Frei Lesen: Horacker

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Wilhelm Raabe

Horacker

Neunzehntes Kapitel

eingestellt: 1.8.2007



Im großen und ganzen verhält sich die Menschheit den Weltgeschichten gegenüber wie eine gute Hausfrau ihren häuslichen Vorkommnissen. Pathos kommt nur in sie hinein, wenn die Feiertagsglocke läutet und der Kuchen auf dem Tische steht oder wenn der Sarg auf die schwarzen Bänke gestellt wird. Dann geht es los; aber bis dahin rackert sie sich sehr unpathetisch ab und würde es auch gar nicht in diesem bänglichen Dasein aushalten, wenn dem nicht so wäre. Dem einzelnen freilich kommt dann und wann das Pathos schon unter den Vorbereitungen auf die großen Stunden und Krisen des Lebens. Werfen wir noch einen Blick in die dreiviertel Stunden nach der Ankunft des Staatsanwalts in das Dorf einwackelnde andere Kutsche: seit Fricke vom Bock sich niederbeugend mit dem Peitschenstiel auf das erste Licht in der Dämmerung von Gansewinckel gewiesen hat, ist Frau Hedwig Windwebel vollständig außer sich. Gänzlich von ihren Gemütsbewegungen überwältigt, liegt sie in den Armen der Frau Konrektorin Eckerbusch, die, im höchsten Grade gleichfalls aufgeregt, ihrem Pathos gleichfalls Raum gibt, aber ihrem ganz eigenen Pathos.

»Sie schwitzen, Neubauer, ich auch! Schwitzen Sie nur gefälligst weiter, Kollege; ich wollte, Sie müßten bis heute übers Jahr Angstschweiß schwitzen! Hier hängt mir das Kind ohnmächtig am Halse, und was zu arg ist, das ist zu arg. Hedwig, Hedwig, nur noch fünf Minuten lang Fassung! In fünf Minuten fahren wir den zwei frivolen Landstreichern auf die Köpfe, und meine Ansprache weiß ich gottlob auswendig. Verlassen Sie sich drauf, Neubauer; habe ich Ihnen den Weg über heiß gemacht, so werde ich jetzo auch meinen alten Katilina in der Laube im Pastorengarten drankriegen. Er soll schon in jeder Cicerostunde an mich und den heutigen Abend gedenken.«

»Ich auch!« murmelte der unglückliche Oberlehrer und Reisebegleiter. »Zugrunde geht ein jeder; aber wünschenswert bleibt es, daß es auf die einem jeglichen gemäße Art und Weise geschieht. Daß ich an dieser Lamia, dieser Venefica zugrunde gehe, ist bei Gott zuviel, ist Götterhohn, ist Parzenheimtücke!«

Lauter, aber ungemein schüchtern sprach er:

»Sie werden in der Laube kein Wort zuviel sagen, teuere Frau Kollegin, und jedes Wort werden Sie mir aus der Seele reden.«

»Was werde ich? Dummes Zeug! Nichts werde ich Ihnen aus der Seele reden! Wie mir der Schnabel gewachsen ist, werde ich sprechen. – Halt, Fricke! Halt Er einmal an. Heb den Kopf in die Höhe, Hedwig! Da sitzen die ersten beiden Gansewinckler auf den Bohlen bei der Sägemühle. Heda, ihr da! Hier mal her! Wer von euch kann mir Auskunft geben, was hier heute mit Horacker passiert ist?«

Es war ein Gansewinckler Liebespärchen, das der schrille, inquisitorische Anruf der Proceleusmatica von dem Eichenstamm bei der Sägemühle aufscheuchte und das nach einigem Zögern auch wirklich durch die Dämmerung an den Wagen herantrat:

»Na, was solls nun? Haben Sie uns vielleicht gerufen?«

»Wie es mit Horacker steht, frage ich.«

»O mit Horacker!... Den haben sie, Madam! Der sitzt!«

»Der sitzt?«

»Ja, in der Küche im Pfarrhause. Das wissen Sie doch wohl, daß das Lottchen Achterhang auch von hinter Berlin her mit einem Male wieder dagewesen ist? Es sitzt auch in der Frau Pastorin ihrer Küche.«

»Und der Herr Pastor und die Frau Pastorin? Und die – die Herren – aus der Stadt?«

»Die sitzen alle bei der Lampe in der Laube an der Gartenhecke. Das ist ja ihr Vergnügen so.«

»Sämtlich lebendig?«

»Man hört sie ziemlich weit über das Feld hin. Sie gehören wohl auch dazu?«

»Ein wenig!« sprach die Kollegin Eckerbusch. »Fahrt zu, Fricke, und fahrt womöglich leise. Was eine Überraschung sein soll, das muß auch eine bleiben bis zum Ende. Nun, Hedwig?«

Die kleine Frau antwortete fürs erste nicht. Sie schluchzte ganz leise an der Brust der guten alten Freundin, bis sie sich mit einem Male aufrichtete, gradesetzte und mit einem langen, tiefen Seufzer rief:

»O, es ist abscheulich; aber – ich bin zu glücklich!...«

Nach einer Pause setzte sie hinzu:

»Ich werde es Viktor aber doch sagen.«

»Ei sehen Sie mal, Liebe!? Habe ich es Ihnen nicht schon gesagt? Qwusqwe abbuttereh Patienziam Catilinam? Sie werden es noch lernen müssen, Herz, mit mehr Ruhe als heute Patience im Ehestand zu legen. Seien Sie aber mal ein halb Jahrhundert an unserm Gymnasium mit angestellt, so werden Sie Ihr Leben allmählich wohl auch wegkriegen und Ihre alten Griechen, Römer und sonstigen Klassiker zitieren lernen. Es ist leider Gottes leichter, als man es sich als junges Mädchen vorstellt. Nun, Sie junger Klassiker da auf dem Vordersitz?!«

Der junge Klassiker auf dem Vordersitz, Rhapsode der Sechsundsechsias, Oberlehrer und Doktor der Philosophie Neubauer, hatte sich gleichfalls aufrechter hingesetzt. Die Arme über dem Busen ineinanderschlagend, überlegte er folgendes:

»Scheußlich! Wahrhaft lächerlich scheußlich! Aber auch dieser entsetzliche Nachmittag war mir an meiner Wiege vorausgesungen. Zusammengepfercht mit diesen beiden abgeschmackten Kreaturen, Knie an Knie mit all dieser Weiberimpertinenz und Thalamusverzweiflung habe ich den bestens motivierten Selbstmord nicht begangen, und totus, teres atque rotundus, unversehrt, glatt und rund geht der Weise auch aus diesem Gezeter und Gewinsel hervor. Aber nun kriege mich eine dran! Vates sum et poeta, ein Herzenskündiger und Dichter; – geheiratet wird nicht – nie – nimmer! So führt das Schicksal die Berufenen durch die Trivialität der Tage zur Erkenntnis. Ein vollständig liebenswürdiger Ehemann kann nur der sein, welcher seinen ganzen Egoismus in seiner Frau konzentriert, und so ist ein wirklicher Poet noch nie ein ganz und gar liebenswürdiger Gatte gewesen, sondern gewöhnlich ganz das Gegenteil. Schützet auch fürderhin euern Sohn, alle ihr Musen; die alte Schachtel und Stadtkupplerin da laßt mir jetzt nur noch einmal kommen mit ihren Andeutungen, Anspielungen, Vorschlägen und Insinuationen! Bei einem lächelnden Abwehren wird es wahrlich in Zukunft nicht verbleiben. Trocken werde ich ihr meine Meinung über ihr insipides Geschlecht sagen, und – so bin ich jedenfalls nicht ganz ohne Nutzen von diesen zwei Gänsen mit nach Gansewinckel geschleift worden.«

Währenddessen war Fricke weiter durch das friedliche Dorf gefahren und fuhr nun durch den Dorfbach, und zwar über die armen Schuhe, die Lottchen Achterhang auf ihrem mitleidswürdigen Wege durchgelaufen hatte. Noch ein Ruck, Knarren und Ächzen, und die Grüngelbe hielt vor dem Gansewinckler Pastorenhause. – Frau Hedwig Windwebel hatte schon längst den Griff der Wagentür mit zuckender Hand gehalten. Ehe die beiden Gäule zum Stillstand gebracht waren, hatte sie die Tür aufgeworfen und war im Begriff, zuerst sich hinauszustürzen, als sie von der ältern Kollegin am Rock ergriffen und zurückgezogen wurde:

»Sachte, Kindchen! Daß er noch da ist, wissen Sie ja jetzt auch; und jetzt lassen Sie ruhig zuerst den Herrn Kollegen aussteigen; es ist immer ein Trost, einen gewandten, liebenswerten Menschen als Kavalier bei sich zu haben. Vorsichtig, Neubauer! nehmen Sie mir die Kleine in acht!... So, da stehen wir, und Sie fahren ohne alles Aufsehen so still als möglich nach dem Kruge, Fricke. Euch aber, Kinder, bitte ich nun um Gotteswillen, verderbt mir den Effekt nicht; leise, leise durch das Haus, Hedwig. Auf den Zehen – bitte, auf den Zehen, Neubauer, daß wir ihnen wie der Weltuntergang über den Hals kommen. O, jetzt will ich ihn beproceleusmaticussen! Sie machen ganz hübsche Verse und Gedichte, Kollege, also bitte ich Sie, gehen Sie auf den Zehen, tun Sie mir die Liebe an und gehen Sie leise, wie die Rache kommt, auf daß Sie uns nachher recht ordentlich in der Poesie und Metrik anbringen können. Die ganze Gesellschaft sitzt richtig in der Laube und denkt mit keinem Gedanken an uns, und es würde ein Jammer sein, wenn sie uns nun noch zuallerletzt auf dem Hausflur vorauswitterten. Leise, Kinder, leise, auf daß wir doch irgend etwas für die Blamage haben und teilweise wenigstens auf die Kosten für den Weg kommen. Sie sitzen, Gott sei es gedankt, bei der Lampe, daß ich das Gesicht meines Alten sehen kann. Du lieber Himmel, bis jetzt habe ich wahrhaftig gar nicht gewußt, daß es solche Gefühle wie die meinigen jetzt in solcher Vollkommenheit in der Welt gibt!«

»Ich auch nicht! Ach Gott, ich bin zu glücklich!« schluchzte Frau Hedwig.

»So halte deine liebe Seele nur noch einen einzigen, winzigen Augenblick zusammen, Herz. Was in ihr vorgeht, brauchst du mir nicht weitläufig auseinanderzusetzen. Ja, wir haben sie noch auf dem Halse, und sie werden uns das Leben hoffentlich noch recht lange sauer machen. Bitte, auf den Zehen, Neubauer, und dann wie ein Donnerschlag ihnen über die Köpfe.«

»Sie wissen, wie ich alle Ihre Gefühle teile, und mit welchem Vergnügen ich allen Ihren Intentionen folge«, lächelte der Kollege Neubauer, und es war gottlob wieder sein altes Lächeln. Es muß auch solche Lächler geben, und es wäre wirklich recht schade gewesen, wenn es ihm auf dieser Fahrt nach Gansewinckel gänzlich abhanden gekommen wäre und ihn niemals wieder dem Kreise seiner Bekanntschaft so unwiderstehlich angenehm und behaglich gemacht hätte.

Nun schlichen sie in der Tat über die Flur des Gansewinckler Pastorenhauses: die beiden Damen voran, der Kollege hintendrein! Ungehört und ungesehen gelangten sie durch das Haus. Niemand sprang zu ihrer Begrüßung vor, und wir – wir lassen sie schleichen und halten es für das beste, uns gleichfalls mit den übrigen in der Laube von ihnen überraschen zu lassen. Daß es auf dem Wege Rechtens geschieht, davon sind wir sämtlich hoffentlich fest überzeugt. –

Sie brachten ihn inmitten einer bunten Gruppe in die Laube des Pfarrgartens und somit wieder unter Menschen – Horacker nämlich. Sie umdrängten ihn alle und hätten ihn beinahe wieder einmal, noch einmal, über den Haufen geworfen. Eine Hauptperson jedoch – das Lottchen nämlich, ließ sich nicht von ihm abdrängen; sie hielt ihn umfaßt und aufrecht, auch dem Vorsteher Neddermeier und der Frau Billa gegenüber.

»Entsetzlich! So habe ich ihn mir doch nicht gedacht!« kreischte die letztere, die Hände über dem Kopfe zusammenschlagend. »Menschenkind, Menschenkind, das sollte ja einen Stein erbarmen, wie du aussiehst! Christian, ich bitte dich! Vorsteher – Sie, Eckerbusch, ist es denn möglich?«

»Es ist sehr vieles in der Welt möglich; wir in unserer Abgeschiedenheit erfahren nur nicht immer etwas davon«, sagte der weise alte Eckerbusch. »Fragen Sie nur Windwebel darnach; der ist weit herumgekommen.«

»Er muß gleichfalls auf der Stelle zu Bett! Es muß augenblicklich ein Bote nach dem Doktor geschickt werden; und du, Lotte, da du, was auch ein Wunder ist, noch oder wieder auf den Beinen bist, laß nur sofort in der Küche von neuem unterheizen, und so viel Wasser als möglich aufstellen. Halt! wir wollen lieber gleich im Waschhause Feuer anmachen. In der Küche soll mir sofort für eine Hühnersuppe gesorgt werden. Laß nur gleich drei abkehlen; denn dies sollte doch wirklich einen Stock zum Heulen bringen; mein Lebtage denke ich nicht wieder in der Kirche an etwas anderes beim Gleichnis vom verlorenen Sohn, Christian!«

»Im Spritzenhause wird er wohl am sichersten aufgehoben sein, bis er nach der Stadt an die Behörden avisieret ist«, meinte der Vorsteher; aber schon war er beiseite geschoben – der Vorsteher Neddermeier nämlich.

»Im Spritzenhause?!... Hätten Sie selber ihn sich aus dem Holze geholt, meinetwegen. Im Spritzenhause? Fürs erste habe ich ihn hier auf der Pfarre. Im Spritzenhause! O ja, zu Neujahr können wir ja darüber weiterreden; aber jetzo setzen Sie sich gefälligst wieder hin, Vorsteher, und kümmern Sie sich nicht um Dinge, die Sie augenblicklich gar nichts angehen. Setze Sie sich auch, Horackern; Sie ist die Mutter, und ich weiß wahrhaftig, was das heißt unter diesen Umständen. Drängt doch nicht alle so heran! Sei vernünftig, Lotte. Sprich du ihr doch zu, Christian.«

Das versuchte nun Christian Winckler nach bestem Vermögen, und auch Eckerbusch und Windwebel gaben manch gutes Wort dazu; aber es blieb eine Viertelstunde lang doch nur ein Hineinreden in ein verworren Getöse. Die Hausgenossenschaft nahm natürlich vom ersten Moment an den innigsten Anteil an allen Vorgängen; und dann brach – – wie gesagt, auch das Dorf herein:

»Horacker ist wieder da!«

Kopf an Kopf guckte es über die Hecke, und der Gemeinderat kam, Böxendal kam, und Lottchen Achterhang schluchzte nicht ohne einigen Grund:

»O Cord, lieber Cord, wenn sie uns umbringen, so bringen sie uns beide um. Schäme dich nur nicht, Cord; ich schäme mich auch nicht. Laß sie uns nur totschlagen: ich bin auch nur dazu so weit hergekommen, als du aus der Zeitung vorgelesen wurdest, Cord. Der Herr Pastor und die Frau Pastorin sind mein Zeuge.«

»Ich bezeuge gar nichts, als daß du eine Gans bist, Lotte –«

»Und ein gutes Mädchen«, fiel der Pfarrer von Gansewinckel ein, »und jetzt, lieber Neddermeier, wer von uns beiden ist wohl am ersten imstande, unsere guten lieben Nachbaren und Freunde zu versichern, daß sie jetzt alles gesehen haben, was fürs erste hier zu sehen war, – daß unser Horacker in der Tat wieder zu uns zurückgekehrt ist und daß Sie und ich unbedingt dafür sorgen werden, daß er nicht ohne Nutzen für sich und die Gemeinde – ja, nicht ohne Nutzen –«

»Diese Abwechselung in unser idyllisches Dasein bracht hat!« rief der Konrektor Eckerbusch. »Erlaube, Krischan, – bemühen Sie sich nicht, Vorsteher; ich wünsche endlich doch auch einmal wieder zu einem Worte zu kommen! Führen Sie den Räuberhauptmann, den Furcifer Rinaldini und seine Rosa ruhig ab in die Küche, nehmen Sie die Witwe Horacker mit; – atzen Sie, waschen und frisieren Sie ganz ruhig das Untier, wie Ihr freundliches Herz Sie treibt, Frau; – die paar freundlichen Worte, die hier coram publico, vor dem Dorf und dem umliegenden Universo, zu sprechen sind, nehme ich auf mich. Helfen Sie mir auf die Bank, Windwebel, daß die Leute mich auch sehen können.«

»Unsereiner ist doch heute wie gar nicht auf der Welt«, brummte Neddermeier.

»Wenn du es wünschest, lieber Eckerbusch«, sprach der Pastor ein wenig bedenklich, »so rede du.«

»Ja, reden Sie, Eckerbusch! Sprechen Sie mir mal recht aus der Seele, alter Freund. Sie kann ich gebrauchen!« rief die Frau Pastorin, den Räuber und mit ihm das Lottchen, die Witwe, sowie Pfarrknecht und Pfarrmagd dem Hause zuziehend.

»Steigen Sie dreist auf den Tisch und sprechen Sie deutlich, Eckerbusch!« rief sie noch von den Stufen der in den Garten führenden Tür zurück, und – Eckerbusch stand bereits auf dem Tische und redete wirklich recht verständlich zu dem versammelten Gansewinckel. »Die Vorsehung hat ihn persönlich an dem Tage zu uns geschickt«, sprach späterhin noch sehr häufig das Gansewinckler Pfarrhaus. »Er versteht es.« – »Daß sie ihm ohne gegründete Ursachen in den obern Regionen so sehr aufsässig sind, ist doch wohl auch nicht anzunehmen«, pflegte der alte Krischan kopfschüttelnd und lächelnd hinzuzufügen. »Nämlich daß er zu reden versteht, wenn er will, das ist ja bekannt.«

Daß der Herr Konrektor Eckerbusch mit dem Talent begabt war, allerlei menschliche und tierische Kreaturen nachzuahmen und sie in Leid und Freude zur Darstellung zu bringen, ist uns gleicherweise bekannt: einem krähenden Hahn hatte er noch nie so sehr geglichen als jetzt in diesem spannungsvollen Moment.

»Gansewinckler!« krähte er los. »Anwesende Bevölkerung von Gansewinckel; in Kaschmir, wo die Wiege der Menschheit stand – ne, das ist doch wohl ein wenig zu weit hergeholt und würde uns ebenso ein wenig zu weit wegführen! Denn nicht bloß um zu reden, rede ich zu euch, sondern auch um von euch angehört und womöglich verstanden zu werden. Daß ihr allesamt, soviel ihr euch die Nase putzt oder euch putzen laßt, gewiegte Leute seid, weiß die Welt, und in Kaschmir haben wir nichts zu suchen. Also, liebe Freunde und alte gute Bekannte, tut mir die Liebe und haltet wenigstens fünf Minuten lang den Mund. Vor allen Dingen drängelt nicht zu sehr, und ihr da jenseits der Hecke laßt das Johlen, und dann laßt mir wenigstens einen Augenblick lang die Jungfern in Ruhe; das Kreischen und Gekicher kann kein Mensch aushalten. Wo ist Böxendal?«

»Hier, Herr Konrektor Eckerbusch«, sprach der Gewünschte aus dem Haufen hervor. »Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Treten Sie gefälligst hervor, Kollege, – kommen Sie gefälligst näher hier an den Tisch. Auf den Stuhl will ich Sie aus pädagogischen Rücksichten nicht steigen lassen. Sie, der Sie durch Generationen das Dorf von der Rückseite kennen und erzogen haben, muß ich unbedingt in diesem Moment mir gegenüberhaben. Erlauben Sie mir, lieber Kollege, daß ich auf Sie hindeute und die Anwesenden frage: Kennt ihr ihn?... Ich sehe Gesichter um mich, welche ›Ja‹ sagen. ich sehe trotz der zunehmenden Dämmerung mehr als einen, der die Schultern zusammenzieht und mit der Hand nach dem – Rücken greift, und glaube nicht, daß dieses ›Nein!‹ heißen soll.

Gansewinckler! Hier unter den Augen eueres würdigen, wohlverdienten Herrn Lehrers, hier vor der Nase meines werten, lieben Kollegen, eueres trefflichen, von seinen vorgesetzten Behörden so hoch und von euch leider Gottes lange nicht genug geschätzten Herrn Kantors Böxendal habt ihr wirklich die bodenlose – Unbefangenheit, euch über meinen Freund und euern profugus Horacker zu erheben?! Hier vor Böxendals Nase wagt ihr es wirklich, von Halunken, Schubbejacks, Spitzbuben, Taugenichtsen zu reden?! Reden Sie, lieber Böxendal!«

»Mein hochverehrter Herr Konrektor, wenn ich behaupten sollte –«

»Sagen Sie kein Wort, Kollege! Ich weiß, was Sie sagen wollen, und das genügt. Jetzo ist es freilich Abend, und die Dunkelheit nimmt zu; aber ich bin wahrhaftig oft genug bei Tage, bei hellem, lichtem Tage, sonntags und alltags, hier nach Gansewinckel herausgekommen zu meiner Erquickung, und ich habe mich jedesmal erquickt. Ich kenne die Visagen rundum hier in der Dämmerung sämtlich. Treuherzige Natürlichkeit, biedere Offenherzigkeit, ungeschminkte Ehrlichkeit, ursprüngliche Einfalt, ungesuchte Artigkeit und vorzüglich Unschuld und Tugend lächeln mich vor allem an; und – mein werter Kollege Böxendal – oft, oft, wenn auch ich gezwungen war – weil es gar nicht anders ging – drunterzuhauen, habe ich an Sie gedacht und – Stärke aus dem Gedanken an Sie geschöpft, Kraft mir draus geholt!

O Ho – racker und kein Ende! Hier stehe ich und frage euch noch einmal in aller Güte: Kennt ihr den alten Eckerbusch? Wollt ihr nun gefälligst euch ohne Aufsehen einer hinter dem andern wegschleichen oder wünscht ihr wirklich, daß ich noch deutlicher werde? Da sehe ich zum Exempel den Vetter Schaper grinsen. Na na, soll ich dem mal genauer auseinandersetzen, was ein Holzhandel ist und daß doch auch so ein alter Stadtschulmeister am Ende noch den Unterschied zwischen Malter und Klafter kennt? – Da geht er hin nach Hause!...

Kinder, Kinder, daß ich in den Literaturen Bescheid wissen muß, das seht ihr mir an der Brille an; aber was Dorfgeschichten sind, weiß ich auch recht gut, und vergeblich bin ich nicht meine ganze Lebenszeit hindurch zu euch hinaus gelustwandelt. Wißt ihr, was dabei herauskommt, wenn man einen Schulmeister zu sehr ärgert? Da steht Böxendal, mein Kollege. Sprechen Sie mal, Kollege.«

»Wenn ich behaupten dürfte, verehrter –«

»Hintenauf! Da haben Sie vollständig recht! Und mit Nachdruck. Ich bin da ganz Ihrer Ansicht. Jawohl, meine Lieben, auch ich könnte auf der Stelle von diesem Tische heruntersteigen und auch mehr als eine Dorfgeschichte schreiben, und zwar nach Gebühr, Recht und Billigkeit und mit Nachdruck mehr als einem von euch hintenauf!... Herrje, Base Guckup, sehe ich Sie auch einmal wieder? Habe ich das Vergnügen? Nun, meine Frau läßt Sie recht schön grüßen, und wenn Sie mal wieder einen recht alten, tranigen Gänserich zu verhandeln hätten, so möchten Sie doch ja – da geht sie hin; und ich erfahre auch heute noch nicht, wie sie es eigentlich angefangen hat, die unmenschliche Menge Kleie zur Verbesserung des Gewichtes dem unglücklichen, nichtswürdigen Gerippe von Vandalenkönig in den Bauch zu praktizieren! O ja, Horackern haben wir gottlob wieder; aber ich erblicke da in der zunehmenden Dunkelheit hier und da jemanden, der uns leider Gottes noch niemals abhanden gekommen ist; und damit bin ich auf dem Punkte angekommen, allwo ich den Vorsteher, meinen alten Freund Neddermeier, der sich da eben hinter dem Ohre kratzt und mir recht gibt, die Frage vorlege, von wem in seiner Gemeinde hier in Gansewinckel er mit Gewißheit weiß, daß er dermaleinst als Engel auffliegen werde?! Nehmen Sie sich Zeit zum Besinnen, Neddermeier, und vergessen Sie ja nicht sich selber in der Berechnung.«

»Herr Konrektor, in meinem ganzen Leben –«

»Ist es Ihnen noch nicht so klar wie jetzt geworden, daß die Statistik eine ganz besondere, eine ganz kuriose Wissenschaft ist. Windwebel, der Pastor steht hinter Ihnen – treten Sie beiseite und lassen Sie mir meinen alten Freund Krischan Winckler heran –«

»Jetzt aber bitte ich dich, Eckerbusch« – rief der Gansewinckler Pfarrherr, kam aber auch nicht weiter.

»Bitte mich nicht, sondern sei versichert, daß es ein wahres Glück für deine Gemeinde ist, daß die Finsternis der Nacht die beschämten Wangen der dir anvertrauten Herde deinen Blicken allgemach entzogen hat. Gansewinckler, wer von euch jetzo noch sich wegschleichen will, der tue es rasch; denn nunmehr werde ich ein Wort über den einzigen Engel unter euch reden – da geht er schon hin, wahrscheinlich um in der Küche nachzusehen, was sie da eigentlich mit Horacker anfangen! – Und die Nacht kann nicht zu dunkel werden, um euere Schande zu bedecken, ihr dreidoppelten Horackers von Gansewinckel!... Gottlob, daß er gleichfalls abgegangen ist! – Nun sind wir unter uns, und einer braucht sich seinetwegen keinen Zwang mehr aufzuerlegen. Also – noch einmal zu euch, Geliebte! Was? Einem Menschen wie dem, der uns da eben den Rücken wendet, weil er sein Lob nicht anhören will, wollt ihr das Vergnügen, an euerem irdischen und ewigen Heile zu arbeiten, noch ein bißchen mehr verderben? Wollt ihr sein Leben, das er unter euch abzuarbeiten hat, noch sauerer machen, als ihr es ihm bis dato gemacht habt?! Weil er nach seinem braven Herzen kein Mammonsgelüst fürderhin sich zwischen ihn und euere hartgesottenen Sündergemüter drängen lassen will, kommt ihr ihm mit euern alten Papieren und Gerechtsamen? Rückt ihr seinem guten Weibe, euerer euch von Gott vorgesetzten Seelenhirtin, auf die Stube und verderbt ihr den Charakter noch mehr?! Verlassen Sie sich drauf, Kollege Böxendal, ich helfe Ihnen zu Neujahr singen. Verlaßt euch darauf, meine Teuern rund um den Tisch, zu Silvester bin ich da und gratuliere mit! Mit einem Stück Papier werde ich wahrhaftig nicht zwischen euch und meinen alten Freund Krischan Winckler kommen. Habe ich etwa nicht auch Theologie zustudiert, und hing es nicht etwa nur an einem Haar, daß – ich, der alte Konrektor Eckerbusch, Pastor allhier zu Gansewinckel wurde? Wahrlich ich sage euch: wie ein anderer dann und wann sich sehnt, mit der Sonne über dem Kopfe sich im Gras, Klee und Thymian zu wälzen, so lechze ich bei dieser Gelegenheit, mich wieder mal so recht in – was andres zu legen... Da gehen sie hin!... Alle! Und sie wissen alle recht gut, weshalb sie sich wegschleichen!... Wollen Sie wirklich uns auch schon verlassen, Neddermeier?«

»Wenn ich gewiß wüßte, daß Sie mich noch nötig hätten, so bliebe ich wohl noch – alle Wetter noch mal!« brummte der Vorsteher. »Sie könnens freilich, Herr Konrektor; das muß Ihnen jedermann lassen. Aber da ja wenigstens Horacker jetzo in guten Händen ist, so meine ich, wir lassen das übrige auf sich beruhen; denn da ist meine Meinung, daß da jede Partie sich Zeit nimmt und erst einen Affokaten und dann Ihr Gewissen fragt.«

Er ging und nahm den Rest des Dorfes mit.

»Mir haben Sie vollkommen aus meiner Seele gesprochen, verehrter Herr Konrektor«, sprach der Kantor Böxendal. »Sie wissen wirklich, was der Mensch ist und welche große Geduld der Herrgott, sein Schöpfer, mit ihm haben muß. Sie wissen genau, wo der Punkt ist, allwo die Rachsucht in die Dämlichkeit übergeht, und nur zwei Punkte tun mir leid.«

»Und was für zwei Punkte, Herr Kantor?« rief der Kollege Windwebel.

»Erstens, lieber Herr, daß wir den alten Unrat überhaupt umgewendet haben; und zweitens, daß meine Frau nicht anwesend war, um dieses mit anzuhören. Auch sie ist außer sich.«

»Ob unsere Weiber in dieser Stunde wohl gleichfalls außer sich sind? Was meinen Sie, Windwebel?« fragte Eckerbusch. »Die Proceleusmatica hätte ich übrigens in der Tat ebenfalls gern hier gehabt, um – dieses anzuhören.«

»Wie kommen wir nach Hause? Wann kommen wir nach Hause? Und was werde ich meinem armen Mädchen sagen?« murmelte der jüngere Ehegatte in nicht ungerechtfertigter Beängstigung.

»Da fragen Sie doch lieber erst ihr Gewissen und nachher erst – mich!« grinste der ältere, abgehärtetere Bösewicht, dieser – mit einem Wort, dieser »Eckerbusch«, den leider »die ganze Stadt richtig taxierte«, wie die soeben innig herbeigesehnten bessern fünf Sechstel seines Daseins dann und wann behaupteten.

Aber seine Gartenlampe unter weißer, geschlossener Glaskuppel tragend, tritt jetzt der Pastor wieder aus dem Hause. Er leuchtet in den lieblichen Sommerabend hinein und verbirgt sein Erstaunen, seinen Garten leer und den Freund Eckerbusch, den Kollegen Windwebel und seinen Kantor allein noch in der Laube vorzufinden, nicht. Er leuchtet nach allen vier Weltgegenden hin und sodann mit hochgezogenen Augenbrauen seinem Freunde Eckerbusch in freundliche, aber etwas verkniffene Antlitz. Zögernd setzt er zuletzt seine Lampe auf dem Tische ab; und endlich sagt er:

»Unser Horacker schlingt noch immer. Ich sah ihn fressen, und der Anblick hielt mich fest. Was aber ist hier vorgegangen, lieber Böxendal? – Eckerbusch, ich befürchte –«

»Befürchten Sie nichts, Herr Pastor«, rief der Kantor. »Es war nur schade, daß Sie nicht blieben, als der verehrte Herr Konrektor auf Sie kam! Ich bin überzeugt, auch die Frau Pastorin würde sich gefreut haben, wenn sie es mit angehört hätte. Die Leute sind ganz still nach Hause gegangen, nachdem der Herr Konrektor über Sie und mich, sowie auch über das Vierzeitengeld das Notwendige bemerkt hatte, und es war wirklich Zeit, daß die Gemeinde endlich einmal auf das Notwendige aufmerksam gemacht wurde.«

»Ich habe ganz einfach dich unmenschlich herausgestrichen, Krischan, und deiner Bocksherde, deiner Gansewinckler Bauernschande mit möglichstem Phlegma angedeutet, daß ich an deiner Stelle ihr sicherlich die Pansflöte in einem andern Tempo vorblasen würde. Wie du siehst, hat das Wort meines Mundes gefruchtet. Daß deine Frau nicht anwesend war, tut mir selber leid.«

Der Pfarrherr schob immer bänglicher das Käppchen auf dem Schädel hin und her:

»Bist du ganz sicher, Eckerbusch, daß du mir da kein Gericht zusammengerührt hast, an welchem ich bis zu meiner Emeritierung zu würgen haben werde?«

Der Konrektor murmelte etwas von »Reisbrei mit Orgelklang«, und bedenklich war es jedenfalls, daß jetzt plötzlich auch Böxendal, aus würdigst-ernstem Nachsinnen sich erhebend, mit gravitätischem Kopfschütteln um die Erlaubnis bat, sich gleichfalls nach Hause begeben zu dürfen.

Er ging. Er schritt hinweg und machte von der Tür der Kantorei aus, wie erzählt wurde, dem einfahrenden Staatsanwalt die ersten Mitteilungen über die augenblicklichen Zustände Gansewinckels.

»Nun, eine Beruhigung wenigstens nimmt mir keiner«, sagte der Pastor. »Wir haben meinen armen Horacker in Sicherheit, und das ist die Hauptsache. Das übrige wird sich mit Gottes Hülfe und dem alten Gellert wohl auch allgemach zurechtlegen lassen. Ich danke Ihnen vor allen nochmals recht freundlich, lieber Windwebel.«

»Mir?« fragte der Zeichenlehrer im äußersten verwundert. – – –

»In Ihrer Küche haben Sie ihn sitzen, Frau Billa?« fragte nur ein wenig später am Abend der Staatsanwalt. »Famos! Und hoffentlich hat sich ganz Gansewinckel durch Okularinspektion überzeugt, daß wir ihn haben?! Die ganze Umgegend müßte man eigentlich von Amts wegen herzurufen!... Guten Abend, Eckerbusch. Guten Abend, mein bester Herr Windwebel; – das sieht hier ja ganz gemütlich aus, Winckler! Weiß denn der Vorsteher Bescheid, meine Herren?«

»Den hat Eckerbusch längst nach Hause geschickt«, rief die Frau Pastorin. »So sicher wie in seinem Spritzenhaus ist er unter unsern vier Augen gleichfalls aufgehoben, außerdem daß auch seine Mutter und mein Lottchen mit auf ihn passen. Was will denn Neddermeier mit seinem Spritzenhause, was ich nicht ebensogut besorge zum Besten der öffentlichen Sicherheit und allgemeinen Moralität?«

»Sie scheinen mir in der Tat nicht zu wissen, Beste, was man in der Stadt behauptet.«

»Nun?«

»Man weiß es sogar ganz gewiß, daß er nicht nur den Herrn Konrektor Eckerbusch, sondern auch den Herrn Zeichenlehrer Windwebel totgeschlagen hat.«

Der Konrektor Eckerbusch tat einen Sprung; der Kollege Windwebel jedoch setzte sich:

»Barmherziger Himmel – Hedwig!«

»Lassen Sie uns demnach zur Aufnahme des Protokolls schreiten, Nagelmann«, sprach der Staatsanwalt, sich melancholisch zu seinem jüngern juristischen Amtsgenossen wendend. »Den Vorsteher werden wir uns doch wohl wieder herzitieren lassen müssen; meinen Sie nicht? Man führe mir den Verbrecher vor!... Das ist in der Tat ein balsamischer Abend, Winckler.«

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