganzen Abend im Winkel und erschien erst ganz spät wieder mit überaus buntgefärbtem Gesichtchen; weshalb hielt die Schürze auch nicht Farbe?

»Das Kind war ebenso verlassen wie ich; wir haben uns treu aneinander geschlossen«, sagte Eva. »Doch nun komm, komm. Die Reihe, zu erzählen, ist jetzt an dir, Fritz. Sage nun, wie du das Leben überwunden und dich zu dieser glücklichen Stunde durchgerungen hast!«

Sie zog ihn zu dem Diwan, strich ihm lächelnd die Locken von der Stirn, küßte ihn und sagte:

»Ich horche mit ganzer Seele.«

Darauf begann der Amerikaner seinen Bericht:

»Du hast ganz recht; ich habe mehr Anlage, ein Taugenichts zu werden, auf den Weg mitbekommen, als irgendeiner unserer Poppenhagener Altersgenossen. Einen tollen, eigensinnigen Kopf trage ich auf den Schultern, und mein Sinn ist von Eisen wie mein Körper. Über alles das hast du, Eva, einzig und allein Gewalt erlangt. Du bist das einzige Wesen gewesen, welches ich fürchtete und deshalb mit knabenhafter Roheit mißhandelte. Du hast mich zu deinem Sklaven gemacht, dich habe ich geliebt, dich liebe ich. Von unserer Jugend brauche ich nicht mehr zu sprechen, denn du hast das singende, klingende Märchen derselben schon selber erzählt. Oft hab ich in der fremden Wildnis, auf dem Meer, in dem Lärm der großen transatlantischen Städte Gelegenheit und ein stilles Fleckchen gesucht, um die Augen zuzudrücken und den Winzelwald, die Hütten von Poppenhagen samt ihren Bewohnern und die Königin von allen, das kleine Mädchen Eva Dornbluth, aufsteigen zu lassen. In der Nacht, in welcher ich in die weite Welt hinauslief, beginnt meine Erzählung. Auf der Bergspitze, von welcher man den letzten Blick in das Tal von Poppenhagen werfen kann, hielt ich zuerst an vom Lauf. Die Straße, der Wald und die Höhen leuchteten im weißen Mondlicht, unten aus der Tiefe, wo das Dorf lag, funkelte ein einziges Licht; ich wußte, es leuchtete von dem Sarge des Schulzensohnes, der zwei Tage vorher gestorben war. Obgleich ich mit dem Verstorbenen gar nicht gut gestanden hatte, so peinigte dieses Licht mich doch sehr und verwilderte mir das Herz, welches schon so schmerzhaft um dich, Eva, schlug, noch viel mehr. Es machte mich unendlich traurig und fast mutlos, so daß meine Knie zitterten und ich beinahe umgekehrt wäre. Aber der Gedanke an das Gelächter des folgenden Tages trieb mir das Blut in die Wangen; im vollen Lauf stürzte ich fort, bergunter; – die Heimat lag hinter mir, das Los war geworfen. Ich war endlich in der weiten Welt; aber erst als der Morgen anbrach, merkte ich, wie weit sie war, wie wüst und verworren. Die ganze Nacht rannte ich durch, bis die Sterne verblichen, der graue Schein über die Berge sich legte und in der Ferne die Hähne ihn ankrähten. Mit Aufgang der Sonne stand ich auf der letzten Höhe des Gebirges, vor mir dehnte sich die Ebene mit ihren Städten und Dörfern, die Ebene, welche ich bis dahin noch nicht gesehen, von welcher ich keinen Begriff hatte. Ich setzte mich stumpfsinnig auf einen Steinhaufen, legte mein kleines Bündel neben mich und starrte ratlos in die unbekannte Weite. Ich war hungrig und durstig, ein blöd-wildes Tier. Nach kurzer Ruhe schlich ich die letzte Höhe hernieder und ein in das flache Land. Das wenige Geld, was ich besaß, war in den nächsten Tagen vertan; ich schlief unter freiem Himmel, in Schuppen oder in Ställen, wie es kam. In einer leeren Ziegelhütte, wo ich vor einem Sturm und der Nacht Schutz suchte, traf ich auf die Leute, welche meine nächsten Schritte in die Welt lenken sollten. Als ich in die Hütte kroch, fand ich den unbehaglichen Raum bereits besetzt. Ein Hund fiel mich mit wütendem Gebell an, und ein Weib kam ihm mit Hand und Mund bei dem abwehrenden Angriff zu Hilfe. Aus der Tiefe der Dunkelheit deklamierte eine äußerst helle Mannesstimme mit hohem Pathos dem Vorgang ganz unangemessene Herzensergüsse Theklas von Friedland. Ich war müde, hungrig und zornig, so daß ich weder Hund noch Weib achtete, sondern sie überwältigte und in das Innere der Hütte, an welcher ich gewiß ein eben so gutes Recht hatte wie die zeitweiligen Bewohner, eindrang. In einer Ecke glimmten einige Kohlen, und darauf zischte ein Suppentopf. In einer andern Ecke stand ein Pierrotkasten; der Deklamator war der Puppentheaterdirektor Joseph Leppel; die Dame war Julie Leppel, seine Gemahlin, der Hund hieß Zampa und konnte mehr als bellen; er war ein Künstler, und wir wurden später die besten Freunde. Nachdem ich den Eintritt in den schützenden Raum erzwungen hatte, während der Regen draußen niederrauschte, kam es zwischen mir und der Familie Leppel zu einer Auseinandersetzung, und Signora Julia zeigte sich als eine anständige Dame, welche Vernunft annehmen konnte. Signor Joseph lud mich zur Suppe ein, und mein Appetit ergötzte die beiden guten Leute mehr als den Hund, der an seinem Teil von der Mahlzeit beträchtlich durch den neuen Mitesser verkürzt wurde. Nach der Mahlzeit, während ich im Halbschlaf in einem Winkel mich zusammenrollte, fand eine lange flüsternde Beratung zwischen dem Ehepaar statt, und nachdem man am folgenden Morgen genau meine Lebensverhältnisse erkundet hatte, legte man mir das Resultat der Beratung vor. Der Direktor schien ein wenig engbrüstig durch seine schwierige Stellung als Dirigent und Aktor geworden und dazu sehr schlecht auf den Füßen zu sein. Er bedurfte, um den schweren Puppenkasten zu befördern, eines Jüngern, kräftigern Gehilfen. Einen solchen hatte er gehabt; aber am vergangenen Tage war ein Streit um die Gage ausgebrochen, und der Helfer hatte in Haß und Zorn seinen Abschied von der Gesellschaft genommen. Der Direktor verachtete ihn zwar, befand sich aber doch in der allergrößten Verlegenheit, und ich erschien ihm wie vom Himmel gesendet. Mit Pathos hielt er mir eine Rede, in welcher er mir auseinandersetzte, wie die Götter mich begünstigten, indem sie mir durch seine – Joseph Leppels – Hand das glänzende Reich der Kunst erschlössen. Ich solle nicht zaudern und die Götter erzürnen – sprach er – ein Paar Stelzen, auf welchen der Vorgänger ein dankbares Publikum entzückt habe, sei vorhanden, und seine – des Redners – Frau werde mich mit Vergnügen die hohe Kunst lehren, hoch über den Köpfen der Leute zu schreiten. Ich starrte den Mann eine geraume Zeit an; die Signora malte mir gräßlich die Schrecklichkeit des Hungertodes und die Fürchterlichkeit der Polizei vor: ich nahm das Anerbieten an und war ein Gaukler und Puppenspieler geworden, fast ohne zu wissen, wie das gekommen war. Die Kunst, auf Stelzen zu tanzen, lernte ich leicht und schnell und brachte sie binnen kurzem zu einer gewissen Vollkommenheit; es gefiel mir bald gar nicht übel, so von der Höhe auf die staunenden Gesichter des Volkes herabzusehen. Der Puppenkasten war eine leichte Bürde für meine Schultern; mit Bequemlichkeit trug ich ihn durch das Land und lernte ein gutes Stück Leben kennen. Mein Prinzipal war ein merkwürdiger Mensch, ein Drittel gutmütiger Vagabund, ein Drittel Spitzbube und ein Drittel Phantast. Er hatte ein eigentümliches Leben hinter sich; von begüterten Eltern geboren, hatte er gelehrte Schulen besucht; aber ein bodenloser Leichtsinn hatte ihn zuletzt zu seiner jetzigen Lebensstellung herabgebracht. Er hatte die fixe Idee, daß er noch einmal Direktor eines wirklichen Theaters werden müsse, und er ist mir immer ein leuchtendes Beispiel gewesen von der Macht solcher fixen Ideen und dem, was der Mensch dadurch erreichen kann. Signor Leppel hat durchgesetzt, was er wollte, ist jetzt zu New York Manager eines vielbesuchten Vorstadttheaters und auf dem Wege, ein reicher Mann zu werden. Schon als ich mit ihm zusammentraf, trug er sich mit Auswanderungsgedanken und machte von Zeit zu Zeit den Versuch, das Geld zur Überfahrt zu ersparen. Das hielt aber bei der Ungebundenheit seines Lebenswandels äußerst schwer, und ohne die Frau hätten wirs auch nicht fertiggebracht. Sie zeigte Charakter – in mancher Hinsicht sogar zu viel Charakter; hier aber war es gut, daß sie durchgriff. In kurzen zwei Jahren hatten wir das Geld zur Überfahrt zusammen und schifften uns in Bremen ein. Die See übte einen eigentümlichen Einfluß auf die Prinzipalin; das Stampfen, Schaukeln und Rollen, das Kopf-über-aus-den-Kojen-Poltern, das Salzwasser, die Erbsen und das Pökelfleisch machten sie – zärtlich; sie klammerte sich nicht nur bei Sturm und schlechtem Wetter, sondern auch bei totaler Windstille mit großer Zutunlichkeit an mich, und der Prinzipal sah das mit stillem Grimm. Auf dem Meere wurde der Signor zu sehr von der Seekrankheit niedergehalten, um seinen Gefühlen Luft machen zu können; aber sowie wir den Fuß auf das feste Land setzten, brach sein Zorn gegen mich los, und es half mir gar nichts, daß ich ihm versicherte, seine Gemahlin habe nicht die geringste Anziehungskraft für mich, und die Zuneigung herrsche allein auf ihrer Seite. Die Eifersucht hatte ihre blutige Saat gesät, und in einer Strandschenke auf Long Island brach der alte, ewige Kampf um das Weib auch zwischen Joseph Leppel und Fritz Wolf los, und jeder von beiden verlor Haare, trug blaue Flecke und zerrissene Jacken davon. Wir trennten uns, indem der eine dem andern das böseste Los wünschte und die gräßlichsten Segenswünsche nachschrie. Ich begann das Leben auf eigene Faust. Nur noch eine kurze Zeit ging ich vor den Bürgern der großen Republik auf Stelzen; aber da es ihnen kein Vergnügen machte, so hörte auch für mich der Spaß dabei auf; ich gab das Geschäft auf, wurde Zeitungsverkäufer und schrie den Broadway auf und ab die New-Yorker Tribüne aus. Dann wurde ich Sänger bei einer Gesellschaft nachgemachter Tiroler und dann – ich hatte bei dem Signor Leppel doch viel gelernt – dann betrat ich die Bühne bei mehr als einer herumziehenden Truppe. Dabei hatte ich das wenigste Glück, wurde furchtbar ausgezischt und legte mich auf den Hausierhandel, der mich weit in das Innere des Landes führte, tief in die großen Wälder. In dem Walde fühlte ich mich seit Jahren zum erstenmal wieder so recht an meinem Platze. In den großen Wald gehörte der Knabe vom Eulenbruch. Den Hausierkasten ließ ich, wie ich den Puppenkasten gelassen hatte, griff nach der Büchse und fand mich nun endlich auf der Bahn, für welche die Natur mein ganzes Wesen bestimmt hatte. Ein wildes, freies, stolzes Leben führte ich jetzt, einsam oder im Kreise gleichgesinnter Genossen. Ich schlürfte die Lust des Abenteurertums in vollen Zügen, und dann wirkte der Zauber des einsamen Lebens, wie ich sagen darf, veredelnd auf mich. Was das tolle, haltlose Treiben der letzten Jahre mir an Gemeinheit aufgedrückt hatte, das streifte ich jetzt allmählich wieder von mir ab; ich wurde ein ganz anderer Mensch und schämte mich mancher Stunde der Vergangenheit. Und wie mein Geist freier wurde, so sah ich jetzt auch die Zeit meiner Jugend, die Verhältnisse meiner Heimat mit andern Augen an. Dein Bild, Eva, tauchte zuerst aus dem wüsten Nebel wieder auf, und immer klarer, immer glänzender ward es wieder, – in so weiter Ferne wurdest du von neuem zum Stern meines Lebens. Bei allem, was ich tat, dachte ich, von dieser Zeit an, an dich. Du warst zu jeder Stunde mein holder Schutzgeist. Ich war arm, aber unbeschreiblich glücklich, als das Ereignis kam, welches mich zum reichen Manne machte und welches mir den Namen gab, unter dem ich in dieser Stadt aufgetreten bin. – Wir lagerten in der Wildnis zwischen dem Arkansas und dem Canadian, unserer vier, ein alter Mann mit weißem Haar, Josua Warner, ein Mann vom Stamm der Chactasindianer, ein Neger und ich selbst. Der alte Warner war trotz seines Reichtums ein geschlagener Mann. Er hatte seine einzige Tochter wider ihren Willen an den Sohn eines verstorbenen Freundes verheiratet. Durch Verschwendung, leichtsinnige Spekulationen und Unachtsamkeit hatte Frank Saint Coeur das eigene Vermögen eingebüßt und den Schwiegervater beinahe mit in das Verderben gezogen. Dann hatte er sich mit der Justiz überworfen, einen Mann im Streit erschossen und war entflohen nach dem fernen Westen, nach Texas. Seine arme Frau hatte er mit sich geführt, gleichsam als Geisel für den Vater, den er dadurch zu fernern Unterstützungen zwingen wollte. Nun folgte der verzweifelte Alte der Spur seines Kindes, welches er selbst in das Verderben gestürzt hatte, indem er es in die Gewalt eines so rohen, harten Mannes, wie Frank Saint Coeur war, gab. Westward ho! Niemand hier im alten Lande begreift, was für ein Zauber in diesem Worte liegt. Legionen sind auf dem Wege nach dem Westen. Sie verlieren sich in der Unermeßlichkeit des Raumes. Hier und da wird ein Feuerherd gebaut, und aus dem Schornstein eines rohen Blockhauses kräuselt der Rauch durch die Blätternacht des Urwaldes oder steigt auf von dem Lagerfeuer inmitten der weiten Prärie. Haben die Ansiedler im Walde, die Jäger, die Emigranten auf der Ebene den Westen gefunden? Nein, nein! Immer weiter mit Büchse und Axt, mit Karren und Wagen, mit Weib und Kind, zu Pferd und zu Fuß, immer weiter gen Westen – westward ho! Wo die Axt klingt, wo die Büchse knallt, ist nicht mehr der wilde Westen; die vorschreitende Kultur hat nur ihre Grenzen ein wenig hinausgerückt, und der wilde Westen ist ein wenig weiter vor ihr zurückgewichen. Das Zauberland, über welchem allabendlich die Sonne untergeht, wo unbekannte majestätische Ströme durch unbekannte Täler rollen, wo unendliche Schätze offen und doch unerreichbar daliegen, bleibt immer in derselben Ferne; das Sehnen nach ihm bleibt immer dasselbe. Weiter, weiter, ihr Pioniere! Sie sind alle auf dem Marsche, Angelsachsen, Deutsche, Romanen und Kelten; ein jeder hört den Atem des Folgenden im Nacken und sputet sich auf seinem pfadlosen Wege. Es soll da ein Goldland liegen – alte Sagen reden davon; spanische Missionare wollen den Fuß darauf gesetzt haben; – wo ist das Land? Westward ho, westward ho! Am Missouri liegts nicht, nicht am Arkansas, am Roten Fluß nicht, nicht am Rio Bravo, nicht am Colorado. Wo liegts wo liegts? Immer weiter rückts hinaus, wer kanns sagen, ob es nicht die Fluten des Großen Ozeans umspülen? Wer kann aber, mit solchem goldenen Glanz vor den Augen, den Fußtritt der nachfolgenden Scharen hinter sich ohne Ungeduld hören? Weiter, weiter – wer wird zuerst jauchzend Besitz von dem dorado, dem Goldland, ergreifen, wie es Pizarro, wie es Ferdinand Cortez vergönnt war? Jedermann darf hoffen, der Glückliche zu werden, vielleicht ist auch uns beiden, Eva Dornbluth, unser Teil daran aufgehoben. Westward ho!«

»Ich folge dir, wohin du mich führst, Friedrich!« rief Eva mit leuchtenden Augen. »Geh voran, ich folge deinen Schritten überall.«

»Du bist lang genug gegangen, armes Herz; in meinen Armen will ich dich durch das Leben tragen, so wahr Gott mir helfe. Doch nun höre weiter. Wir waren dem flüchtigen Frank Saint Coeur auf der Spur, nachdem wir ihn schon wochenlang verfolgt und gesucht hatten. Einer nach dem andern in unserer Schar war zurückgeblieben, seis, daß dem einen das Roß stürzte, seis, daß den andern die übergroße Ermattung zu Boden warf. So waren wir, wie gesagt, zuletzt nur noch unserer vier und lagerten in der Wildnis. Es war eine Nacht im Junius, und während der Neger und der Indianer schliefen, saß ich wachend neben dem wachenden, trostlosen Vater. Kein Windhauch regte die Blätter der Bäume; ein kleiner Strom rauschte in der Ferne, hier und da sahen wir seinen Spiegel durch die Büsche blitzen. Es war hellster Mondenschein. Tagelang waren wir bereits geritten, ohne einen Menschen zu erblicken; eine tiefere Einsamkeit kann man sich nicht vorstellen. An dieser Stelle sollte ich nun etwas erleben, welches mich heute noch in der Erinnerung mit Geisterhand in tiefster Seele berührt. In meine Decke gehüllt, saß ich, die Büchse griffrecht neben mir, das Messer in der Scheide gelockert, und wieder einmal dachte ich sehnsüchtig deiner, Eva Dornbluth, und meiner Jugend; wie ein Traum war es mir, wenn ich die halbgeschlossenen Augen ganz öffnete und der Blick über das verglimmende Feuer und die schlafenden wunderlichen Gefährten glitt. Neben mir seufzte der alte Warner und murmelte: Vorwärts, vorwärts, da sind sie – o Lizzie! Liebe, liebe Lizzie! – Seit wir uns diesem, unserm jetzigen Rastplatze näherten, war eine mächtige Veränderung mit dem Greise vorgegangen; eine Art verzweiflungsvoller Zuversicht auf das Gelingen unserer Jagd hatte sich seiner bemächtigt. Er stammte von schottischen Eltern: war etwas von dem second sight, dem geisterhaften ›zweiten Gesicht‹ seiner früheren Landsleute über ihn gekommen? – Hinter uns standen die Pferde angebunden, und eins hatte den Kopf über den Hals des ändern gelegt; ein anderes wieherte im Traum. Auch Pompey, der Nigger, murmelte im Schlaf, ihm träumte von der Rackoonjagd; nur der Indianer lag ganz still, und sein Roß stand ebenso still abseits den andern drei. Allmählich verloren unter dem Rauschen des Flüßchens meine Gedanken ihre Bestimmtheit; wie es zu geschehen pflegt, verfiel auch ich, trotzdem ich die Wacht hatte, in einen Halbschlummer, dessen Dauer ich nicht bestimmen kann. Ein Schrei Josua Warners jagte mich empor und mit Büchse und Messer auf die Füße. Der Greis stand aufgerichtet, voll vom Mond beschienen, in unserer Mitte und starrte auf eine Lichtung, die hinaus auf die weißleuchtende Prärie jenseits des Stromes führte. Der Chactas und der Neger hatten auch ihre Waffen ergriffen, die Pferde zogen angstvoll an ihren Halftern. Nirgends war das Geringste, was Grund des Schreis und Schreckens hätte sein können zu erblicken. Dem alten Vater war der Hut entfallen, seine Locken schimmerten silberweiß, sein Blick war starr, dem eines Schlafwandlers ähnlich, gradeaus gerichtet, und die Augen aller folgten den seinigen. Ich wollte den Träumenden beim Arm fassen, um ihn zu erwecken; aber er winkte mir und deutete auf die Lichtung:

»Still – da ist sie – seht ihr sie? Lizzie! Lizzie! Da schwebt sie fort! Lizzie, liebe Lizzie! Warte, warte, wir kommen!«

Nichts zu sehen, – kein Ton zu hören außer dem Rauschen des Wassers; in tiefster nächtlicher Ruhe lag die Natur. Ich fürchtete, das Unglück habe die Sinne des armen Vaters verwirrt; aber vergeblich suchte ich in seinen Augen nach dem irren Flackerlicht des Wahnsinns. Josua Warner war ein harter Mann, ein eisenherziger Sklavenhalter, und wie ein solcher sah er auch jetzt wieder aus. »Kommt, Fred«, sagte er, »wir sind am Ziel; sie hat mich gerufen, ich habe sie gesehen, Gott segne ihr süßes Gesicht, kommt mit den Pferden.« –Er hing die Büchse über die Schulter, band sein Roß los und nahm es beim Zügel. Gegen den Fluß führte er uns; denn wir andern folgten seinem Beispiel, ich in leisem Grauen, der Neger kopfnickend und die glänzenden Augen rollend, Chimapatawe, der Indianer, gravitätisch und bedachtsam. Ich wollte die Büchse schußbereit in den Arm werfen; aber der Greis schüttelte das Haupt: »Nicht nötig, Fred, arme Lizzie!« – Wir schritten auf die Lichtung zu und zogen durch den seichten Strom fast trockenen Fußes. Eine kurze Zeit zogen wir im Mondenlicht; dann nahm uns der Wald wieder auf, und wir schritten weiter, nach indianischem Brauch in einer Linie, der Alte voran, dann ich, dann Pompey, zuletzt der Chactas, jeder sein Pferd am Zügel führend. Eine gute halbe Stunde blieben wir nun im tiefsten Dunkel; dann hielt der Greis plötzlich an und wies auf den Boden. Der Indianer stieß den Verwunderungsruf seines Volkes aus, der Neger glotzte; wir standen vor einer Feuerstelle, um welche alles auf den langem Aufenthalt eines Reitertrupps hindeutete. Kaum acht Tage alt konnten diese Spuren sein.

»Arme Lizzie«! murmelte der Vater. »Wie deine kleinen Füße so wund waren! Wie du so müde geworden bist! Schläfst du, schläfst du sanft? Still, still, daß wir sie nicht wecken.«

Der Indianer hielt ein weißes Tuch in die Höhe; ich nahm es aus seiner Hand, es waren Blutflecke darauf bemerkbar. Es war ein feines Damentaschentuch, und an der einen Ecke trug es die gestickten Buchstaben E und W; es konnte kein Zweifel herrschen, wir waren der unglücklichen jungen Frau auf der Spur. Die Buchstaben bedeuteten Eliza Warner; aber das Blut, das Blut?! – Ich wollte das Tuch den Blicken des Vaters verbergen; er nahm es mir jedoch ganz ruhig aus der Hand und sagte:

»Sie schläft – ihre Brust tat ihr so weh. Es ist Blut aus ihrer kranken Brust, Fred. Ich wußte es wohl, sie konnte den langen Ritt nicht ertragen, es mußte so kommen.«

Er verbarg das traurige Zeichen an seiner Brust, nachdem er es geküßt hatte; dann führte er sein Roß weiter, ohne aufzuschauen, als wandele er auf vollständig bekanntem Wege. Der Boden senkte sich nunmehr; die Bäume standen nicht mehr so dicht gedrängt; wir traten endlich hervor aus dem Walde auf die große Prärie, hinaus in das vollste Mondlicht, und gerieten sogleich in brusthohes Gras. War dieses Gras je von menschlichen Füßen und Rosseshufen niedergetreten worden, so hatte es sich schnell wieder aufgerichtet, und keine Spur der frühern Wanderer war mehr zu erblicken. Das Haupt vorgebeugt, mit tiefatmender Brust, schritt Josua Warner dahin. Ein Rudel Hirsche jagte kaum fünfzig Schritte von uns zur linken Seite über einen Hügelrücken gen Süden. Wir waren immer noch auf dem Wege gegen Westen, den fernen, wilden, gloriosen Westen; doch nach einer Viertelstunde hielten wir an in der unermeßlichen Ebene, auch diesmal ohne ihn gefunden zu haben. Wir hatten nur gefunden, was wir suchten. In dem wogenden Gras, inmitten der Unendlichkeit von Himmel und Wiese, trafen wir auf einen winzigen Erdhügel, auf ein ganz frisches Grab, das Grab der unglücklichen Elisabeth Warner. Eine rohe Holztafel verkündete ihren Namen und den Tag ihres Todes; die Stimme, welche den Vater von seinem Lagerplatz im Walde emporjagte, war nicht Täuschung gewesen; er hatte sein Kind wiedergefunden. Bewußtlos lag er, den Hügel mit seinen Armen umfassend; stumm standen wir andern auf unsere Büchsen gelehnt, und der rote und der schwarze Mann begriffen das Geheimnisvolle, das Erschütternde grade so gut wie der Deutsche. – Wir verfolgten den schlechten Burschen, welcher die arme Lizzie in dieses einsame Grab gestoßen, welcher diesen Hügel über ihrem Leibe aufgehäuft hatte, nicht weiter; – was für eine Rache hätten wir an ihm nehmen sollen? Wir traten den langen traurigen Heimweg zum Mississippi bereits am folgenden Tag an; – vielleicht traf niemals wieder ein anderer auf dieses trostlose Grab in der Prärie. Die Hirsche und Büffel mochten ruhig um es her weiden, die Geier darüber ihre Kreise ziehen; ein menschliches Auge fiel vielleicht nie wieder auf diese Holztafel und den Namen Elisabeth Saint Coeur. Ich lebte mit dem Vater bis zu seinem Tode; ich war der einzige, mit welchem er über das ferne Grab sprechen konnte, und ich durfte mich kaum von seiner Seite entfernen. Er gab mir seinen Namen und setzte mich, als er starb, zum Erben seines Vermögens ein. Für das Leben in den Sklavenstaaten war ich jedoch durchaus nicht gemacht. Für die Baumwollenpflanzung fand ich bald einen Käufer, meine Herren Sklaven führte ich nach den Neuenglandstaaten und ließ sie laufen, bis auf einige, welche durchaus nicht laufen wollten, sondern sich mit großem Geschrei an mich festklammerten und behaupteten, ich sei verpflichtet, sie, Pompey, Cäsar und Agrippina, gewöhnlich Grippy genannt – zu behalten. Zuteil war mir jetzt alles geworden, was ich mir im Winzelwalde als das höchste Glück der Welt vorgestellt und gewünscht. Seefahrer, Krieger, Jäger war ich gewesen, blutige Abenteuer hatte ich glücklich bestanden; bei mehr als einer Gelegenheit sah ich dem Tode ohne Augenzwinkern ins Gesicht. Ich war jetzt reich, der freieste Mann auf Gottes Erdboden; aber nun fehlte mir doch wieder alles; zurück in die Heimat trieb der glühende Wunsch; alles, was ich in der Weite gesucht und gefunden hatte, verblaßte jetzt gegen das, was die einst so gering geachtete Heimat zu bieten hatte. Nach dir, Eva Dornbluth, sehnte ich mich, und nicht eher hatte ich Ruhe, bis ich wieder auf dem blauen Meere schwamm. Den Hauptmann Konrad von Faber hatte ich in New York kennen gelernt; er machte mit mir die Überfahrt nach Europa. Wir schlossen uns ziemlich eng aneinander, ohne daß er jedoch meinen wahren Namen erfuhr; er hat mich auch in die hiesige Gesellschaft eingeführt. In Hamburg trennten wir uns fürs erste; ich suchte dich, du Teure, zuerst natürlich im Winzelwalde. Ich war in Poppenhagen und vernahm alle die Veränderungen, welche sich dort zugetragen hatten. Man erkannte mich natürlich nicht, und ich gab mich auch nicht zu erkennen. Das war vor acht Tagen. Mein Bruder Robert war eben davongegangen wie ich, wie du. Über dich schüttelte man die Köpfe; denn dunkle, verworrene Gerüchte waren über dich in das vergessene Tal gedrungen. In toller Angst und Hast kam ich hierher – ich vernahm, was unserm Robert geschehen war; aber ich hatte gelernt, mich zu beherrschen. Mit lächelnder Miene ging ich umher, ließ mich von dem Hauptmann Faber überall vorstellen; der junge reiche Amerikaner war überall ein gern gesehener Gast. Für manche Sünde meines Lebens habe ich durch die innere Qual dieser letzten acht Tage reichlichst gebüßt; – nun verzeihe mir, Eva, meine Geliebte, meine Braut, mein Alles! Zu deinen Füßen knie ich hier, verzeihe mir, verzeihe alles, was der tolle Fritz vom Eulenbruch durch Vergessen, Zweifel und Mißtrauen gesündigt hat; ich liebe dich, habe dich immer geliebt und nie an ein anderes Weib gedacht!«

Weinend hob Eva den Freund auf:

»Sei ruhig, Herz. Ich lasse dich nicht. Die Sterne haben uns auseinandergeführt, die Sterne haben uns von neuem vereinigt. Nicht wahr, nun soll uns nur der Tod scheiden?«

»Nur der Tod!« rief Friedrich Wolf. »Sag es noch einmal, sag es mir wieder, daß du mit mir gehen willst, daß du mir immer zur Seite stehen willst!«

»Immer, immer! Deine Sterne sind die meinigen.«

»So laß uns gehen! Morgen, heute, in dieser Nacht!«

»Und dein Bruder?«

»Dürfen wir ihm jetzt entgegentreten? Wir wollen schon für ihn sorgen. In der rechten Stunde wollen wir ihn dann zu uns rufen.«

»Du sollst entscheiden.«

»Er hat auch seine Sterne. Mögen sie ihn gut und sicher führen, wie sie uns geführt haben. Fürchtest du dich aber auch nicht vor dem Meere, du Süße, Liebe?«

Eva Dornbluth schüttelte den Kopf:

»Hab ich mich vor der Welt gefürchtet? Die ist ein noch ganz anderes, viel wilderes Meer.«

Der rote Wolf zog von neuem das Mädchen aus dem Winzelwalde an seine Brust; dann warf er jubelnd und triumphierend die Hand empor:

»Westward ho! Gesegnet seien unsere Sterne!«

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