Frei Lesen: Horacker

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Wilhelm Raabe

Horacker

Elftes Kapitel

eingestellt: 1.8.2007



Wenn es nicht der Mensch war, der dem Auswurf der Menschheit durch die Nußbüsche nachsetzte, so war es ganz zweifelsohne der Künstler, der den malerischen deutschen Rinaldini bis auf ein Dritteil fertig auf dem Papiere hatte und sich eben den Rest nicht entgehen lassen konnte. Und die Natur hatte den Kollegen Windwebel mit den gehörigen Beinen für eine solche Jagd nach dem Pittoresken ausgestattet. Lang, fleischlos, aber muskelkräftig waren sie ihm tadellos für solche und ähnliche Aufgaben gewachsen; und er gebrauchte sie:

»Halt den Dieb!«

Vor sich in einer Entfernung von einigen hundert Bocksprüngen hörte er den Räuber rauschen; und über Bach und Morast, durch Gebüsch und Hochwald ging die Jagd immer tiefer hinein in die Wildnis. Trotz seiner langen Beine und trotz der Hinfälligkeit und Verkommenheit des armen Teufels vor ihm hatte der Zeichenlehrer all seine Spannkraft zusammenzunehmen.

Aber nichts beflügelt die Schritte und die Siegesgewißheit des Verfolgers so sehr, als eben dieses Rauschen im Busch, die Angst des Ausreißenden, sei es Mensch oder Tier. Alle Jäger, Kriegsleute, Advokaten und schöne junge Damen wissen das und wissen daraufhin zu laufen; letztere natürlich nur mit Billigung und unter der Oberaufsicht der Mama.

»Jetzt soll der Racker dran!« keuchte der Kollege. »Und wenns mich den letzten Zipfel der Lunge kosten würde. He Horacker, Horacker, gibs auf, Canaille!«

Das war nun wieder recht unpolitisch. So leise als möglich soll man hinter dem Jagdstück hersetzen. Einen Mund mit einem Schloß davor soll der Krieg, die Diebeshetze und die Liebe in der Fahne führen: in hoc signo vinces.

Noch einmal beflügelte der letzte Zuruf die Schritte des Flüchtlings auf das bedenklichste für den Verfolger. Das Rascheln tönte ferner, und Windwebel hatte die Beine noch länger zu strecken, während er die Zähne zusammenbiß.

Sie waren jetzt ziemlich tief in das Unwegsame geraten; rundumher war der Wald still, und die sinkende Sonne füllte ihn mit druckender Schwüle. Ohne sein mehrwöchentliches Fasten würde der Räuber auch diesmal wieder entkommen sein, doch alles, wie gesagt, hat sein Ende in der Welt, in dieser angstvollen Welt des Hintereinanderdreinlaufens. Noch fünf Minuten lang rannte der Bandit; allein auf einer neuen Waldblöße bekam ihn Windwebel zu Gesichte, und damit war der Wettlauf entschieden.

Sie flogen beide mit langausgestreckten Hälsen über diese Blöße; dann bauete sich eine steile, von Heidelbeeren und Brombeeren überzogene Berglehne vor ihnen auf. Zwischen dem überwucherten Geröll eines alten verlassenen Steinbruchs ächzte Horacker noch zwanzig Fuß an dem Berge aufwärts, dann stürzte er zu Boden inmitten dieses Steinbruches, und Windwebel, über ihn hinschießend, gleichfalls, und zwar auf die Nase; aber der Räuber blieb liegen, wie er lag, während der Gymnasialzeichenlehrer so rasch als möglich wieder auf die Füße kam und mit der Nase zwischen dem Daumen, dem Zeigefinger, dem Mittelfinger und dem Ringfinger wütend ächzte:

»Auch das noch für die Kunst!« – – –

Es war ein kühler Fleck an dem heißen Tage, diese in den Sandstein des Berges hineingearbeitete Höhlung. Die Vegetation hatte bereits seit langem wieder Besitz davon genommen und die Spuren der menschlichen Tätigkeit nach Möglichkeit verwischt. Buschwerk beschattete den Ort von den Felsentrümmern herab. Große Farrenkräuter wucherten zwischen dem Moose der Steine, und von einer Seite tröpfelte und perlte es feucht hernieder; ein winziges Quellchen hatte sich seinen Weg durch den Schutt und das Geröll gebahnt und suchte ihn in Miniaturwasserfällen weiter zu Tal. Auch die hohen Buchen weiter aufwärts der Berglehne warfen noch einen Teil ihres erfrischenden Schattens auf den Platz.

»Die landschaftliche Umgebung paßte mir«, sagte der Kollege Windwebel, auf einem der Steinblöcke sich niederlassend und mit dem Auge des Künstlers umherschauend.

Er saß; aber zu seinen Füßen lag der Räuber Horacker immer noch mit dem Gesichte im feuchten Grase und Moose, die Füße weit von sich streckend, mit den Händen sich an die alte Mutter Erde anklammernd, – »gerade als ob er sich gutwillig hingelegt habe, um das ihm Gebührende von mir in Empfang zu nehmen«, wie der immer noch atemlose Künstler meinte.

»Lust hätte ich wohl dazu, und die Haselgerten wachsen mir gleichfalls in die Hand. Horacker, Sie Ungeheuer, liegen Sie nicht zu verlockend da; bauen Sie nicht allzu fest auf meine angeborene Gutmütigkeit. Ich kenne die Leute zu Dutzenden, die in meinem Fall bereits in voller Tätigkeit auf Ihrem Hinterteil sich befänden. Wälzen Sie sich wenigstens auf die Seite, Mensch!«

»U – uh!« stöhnte der Verbrecher, das Gesicht womöglich noch tiefer in den Erdboden vergrabend.

»Jawohl uh, uh, uh! War das der Dank für den guten Tropfen, auf den man Ihretwegen verzichtete, Sie Lump? Was für eine Tarantel stach Sie plötzlich, Horacker? Kennen Sie eine Tarantel?... Eben teilt man noch seinen letzten Bissen mit solch einer Kreatur, und im nächsten Augenblicke – geht sie hin – geht sie durch und zwingt einen, mitten in den Hundstagen, ihr nachzurennen –«

»Es passiert gewiß nicht noch einmal! Von diesem Platze stehe ich nicht wieder auf!« ächzte der Räuber, in den Grund beißend.

»Sie stehen nicht wieder auf von diesem Platze?«

»Nein, lieber Herre. Gehen Sie nur ruhig ins Dorf und holen Sie die Bauern; ich bleibe Ihnen sicher liegen. Gehen Sie dreist nach der Stadt und holen Sie Ihre Gendarmen und Ihren Herrn Staatsanwalt; ich lasse mich abholen wie einen Klotz. Ich schwöre es bei dem allmächtigen Gott, ich habe es satt und laufe nicht weiter.«

»Dann hätten Sie mir auch diese letzte Jagd sparen können, Horacker«, brummte der Kollege, mit einem Farrenkrautwedel sich soviel Kühlung als möglich zufächelnd. »Sie sind ja ein ganz gemütlicher Hahn, Horacker; – ein Gewissen haben Sie wohl nie gehabt?«

Der Räuber schluchzte leise in das Moos und Gras hinein, und der Zeichenlehrer sah mit immer ratloserer Miene auf den armen Kerl hin.

»Am Ende geht das denn doch über allen Spaß«, murmelte er. »›Zähle immer erst langsam fünfzehn, ehe du mir auffliegst‹, sagt Hedwig, ›wir fallen ja immer noch früh genug in das Lachen der Leute hinein, Viktor!‹ Und das Herze hat recht – selbstverständlich. Nun hat mich hier meine Leichtfüßigkeit wieder einmal in eine recht nette Situation gebracht. Gütiger Himmel, was fange ich jetzt mit diesem Narren an? Das ist ja fast noch schlimmer als ein ausgesetzter Säugling vor der Tür einer alten Jungfer! Der Specht da oben in der Tanne ist der einzige Vernünftige hier; er bekümmert sich eben nur um sein Geschäft und hat noch nicht ein einziges Mal einen Seitenblick auf uns hier im Loche geworfen. Und kein Mensch weit und breit, den man um seine Meinung fragen könnte... Wenn ich nur den Kollegen Eckerbusch zur Hand hätte, aber der sitzt und tröstet die Witwe Horacker, wenn er nicht bereits ruhig mit ihr auf dem Wege zum Gansewinckler Pastor ist. Muß es denn gerade stets unsereiner sein, der alle halbe Stunde einmal in derlei Verdrießlichkeit, um es nicht stärker auszudrücken, hineinplumpst?! O Hedwig, Hedwig, so hat er mich richtig in den Klauen, der Räuber Horacker, und du hast mich nicht ohne Grund vor ihm gewarnt beim Abmarsch!«

Er nahm den Kopf in beide Hände und versuchte es, zu überlegen. Zu dem Schweiße der Anstrengung und des heißen Tages trat ihm beinahe auch noch der Angstschweiß auf die Stirn; Cord Horacker blieb liegen, wie er lag.

»Wenn er mir nicht unter der Nase aus purer Bosheit verendet, höre ich ihn nächstens schnarchen. Dieser Mensch ist zu allem imstande! Horacker – heda! Holla, Horacker; zum allerletzten Male fordere ich Sie nun auf, mir wenigstens noch einmal Ihr liebes Gesicht zu zeigen. Horacker, ich prügle Sie wirklich, wenn Sie sich nicht wenigstens noch mal fünf Minuten lang auf die Seite drehen.«

Dieser Nachdruck half endlich. Der fühllose Bösewicht stöhnte wiederum aus tiefster Seele und wendete sich halb auf die Seite, dem Zeichenlehrer somit seine ungewaschene, verwilderte, abgehungerte Physiognomie zukehrend.

»Nachher spreche mir einer noch von einem andern Menschheitsjammer!« murmelte der Kollege Windwebel. »Den Doktor, den Apotheker und ein paar barmherzige Schwestern, aber nicht die Gendarmerie und die Gansewinckler Bauernschaft haben wir hier nötig. Hm, Horacker – Cordchen, einen Schluck Rotwein kann ich Euch leider nicht mehr bieten; – nun sagen Sie, das war also Ihre Frau Mutter, die alte Dame, die Sie am Jackenzipfel uns aus der Wüste zuführte?«

Da heulte der Räuber unter strömenden Tränen heraus:

»Hier ist mein einzigster Hosenträger, der noch am Knopf hält; – den andern gab ich schon bei einer andern Jagerei im Busch gelassen. Hinge ich nicht schon längst dran am ersten bequemen Ast, wenn die Alte – und – noch – eine andere nicht wäre?«

»Noch eine andere?« flötete Windwebel. »O wenn doch jetzt der Kollege Neubauer hier säße! Dem Kollegen Neubauer gönnte ich den Genuß im ganzen und vollen, und der Kerl wäre auch der richtige Mann, sich nicht die geringste Nuance des Erlebnisses entgehen zu lassen. Das wäre ein Stoff für eine Idylle! Daraus würde sich etwas machen lassen in Hexametern! Noch eine andere?«

»Ja, noch eine andere!« knirschte der Räuber zwischen den Zähnen. »Mein Lottchen! Ob sich was draus machen läßt, weiß ich nicht; aber es – das Lottchen Achterhang und die alte Frau und ich, wir sind drei. Die ganze andere Welt rechne ich nicht mehr.«

»Grüße mein Lottchen, Freund«, murmelte der Zeichenlehrer und zeigte sich durch das Zitat wenigstens als ein klassisch gebildeter Mensch in seiner Ratlosigkeit. »Also ihr drei seid eins?... Ich wollte, ich hätte Hedwig hier; aber die steckt zu Hause frische Gardinen auf.«

Ein heller, lieblicher Strahl aus seinem zierlichen jungen Heimwesen glänzte in die unbehagliche Verstörtheit der Stunde. Windwebel schüttelte sich, und dann schlug er mit der Faust auf den nächsten Steinblock und rief:

»Wenn ich Verse drauf machen könnte, würde es mir sicherlich gleichfalls gemütlicher zumute sein; aber selbst mein Skizzenbuch gebe ich hier auf. Horacker, wir sitzen leider Gottes gänzlich ungestört, Ihren Atem haben Sie zum Teil auch allgemach wiedergewonnen, es drängt mich immer mehr, mehr an Ihre Harmlosigkeit als an Ihre Ruchlosigkeit zu glauben. Erzählen Sie mir von sich und Ihrem Lottchen. In das Arbeitshaus kann jeder kommen; aber auf die korrupte Idee, in einer Gegend und unter einer Bevölkerung wie die unsrige sich als Räuberbande zu konstituieren, fällt doch ein gewöhnlicher Mensch nicht jeden Tag. Ich schwatze nicht aus der Schule; darauf können Sie sich verlassen, mein Bester.«

»Und Sie gehören gewiß und wahrhaftig nicht zum Gerichte?«

»Wie wir Ihnen vorhin bereits mitteilten – durchaus nicht! Zu einem Schulmeister hat uns der liebe Gott in seinem Zorn gemacht.«

»Und mich zu einem Schinderhannes, obgleich ich auf die Schneiderei gelernt habe!« rief Cord Horacker und setzte sich aufrecht: »Liebster, lieber Herre, was kann einer dafür, wenn einer was wird, was er werden soll? In die Schule und in die Kirche gehen hilft gar nichts dagegen.«

»Ich wünsche den Kollegen Neubauer immer inniger hierher«, murmelte Windwebel. »Er nennt mich, weil er das n grammatisch für richtiger hält: Herr Zeichnenlehrer; und er ist ein Philosoph und versteht sich auf alle Nuancen in der Welt. Er würde mir sagen können, was er von diesem Philosophen da hält.«

»Ich will es Ihnen selber sagen, was ich von mir halte, so gut ich es eben weiß, Herr Lehrer«, sagte Horacker. »Andere Leute kennen einen doch nicht ganz genau, nicht einmal die Herren Gerichtsherren, nicht einmal der Herr Pastor Winckler. – In die Besserungsanstalt aber kam ich von Rechts wegen. So einem wie unsereinem ist das am Ende auch ganz egal, und wie ich das Mädchen kenne, so wärs dem auch einerlei, zumal da es doch auf meine Besserung auch für es abgesehen war. Ich habe auch mit Vergnügen die Schneiderkunst in der Anstalt gelernt, obgleich ich von Natur nicht dazu angestiftet bin im Dorfe. O, ich wollte mir heute schon dadurch forthelfen in der Welt und meiner Alten auch. Sehen Sie, lieber Herr, unsereiner hat manchmal auch seine Gedankenspiele, wenn die auch nicht so fein sind als die der gelehrten Leute und der reichen Bauern. Das ist wie Hanfzwirn und Seidenzwirn; Zwirn bleibts doch; und der Herr Korrigendenpastor hat mir selber mit abwickeln helfen, daß ich erst in meinem Sinn und dann nachher auch in der Wirklichkeit wieder ein ordentlicher Mensch würde. Nämlich da wäre ich, wenn ich mit einem guten Zeugnis herausgekommen wäre, zuerst in die weite Welt gegangen auf die Wanderschaft, damit daß ich den Arbeitshausgeruch aus dem Rocke verloren hätte, – o, und es hätte mir schon gelingen sollen! Dann hätte ich mir in der Fremde, und wenns in dem Amerika hätte sein müssen, eine gute Reihe harter Taler zusammengearbeitet, und wenn das Mädchen auf mich gewartet hätte, wie es mir das tausendmal fest versprochen hat, so – ja so – so –«

Das Denken an das, was hätte sein können, überwältigte den armen Schlucker vollständig. Er weinte bitterlich und wischte sich die hellen Tränen mit den hagern Schmutzhänden und dem Jackenärmel ab. Körperlich verschönerte er sich gar nicht dadurch; aber geistig wurde er immer hübscher in den Augen Windwebels.

»Nehmen Sie sich Zeit, Horacker«, sagte der Zeichenlehrer. »Unsereiner hats auch nicht ohne seine Kämpfe zu seiner Stellung in der Welt gebracht.

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