Frei Lesen: Horacker

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Wilhelm Raabe

Horacker

Fünfzehntes Kapitel

eingestellt: 1.8.2007



Ein richtiger Geschichtenerzähler ist doch noch ein ganz anderer Potentat als vordem solch ein bramarbasierender König von Hispanien mit seinem lumpigen: In meinem Reiche geht die Sonne nicht unter!

Daß die wirkliche Sonne, die wahre Weltsonne in unserm Reiche nie ganz untergehen darf, versteht sich von selber; und die andere – ja die andere, die lassen wir eben nach unserm Belieben auf- und untergehen.

In diesem Augenblick scheint sie noch, wenn auch im Sinken, auf Gansewinckel und auf das schwarze Sammetkäppchen unseres gegenwärtigen Patriarchen beider Indien, nämlich des Gansewinckler Pastors Krischan Winckler. Es ist noch keine halbe Minute vergangen, seit er aus dem Hause zurückkam und die Gesellschaft in der Gartenlaube benachrichtigte:

»Das Kind schläft immer noch, aber sehr unruhig.«

»Als ich vorhin bei ihm war, lag es ganz still«, hat die Frau Billa bemerkt; und wir – wir folgen dem schönen, roten feurigen Strahl, den unsere zwei Sonnen in ein niedrig Fensterchen des Pastorenhauses zu Gansewinckel, ein Fensterchen dicht unter der Dachrinne, senden.

Da liegt das Kind, das eben ganz still lag und im Moment darauf recht unruhig schlief; – – in dem Augenblick, wo wir ihm nahe treten, liegt es wieder still, aber mit offenen Augen – auf der Seite, die Hände vor sich gefaltet, ganz regungslos. Es sieht; aber was sieht es? Wer weiß uns das Rechte zu sagen über diesen furchtbaren Ernst im Auge der Tiere, der Kinder und des Volkes, diesen schrecklichen Ernst, der uns Gebildete gewöhnlich nur dann wirklich überrascht und für längere Zeit bedenklich stimmt, wenn wir ihm in dem Auge eines Unglücklichen oder einer Unglücklichen unseres eigenen Standes begegnen?

Lottchen Achterhang sah gradeaus in den schönen Strahl, der von dem Meer von Sonnenuntergangsglanz da draußen über Wald und Feld, die Dächer des Dorfes, die Bäume des Pfarrgartens in die kleine Kammer glitt. Zerstückelte Bilder von wirklich Gewesenem und Geschehenem und dann wieder von bloß Erträumtem drängten sich durch ihren armen Kopf. Und je toller dieser Bildertanz war, desto unglaublicher erschien es ihr, daß sie je wieder Hand und Fuß arbeitsam, werklustig, diensteifrig, eilig, hastig, fröhlich werde rühren können wie vor so langer, langer Zeit.

Ja, vor so langer Zeit! Wie fern lag das alles zurück, was gewesen war, ehe sie diesen schrecklichen Weg antrat über die weiten, weiten Länder voll fremder Völker, von jenseits Berlin her bis hierher – zurück nach Gansewinckel, bis hinein in dies Kämmerchen, das ja auch vor so langer, langer, undenklicher Zeit ihr angewiesen Bereich gewesen war.

Jetzt fühlte sie ihre Füße, die auf der endlosen schrecklichen Landstraße sich so brav gehalten hatten. Sie schmerzten nun sehr; – und die Sonne unterwegs hatte es fast zu gut gemeint – die Nächte waren freilich um so kälter trotz dem Sommer und dunkler trotz der Sterne gewesen.

Was sagte doch der alte Mann, der sich in der verfallenen Ziegelhütte mit einem Male aus dem Stroh aufrichtete?

»Er redete mich mit seiner heisern Stimme ›Kamerad!‹ an, in der grauen, frostigen Morgendämmerung. Vielleicht hatte er es in seinem eigenen Elend gar nicht so schlimm gemeint mit seiner heisern Stimme; aber es war doch ein schrecklich Laufen durch das hohe feuchte Kornfeld auf dem schmalen Wege...«

»Das war der Weg, wo der Hamster sich aufrecht hinstellte und schnatterte und gegen mich anspringen wollte...«

»Es sind schlimme Tiere, wenn sie böse sind, hat Cord gesagt, aber der wußte all solch Ungeziefer zu nehmen; – das war noch das einzige, wofür ihn das Dorf gelten ließ...«

»Da schrie ich und rannte quer durch den Acker und trat das Korn nieder – der liebe Gott mag mir die Sünde verzeihen! Und der Nebel war so dicht. Da war doch die heiße Sonne wieder ein Labsal, als sie von neuem herauskam...«

»Jetzt stehe auch ich schon in den Zeitungen! Ganz gewiß! Der Herr Pastor Nöleke muß mich hineingesetzt haben! Ach Cord, Cord – jetzt werden wir gottlob beide zusammen mit den andern Spitzbuben in der weiten Welt gesucht!... Mein lieber Cord!«

»Also, bis hierher und nicht weiter, Sie Ungetüm?!« rief ganz um die nämliche Tageszeit der Zeichenlehrer Herr Viktor Windwebel unter den letzten Bäumen des Waldes, sich mit beiden Händen auf den Griff seines Stockes stützend. »Da sieht man mal wieder recht, was für ein Jammer es ist, wenn man einen Menschen zu gut auswendig kennenlernt! Ohne dieses würden mir Euer Liebden sicherlich immer noch Prügel zu verdienen scheinen. Nun, Mutter Horacker, was meinen Sie denn? Nehmen wir Rücksicht auf seine schamhafte Blödigkeit, oder zerren wir ihn ohne alle Rücksicht weiter?«

Das greise, zerlumpte Mütterchen, das den schlotternden Räuber auf der andern Seite mit seinen letzten Kräften aufrecht hielt, blickte den Zeichenlehrer mit einem gar kläglich bittenden Ausdruck an und meinte:

»O liebster Herre, Sie lachen ja doch nur über uns, weil Sie in Ihrer Seele über uns weinen, Sie dürfen dreist Ihr ganzes Leben lang Ihren Spaß über mich haben – Sie will ich doch nicht vergessen in meiner Sterbestunde wegen Ihrer Güte. Was haben Sie für eine Mühe gehabt mit dem Jungen – und mit mir in den Kauf den ganzen Weg über von Mäusebergs Bruche her! Wer in der weiten Welt sonst hätte so wenig wie Sie dafür genommen, solch einem Schmutzfinken, solch einem Lüderjahn, ja solch einem armen Menschen so ohne Ekel unter den Arm zu greifen? Aber dafür denken Sie an mich, wenn es Ihnen selber mal schlecht geht und schlimm zu Sinn ist; ja lieber, lieber Herr, wenn Sie an keinen König und keinen Kaiser mehr denken mögen, dann denken Sie nur an die Witwe Horacker!... Und jetzt, lieber Herre, tun Sie das Letzte an uns in der Barmherzigkeit: lassen Sie uns hier sitzen, mich und meinen Cord, gehen Sie die paar Schritte allein nach dem Dorfe und zeigen Sie dem Herrn Pastor an, daß wir da sind

Der Kollege Windwebel nieste, was dann und wann jemand aus sonderbarer Verlegenheit tut, jedoch ohne sich im mindesten seelisch dadurch zu erleichtern. übrigens war es nicht zu leugnen, daß er von Mäusebergs Bruche an noch seine liebe Not mit seinem Freunde Horacker gehabt hatte; und ohne die Witwe wäre die Drohung mit Böxendal doch mehrfach nicht kräftig genug gewesen, den Lumpen weiter zu bringen. Aber sie fanden die alte Frau noch auf dem Baumstumpf, . und das war am Ende doch die beste Hülfsgenossenschaft, die der Kollege auf seinem Wege nach Gansewinckel mit dem Räuber antreffen konnte. Die Alte gab ihre Tränen zur Aufmunterung im reichlichsten Maße drein, als sie sofort von der »andern Seite« zugriff.

»Hätte ich uns drei, wie wir damals Arm in Arm einherstolperten, in Lebensgröße in Öl, so wärest du heute die Frau eines der berühmtesten Männer der deutschen Nation, Hedwig!« hat nachher noch oftmals der Zeichenlehrer, sein Skizzenbuch durchblätternd, geseufzt. Wahrscheinlich jedoch nur, um noch einmal die Erwiderung zu vernehmen.

»Du bist mir auch so recht, Viktorchen.« –

Mit Stolpern, Fallen und Aufstehen gelangten sie, wie wir nun schon wissen, an den Rand des Waldes, und der Zeichenlehrer hatte nicht ein einziges Mal Zeit gefunden, sich mit den Lokalfarben und sonstigen Dinten der Landschaft zu beschäftigen. Erst das Licht, das vom freien Felde durch die letzten Baumstämme leuchtete, entrang ihm unwillkürlich den Ausruf:

»Gott, wie erquicklich!«

Was dann gesprochen wurde, haben wir berichtet. Der Räuberhauptmann lag wiederum lang ausgestreckt mit der Nase auf dem Boden, die Witwe Horacker kauerte neben ihm, immerfort einen Zipfel seiner Jacke haltend, und der Zeichenlehrer Windwebel erklärte sich – nachdem er zur Erleichterung geniest hatte – bereit, voranzugehen und Seiner Ehrwürden Christian Winckler zu verkünden, daß, wie die Witwe Horacker sagte, »wir da sind«. – – –

Langsamen Schrittes, erregt und stets noch über die Schulter zurückblickend nach dem zurückbleibenden Paar, stieg der Kollege vom Waldrande in den gegen das Dorf und zu der Heckentür des Pfarrgartens hinführenden Hohlweg hernieder. Aber sein Gang beflügelte sich um so mehr, als er das Holz weiter hinter sich ließ. Er hatte seinen langen Beinen am heutigen Nachmittage schon manches zugemutet; jetzo aber muteten sie ihm etwas zu, sie fingen ihm an von selber zu fliegen, und erst viel später hat er sich gefragt: »Wenn ich nur wüßte, weshalb ich damals so gelaufen bin?«

Seine langen Beine liefen in der Tat mit ihm weg und sein noch viel längerer Schatten ebenso eilig ihm vorauf.

»Da kommt er! Und wie ich es mir gedacht habe – solus! und als ob der Böse hinter ihm sei!« rief plötzlich der Kollege Konrektor Eckerbusch, von der Bank in der Laube emporfahrend, und alle fuhren ihm nach und mit den Köpfen in gespanntester, aufgeregtester Erwartung über die Hecke.

»Er stürzt!... Da liegt er!... Nein, gottlob!... Da ist er!«

Der Pfarrherr von Gansewinckel hatte seine Gartenpforte so weit als möglich auf- und dabei fast aus den Angeln gerissen; mit einem letzten, sechs Schritt weiten Satze schwang sich der neue Ankömmling, den Hut schwingend, herein:

»Hurra!!!«

»Was?... Hurra?...« fragte die anwesende Gesellschaft.

»Hurra!« wiederholte Windwebel, und dann stürzten sie sich sämtlich auf ihn, packten ihn hier und da, zogen ihn hierhin und dorthin, während ein jeder schrie: »So laßt ihn doch! Laßt ihn doch zu Atem kommen!«

Am gierigsten, ja sozusagen am giftigsten, bohrte natürlich der alte Eckerbusch auf ihn ein. Der hatte ihm seine beiden Daumen sofort in die obersten Knopflöcher der beiden Rockklappen geschoben und sich, wie es schien, auf Nimmerwiederloslassen an ihm festgekrallt. Und als ihn alle übrigen endlich freigegeben hatten, sägte er noch immer mit ihm – vorwärts und rückwärts schiebend, in die ereignisschwangere Gegenwart hinein:

»Haben Sie ihn wirklich, Kollege?«

»Ich habe ihn!«

»Ah!« sagte das Gansewinckler Pfarrhaus.

»Wo haben Sie ihn?« ächzte der Kollege Eckerbusch, und Frau Billa, von neuem ganz nahe sich andrängend und den Gastfreund am Rockflügel nehmend, rief:

»Ja, das möchte ich auch wohl wissen. So lassen Sie doch aber das Schütteln, Eckerbusch!... Und Sie, lassen Sie uns nun nicht länger zappeln, Windwebel! Wo haben Sie ihn, wenn Sie ihn, wie Sie sagen, haben?«

Nach Luft schnappend deutete der Zeichenlehrer mit einem seiner Daumen über die Schulter gegen den Wald hin, und sämtliche Augen folgten der Richtung.

»Ah!« sprach die Gesellschaft zum zweiten Male, aber jetzo mit einem so drolligen Gemisch der verschiedenartigsten Gefühle und Empfindungen, daß es an dieser Stelle mehr als an irgendeiner andern bedauert werden muß, daß eben sämtliche Leser nicht persönlich bei der Geschichte anwesend gewesen sind.

»Und darum schreien Sie so?« ächzte Frau Billa Winckler.

»Hm, hm«, murmelte der Pastor loci, an seinem Käppchen rückend, und fügte lächelnd nach einigem Nachdenken hinzu:

»Ei freilich, dort haben auch wir ihn in der Tat schon seit drei Wochen.«

»Ne, so was!« sprach Neddermeier, der Ortsvorsteher. »Ja, so sind die Herren aus der Stadt! Aber diesen Witz hat Böxendal, unser Kantor, auch schon losgelassen, Herr Zeichenprofessor.«

Was den Konrektor Eckerbusch anbetraf, so setzte der mit einem letzten Stoß den Kollegen fast in die Hecke des Gartens, ließ seinen Rockkragen mit einem letzten grimmigen Ruck los und setzte sich selber – ganz stumm.

»Ich bitte dringend um etwas Anfeuchtendes. Es ist mir absolut unmöglich, mich vorher auf irgendwelche Einzelheiten einzulassen. Das Nachlaufen war gar nichts, Herr Kollege; aber das Herschleppen – ich sage Ihnen, meine Herrschaften, das hatte seine Schwierigkeiten«, sprach der Kollege Windwebel mit aller Würde eines großen, aber noch verkannten Vollbringens. »Schleift, schiebt, hebt, schleppt, zieht und zerrt ihn mir einmal gefälligst von Mäusebergs Bruch bis dort an den Rand des Urwaldes. Ohne die Beihülfe der Witwe würde augenblicklich kaum noch etwas von mir übrig sein.«

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