Frei Lesen: Horacker

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Wilhelm Raabe

Horacker

Zwölftes Kapitel

eingestellt: 1.8.2007



Um fünf Uhr nachmittags ungefähr war der Konrektor Eckerbusch vom Walde her in den Pfarrgarten hineingehüpft. Eine Viertelstunde später war der Vorsteher Neddermeier vom Pastor Christian Winckler über die Hecke weg angerufen worden, um die allerjüngste Neuigkeit in Sachen Horackers zu vernehmen; und um sechs und ein halb Uhr abends bereits sagte eine Gansewinckler Feldmaus unter dem Tore der Kreisstadt zu einer natürlich sehr schreckhaft die Ohren spitzenden Stadtmaus:

»Wissen Sie es denn noch nicht? Horacker hat heute bei uns im Holze einen alten Schulmeister totgeschlagen!«

Wir aber, ehe wir die entsetzliche Nachricht in ihrer Verbreitung über das eben noch im Abendsonnenschein ruhig hindämmernde Gemeinwesen und in allen ihren Wirkungen auf dasselbe weiterverfolgen, haben uns doch noch ein wenig eingehender mit den Vorgängen in der Gansewinckler Pfarrei zu beschäftigen. Das ist gerade das Nette an jeglichem Gerüchte, daß man es ruhig sich selber überlassen kann; es wuchert im Guten wie im Bösen weiter auch ohne das Zutun dessen, der sich durch es weder in seinen Geschäften noch in seinen Meinungen und Ansichten stören lassen will.

Augenblicklich waren sie im Pastorengarten dabei, Windwebel zu loben, und zwar ausbündig.

»Es ist ein guter Mensch«, sagte die Frau Pastorin.

»Das ist er«, bekräftigte ihr Ehegespons.

»Eigentlich ist es ein zu guter Kerl!« meinte Eckerbusch. »Ich sage euch, seit er an unserm illustren Gymnasio angestellt worden ist, habe ich mich ihm gegenüber von Tag zu Tag mehr in die Gefühle, Ängste und Nöte einer alten Wartefrau hineingearbeitet. So habe ich ihn in der Phantasie immer hinten am Hosenbund und suche ihn vor Schaden zu behüten. ›Nehmen Sie sich in acht, Windwebel! Beinahe hätten Sie wieder auf der Nase gelegen. Da hätten Sie sich aber schon wieder an dem Philister da gestoßen! Richtig, jetzt purzelt er mir über den Kollegen Neubauer! Habe ich es nicht gesagt?‹ – Und so wie ich mit ihm, so hat meine Alte mit seiner Jungen ihre liebe Not; – was aber den Kollegen Neubauer mit angeht, so gratuliere ich seiner zukünftigen Frau, der Edle wird sich an seinem silbernen Hochzeitstage sicherlich an die Mücke erinnern, die ihn biß, als er seine Liebeserklärung machte.«

»Na, endlich verschone uns einmal mit deinem ewigen Kollegen Neubauer, Eckerbusch!« rief der Gansewinckler Pfarrherr sogar ein wenig unwirsch.

»Mit Wonne, wenn er mich nur verschonen wollte; aber der Bursch hat ja eine ebenso innige Zuneigung zu mir gefaßt, als ich zu Windwebel. Ihn habe ich im Wachen und im Traum als Wartefrau hinter mir – den Sackermenter! Der Narr ist noch nicht ein einzigmal im Leben zu dem Bewußtsein gelangt, wie viele gute Stunden der Mensch durch seine eigene Schuld verliert; hat er aber auch gar nicht nötig, denn sein Vergnügen hat er doch; nämlich dadurch, daß er andern Leuten alle guten Augenblicke so oft als möglich verdirbt. Ein Heidenspaß aber ist sein Verkehr mit meiner Proceleusmatica, und deshalb allein schon wird er stets zu meinen liebsten Hausfreunden zählen. Es ist zu himmlisch, wie die beiden in ihrem Umgang mit Liebenswürdigkeit, Gift, Ironie und Wut aufeinander einzuwirken suchen.«

»Und dann machen Sie wohl auch immer noch Anspruch drauf, ein guter Mensch zu sein, Eckerbusch?« fragte Frau Billa Winckler. »O, ich sollte Ihre Ida sein!«

»Was meinst du dazu, Krischan?« meinte der Herr Konrektor, und der Pastor hielt sich wiederum, doch diesmal lächelnd, an das Käppchen auf seinem Kopfe, wendete sich an den noch immer in der Laube gegenwärtigen Vorsteher und fragte: »Nicht wahr, mein lieber Nachbar und Freund, daß wir in einer Welt der Wunderlichkeit und Verwirrung leben, wissen wir, daß es aber nicht gar zu schwer ist, sich am Ende drin zurechtezufinden, wissen wir hoffentlich auch?«

»Wie gut wir zwei uns anjetzo bald ein halb Jahrhundert lang ineinander zurechtegefunden haben, Herr Pastor, das ist mir, Ihnen und der Gemeinde, Ihre liebe Frau eingeschlossen, freilich Gott sei Dank bekannt, und ich erhoffe, daß es auch fernerhin so bleiben wird.«

»I, sehen Sie mal, Neddermeier«, schloß die Frau Pastorin. »Nun, ich hoffe, daß es Ihr Ernst ist, Vorsteher. Mir wird es lieb sein, und Sie kennen mich auch draufhin, daß ich meinesteils stets mein möglichstes tue, Frieden und Eintracht aufrechtzuerhalten. Jetzt aber wieder zu Horacker!«

»Ja, das wird freilich vorderhand das wichtigste sein«, meinte der Vorsteher. »Alles zu seiner Zeit; – wenns zu Neujahr ein Knitterfrost wird, brauch ich drum in den Hundstagen noch lange nicht zu heizen.«

»Sollten wir nicht doch am Ende dem Herrn Zeichenlehrer mit einigen ruhigen und ordentlichen Gemeindemitgliedern in den Wald nachfolgen, Neddermeier?« fragte der Pastor.

»Ne!« sprach mit dem größtmöglichen Nachdruck der biedere Vorsteher von Gansewinckel. »Hübsch ist es von dem Herrn, daß er, wie die Herrschaften sagen, dem Spitzbuben nachgesetzt ist; aber darum jedoch auch soll er nun ihn auch allein bringen, wenns möglich ist. Es ist einem ja eine wahre Beruhigung, daß sich auch einmal ein anderer die Beine nach ihm abstrappeziert. Für das Dorf stehe ich, daß es dazu das Seinige getan hat, – da ist in der Hinsicht keiner unter uns, der sich nicht das Allgemeine Ehrenzeichen verdient hat. Wenn nun einer aus purem Wohlgefallen und Herzensgüte sich auf die Jagd nach solchem Racker gibt, so ist es nach meiner Meinung seine eigene Liebhaberei, und in seiner Liebhaberei soll man niemanden verstören, wenns nicht damit auf einen Gemeindeschaden oder sonstige Beunruhigung hinausläuft. Durchgehen wird uns der Herr Lehrer wohl nicht mit der Canaille, wenn er sie wirklich packt. Er soll sie uns nur ruhig bringen; nachher wissen wir schon amtlich, was wir mit ihr anzufangen haben.«

»Das Kind schläft wohl immer noch?« fragte der Pastor sein Weib, das während der längeren Rede des Vorstehers ins Haus gesehen und gehorcht hatte und nun wieder in die Laube zurückkehrte.

»Wie eine Tote!« war die Antwort.

»Nachher wird das Aufwachen um so vergnügter sein, wenn der Herr Lehrer mit dem Halunken ankommt und wir beides Vagabundenpack miteinander konfrontieren werden«, meinte der Vorsteher, und –

»Wir werden Sie sicherlich dazu herbitten, Neddermeier«, sprach die Frau Pfarrherrin von Gansewinckel mit einer ganz merkwürdigen Höflichkeit, die der Brave aber leider nur nach der einen, und zwar der höflichen Seite hin zu würdigen wußte.

Daß der Konrektor Eckerbusch in dem Gansewinckler Pfarrhause eine eigene lange Pfeife stehen hatte, verstand sich von selber. Augenblicklich hatte er dieselbe bereits zum zweiten Male gefüllt und dampfte stark weiter, immerfort mit der Hand das aromatische Gewölk von den Augen wegfächelnd, um über die Hecke nach dem Walde hin auszuschauen; und der Wald warf immer längere Schatten über die Wiesen und Felder, die ihn umgrenzten.

»Wenn mir nur die Alte, die da sicherlich immer noch auf ihrem Baumstumpf hockt, aus dem Sinne wollte!« seufzte der alte Eckerbusch. »Da meint der Mensch, er habe sich nun wohl allgemach in der Verdrießlichkeit und der Mangelhaftigkeit des Tages mit dem nötigen Humor sowohl zum Weiterleben wie zum Abschiednehmen versorgt und eingerichtet; aber hat sich was! – Alle Augenblicke kommt etwas Funkelnagelneues, auf welches er durchaus noch nicht gefaßt war. Dagegen sind die Streiche, die das Wetter dem Witterungskundigen spielt, gar nichts! Nun sitze ich hier, nachdem ich mich acht Tage lang auf das Hiersitzen gefreut habe, und habe auf dieses nichtswürdige Pfefferkorn von altem Weibe beißen müssen! Und dann das kleine Mädchen da im Hause, dessen Historie ihr mir vorgetragen habt; soll das den Sommerabend etwa behaglicher machen?... Und Windwebel!... Wenn ich nicht seiner kleinen Frau für ihn verantwortlich wäre, so möchte er meinetwegen laufen, so weit er wollte; aber das würde eine schöne Geschichte werden, wenn ich ohne ihn nach Hause käme. Leute, ich sage euch, es braucht jemand durchaus nicht an Gespenster zu glauben und kann im richtigen Moment und in der rechten Stimmung doch am ersten besten weißen Handtuch hinter der Tür oder der nächsten alten Weide irre werden. Was ist denn die Glocke?... Menschenkinder – wenn – er ihn umgebracht hätte?!«

»Aber Eckerbusch?!« rief das Gansewinckler Pastorenhaus.

»Gut stehe ich nicht dafür!« sprach der Vorsteher von Gansewinckel.

»Seht ihr wohl, der da übernimmt schon keine Bürgschaft«, fuhr der Konrektor mit dem Zeigefinger deutend immer erregter und hastiger fort. »Ich will gar nicht sagen, daß ers aus dem Blutdurst, den ihm die Gegend und Umgegend zutraut, getan hat; aber traue einmal einer einem Menschen in der Verwirrung! Ho, fragt da nur meine Jungen, wozu der Gutmütigste in der Aufregung fähig ist! Bei vollständig klarer Besinnung warf ich auch noch keinem den Vater Zumpt, den Onkel Madvig oder meinen Cicero de officiis an den Kopf.«

»Jawohl, dieses kenne ich auch, dieses verhält sich so«, versicherte der Vorsteher gravitätisch. »Unsereiner nimmt aber gewöhnlich lieber die Mistgabel oder einen Zaunpfahl, um der Welt Verstand beizubringen.«

»Mein Mann nimmt in solchen Fällen das Wort Gottes, die Heilige Schrift, Neddermeier«, rief die Frau Pastorin. »Ich aber, lieber Eckerbusch, ich und Ida, wir nehmen alle unsere Geduld zusammen und suchen durch Vernunftgründe einzuwirken, Eckerbusch!«

»Wenn nur nicht jede Bestie von Untier, die auf zwei Beinen geht und Nase, Auge und Maul am richtigen Flecke hat, sofort dächte, sie sei ein Mensch«, brummte der Vorsteher. »Jetzo unter uns Verständigen haben Sie gut reden, Frau Pastorin; aber es kommt alles zu seiner Zeit und nach seinem Gesetz, die Fliegen im August und die Wütenhaftigkeit, wenn sich sonst der Mensch keinen Rat mehr weiß. Erinnern Sie sich nur, Frau Pastorin –«

»Ich werde es Sie sofort wissen lassen, wenn ich mich in Ihr Wissen und Weissagen verliebt haben werde, Neddermeier«, entgegnete Frau Billa Winckler scharf, schneidig und kurz. »Bitte, Sie waren mit Ihren Beängstigungen noch nicht zu Ende, Eckerbusch. Aus was für einem Grunde, meinen Sie, könnte Horacker unserm Freunde Windwebel den Hals umgedreht haben?«

»Aus heller, purer Angst, Beste! Ich versetze mich ganz in seine Haut hinein und überlege, wozu ich nach allen seinen Erlebnissen und in seiner elendigen Verkommenheit fähig sein würde. Sie kennen mich, Winckler kennt mich, und ich kenne euch beide. Wer aber kennt überhaupt das Tier auf zwei Beinen, von dem der Vorsteher eben sprach? Jagen Sie mich, liebe Freundin, oder lassen Sie sich jagen, und jeder von uns zweien wäre imstande, wenn es möglich wäre, seinen eigenen Kopf dem Verfolger zwischen die Füße zu werfen, um ihn zum Stolpern zu bringen. Nun setze ich den Fall, dieser unglückselige Horacker glaubt in meinem langbeinigen Kollegen Windwebel das jüngste Gericht und unsern Freund Wedekind obendrein hinter sich zu haben; – Verzweiflung packt ihn, und er packt den Kollegen! Gütiger Himmel, was sollte ich seinem allerliebsten Weibchen sagen, wenn ich nach Hause käme ohne ihn? Und meine eigene Frau!... Medius fidius, würde die mir ein Gesicht machen, wenn ich ihren Freund Windwebel nicht mit hellen Knochen und ganzer Haut heimbrächte! Mehercle, ein anderes ist es, auf der Kegelbahn über einen unzurechnungsfähigen Menschen mit den übrigen Philistern zu lachen, und ein anderes ists –«

»Im Gansewinckler Pastorengarten drum ausgelacht zu werden«, sprach die Frau Pastorin. »Nehmen Sie es mir nicht übel, Eckerbusch, aber die Welt hat wirklich eine Kuriosität an Ihnen, und die Regierung begreife ich nicht; es ist jedenfalls sehr unrecht von ihr, daß sie, wie Christian da sagt, die Konrektoren eingehen lassen will.«

Nun lachte der Pastor von Gansewinckel, Christian Winckler, auch; aber es kam doch gedrückt heraus.

Er hatte sonst ein gutes, braves, lautes Lachen an sich; und zu reden und sein Wort ins Gespräch zu geben wußte er auch. Heute jedoch war und blieb er still und seufzte mehr, als daß er sprach und lachte. Was er sagte, machte immer den Eindruck, als ob er dabei an hunderterlei andere Dinge denke, und er dachte doch nur an eines. Mühsam erhob er sich nun, ließ den Freund im muntern Gefecht mit der Gattin, und schlich seufzend und kopfschüttelnd dem Hause zu; sie aber – sprachen sofort von ihm. Als er dann zurückkam und schweigsam seinen Platz wieder einnahm, warteten sie gewissermaßen scheu, daß er die Unterhaltung von neuem aufnehme, und hatten längere Zeit zu warten.

Endlich bemerkte er:

»Das Kind schläft immer noch; aber sehr, sehr unruhig.«

»Als ich vorhin bei ihm war, lag es still«, meinte Frau Billa.

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