Frei Lesen: Pfisters Mühle

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Wilhelm Raabe

Pfisters Mühle

Drittes Blatt

eingestellt: 4.8.2007



Ich klappte das dumme Zeug zu, und es hatte wirklich keiner weitern Überredungskunst und Kraft bedurft, um mich dazu zu bewegen. Emmy hatte für den heutigen Morgen ihr und also auch mein Plätzchen in einer zerzausten Laube dicht am Flusse gewählt, wo man im Schatten saß und das Licht auf dem muntern Wasser und den Wiesen drüben im vollen Morgenglanze vor sich hatte.

Die Wildtauben gurrten über uns, im Schilf schnatterte eine Entenschar, hielt uns fest im Auge und achtete auf die Bissen, die von unserm Frühstückstische für sie abfielen. Ein Storch ging am andern Ufer in der Sonne spazieren, und Emmy sagte:

»Guck mal den! Eine volle halbe Stunde schon achte ich hier allein in der Einsamkeit auf ihn, und manchmal guckt er auch hier herüber, als wollte er sagen: Siehst du, ich stehe nicht bloß im Bilderbuche und sitze im Zoologischen Garten gegen eine halbe Mark Eintrittsgeld an Wochentagen, sondern -«

»Ich bin eine Wirklichkeit, eine wirkliche, wahrhaftige Wirklichkeit, und ich fange auch nicht bloß Frösche, sondern Kinder; und weise Frauen und nicht bloß gelehrte, sondern auch kluge Männer wollen nicht bloß nach der Tradition, sondern auch aus eigener Erfahrung als ganz gewiß wissen -«

»Du, höre mal, närrischer Dummrian«, meinte meine neunzehnjährige blonde Matrone, mich jetzt ihrerseits wieder unterbrechend, aber dabei doch noch ein wenig mehr sich annestelnd, »mit den Kindergeschichten und Märchen, und was deine überweisen Frauen und naseweisen Männer aus der Erfahrung und der Naturgeschichte und der eigenen Tradition wissen wollen, rücke jetzt meinetwegen eine Bank weiter. Die Auswahl haben wir ja; und ich habe auch darüber den ganzen Morgen in meiner verlassenen Einsamkeit mir allerlei Gedanken gemacht. Herzensmann, eine schöne Wirtschaft müßt ihr hier vor meiner Zeit doch geführt haben!«

»Eine wunderschöne - wunderbare - wundervolle, Kind!«

»Das sieht man den Ruinen noch an; und es tut dir heute natürlich nicht im geringsten leid, daß ich damals nicht auch schon mit dabeiwar wie die Jungfer Christine und euch diese wunderbare, wunderschöne, wundervolle Wirtschaft nicht mit führte?«

Und ich, Eberhard Pfister, frage jeden, das heißt jedes männliche Erdengeschöpf, was er oder es auf diese Frage geantwortet haben würde.

Glücklicherweise rief die Christine in diesem Augenblick in unseren jetzigen hiesigen Haushaltsangelegenheiten nach der jungen Frau, und zwar mit einer Milde und Lieblichkeit in Ton und Ausdruck, die ich in meinen jungen Jahren nicht immer an ihrem Organ gekannt hatte. Und Emmy flötete zurück: »Gleich, gleich, gute Seele!«, warf mir ihr Nähzeug auf den Schoß und enttänzelte neckisch und holdselig durch den Lichter- und Schattentanz unter den guten, alten Kastanienbäumen unserer Mühle zu, mit zierlichem Knicks und Kußhand mich in meinen Erinnerungen an die hiesige frühere Wirtschaft zurücklassend.

Ach und wie nahe lagen sie noch, die Tage dieser früheren Wirtschaft in der Mühle! Wie wenige Jahre war es her, daß mein Vater dort in der Tür stand , in die eben mein Liebchen geschlüpft war, und ebenfalls fröhlich und unschuldig »gleich!« rief, aber hinzusetzte »meine Herrschaften!« im Verkehr zwischen dem Hause und den Tischen und Bänken unter den grünen Bäumen den Fluß entlang und auf den Rasenplätzen - der vergnüglichste Mensch der Welt. Ach, wenn nur nicht grade die vergnüglichsten Menschen dann und wann das bitterste Ende nehmen müßten!...

Alle haben ihn gekannt. Patrizier und Plebejer, Philister, Professoren und Studenten, die letzteren freilich nur neulich noch, haben ihn gekannt, den Vater Pfister in seinem Haus- und Gartenwesen; und wenn ich heute noch in jener vieltürmigen Stadt dort von manchen Leuten gekannt bin und freundlich gegrüßt werde, so habe ich das einzig und allein Pfisters Mühle, meinen Ahnen drin und meinem verstorbenen Vater Bertram Gottlieb Pfister und seiner ausgezeichneten Wirtschaft zu danken. Was unsern Familiennamen anbetrifft, so hat der Ahnherr des Geschlechts sicherlich der ehrsamen Bäckergilde angehört. Als Magister artium und Doktor der Theologie ist ein der Familie zugehöriger, zu einem Pistor oder Pistorius latinisierter Becker zwischen dem Schmalkaldischen und dem Dreißigjährigen Kriege nachzuweisen; aber als Pfister haben wir seit dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts eben auf Pfisters Mühle gesessen, und verschiedene von diesen letzteren werten Männern würden wahrscheinlich in ihrem Staub sich schütteln, wenn die Nachricht zu ihren verschollenen Ruhestätten dränge, daß dem in der Folge nicht mehr so sein werde.

Aber Emmy kümmert das ja gottlob nicht, und auch mich lange nicht so viel, als es von Rechts wegen sollte. Das Kind ist reizend; und gesund und jung sind wir beide, und Berlin ist eine große Stadt, und man kann es darin zu vielem bringen, wenn man die Augen offen und auch seine übrigen vier Sinne beisammen behält und nicht ganz ohne Grütze im Kopfe ist. Wir zwei haben die Welt und unsere hübschesten, feinsten und würdigsten und wertvollsten Hoffnungen in ausgesuchter Fülle noch vor uns; wir haben das volle Recht, die Mühle als nichts weiter als das uns nächstliegende Wunder der Vorwelt zu nehmen. Und wenn einer nichts dagegen einzuwenden haben würde, so ist das mein alter lieber Vater, der letzte Pfister auf Pfisters Mühle unter seinem noch nicht eingesunkenen und verschollenen grünen Hügel bei unseren Vorfahren auf dem Kirchhofe unseres Dorfes.

Von dem, dem Vater Pfister, rede ich nun, an den denke ich nun, während Emmy und Christine drinnen in dem Hause an seinem großen Herde, auf welchem er einen so vortrefflichen Grog und Glühwein zu brauen verstand, von welchem so viele sparsamere Familienmütter und hübsche, junge Kleinbürgertöchter das kochende Wasser für ihren Kaffeetopf holten, an welchem er so viele tausend glückselige Kindergesichter vergnüglich tätschelte, - ihre Köpfe über mein Mittagessen zusammenstecken.

»Vater Pfister, mir zuerst!«

Wie oft ist der Ruf durch den übrigen lustigen Lärm um uns her an mein Ohr geklungen, seit ich aufwachte - auch ich unter den Gästen von Pfisters Mühle - des Vater Pfisters verzogenster Stammgast!

Des Vaters! Meine Mutter hatten wir leider so früh verloren, daß ich für mein armes Teil gar keine Erinnerung mehr von ihr hatte und ich als Gast in der Mühle wie auf der Erde von frühester Kindheit an auf den Vater angewiesen war. Und auf die Jungfer Christine! Die hatte die Mutter bald nach ihrer Verheiratung mit dem jungen Müller von Pfisters Mühle sich an die Hand und ins Haus gezogen und soll auf dem Sterbebett zu ihr gesagt haben: »Mädchen, ich stürbe viel weniger ruhig, wenn ich dich nicht kennte und wüßte, daß du ein gutes Herz und eine harte Hand und weiter keinen Anhang in der Welt hast. Die Wirtschaft und den Verkehr mit den Leuten hab ich dir auch beigebracht, also rücke mir das Kissen zurecht in meiner bittern Sorge und stehe fest für die Mühle und meinen Müller und - nimm noch zum letztenmal einmal vor meinen leiblichen Augen mein arm, verlassen Tröpfchen aus der Wiege und lege es trocken, auf daß ich noch einmal sehe, daß du es in alle Zeit weich anfassen willst und dein Bestes tun. Zurechtgeschüttelt hab ich dich wohl, wenns zu deinem Besten notwendig war, - jetzt küsse deine Frau in ihrer höchsten Angst dafür zum Danke; und wenns mir möglich sein wird, passe ich auch ganz gewiß noch fernerhin aus der Ewigkeit auf dich und dein Verhalten...«

»Und den Kuß hab ich mit dir im Arme, mein Junge, an ihrem Bett auf den Knieen ihr geben dürfen und mich so mit der Mühle verlobt und auf kein Mannsbild nachher weiter geachtet, wenn ich auch wohl mal wie andere die Gelegenheit gehabt habe, mich zu verändern, und ganz gute Partien aus dem Dorfe und aus der Stadt!« hat mir die Christine tausendmal mit immer sich gleichbleibender Rührung erzählt, und ich werde wahrlich auch heute noch nicht darob ungeduldig, auch wenn die treuherzige, melancholische Erinnerung noch so sonderbar mit den Vorkommnissen - Ärgernissen und Annehmlichkeiten - des laufenden Tages in Verbindung gebracht wird.

Wie mein Vater die Jahre seit dem Tode meiner Mutter ohne die Christine zurechtgekommen sein würde, weiß ich nicht. Er hätte es wohl auch möglich gemacht, aber besser war besser, und so war auch für die Stadt und Umgegend Pfisters Mühle ohne die Jungfer Christine nicht mehr zu denken, und was demnächst in der großen Stadt Berlin aus der Christine in unserm neuen Haushalt werden wird, das wage ich nicht vorauszusagen, wenn ich mir gleich vorgenommen habe, sie nach besten Kräften bei gutem Humor zu halten und ihr das neue Leben so leicht als möglich zu machen. Daß Emmy mir dabei helfen will und auch bereits einige Male ein erkleckliches Maß von Selbstbeherrschung im Verkehr mit dem guten alten Mädchen bewiesen hat, trägt viel zu meiner Beruhigung bei. - -

Die Sonne steigt, und Vater Pfisters letzter Stammgast müßte um eine Bank weiterrücken, um im Schatten seiner Erbbäume zu bleiben mit seinen Morgenphantasien. Aber wir wohnen schon auf der Schattenseite unserer Straße in der großen Stadt Berlin, und ich habe mich daselbst allzu häufig nach dem Sonnenlicht der Jugendheimat gesehnt, um demselben inmitten derselben in einer solchen wohligen Frühe aus dem Wege zu gehen. Und ich habe den Grundriß und sonstigen Entwurf der großen Fabrik, welche die demnächstigen Eigentümer an diesem Orte aufrichten werden, eingesehen und weiß, wie wenig Helle und Wärme im nächsten Jahre schon die Ziegelmauern und hohen Schornsteine auch hier übriglassen werden. Auch diese Vorstellung hält mich auf meinem Platze fest. Ich fühle mich mehr denn je als Vater Pfisters letzter Stammgast in dem heutigen Sonnenschein und Baumlaubschatten. Es hat sich manch einer einen mehr oder weniger vergnüglichen kleinen Rausch an diesen Gartentischen gezeugt; aber kein guter Trunk hat so einen aus Licht und Schatten und Erinnerung gewebten, wie er mich in diesen Tagen gefangen hält, einem andern Gast zuwege gebracht.

»Wie Sardes in der Offenbarung Johannis ist sie, meine Mühle, Kind!« hatte ich noch neulich im Eisenbahnwagen zu Emmy geseufzt. »Sie hat den Namen, daß sie lebet, und ist tot!«

»O Gott, dann weiß ich doch nicht, ob es trotz allem nicht besser gewesen wäre, wenn wir woanders zu unserer Erholung hingegangen wären!« hatte die Kleine unter dem Eindrucke dieses lugubern, biblisch-gelehrten Zitats ängstlich erwidert und - nun gab es nichts Lebendigeres für sie und für mich als Pfisters Mühle.

Für sie war es ein neues, liebliches, ungewohntes - unbekanntes Leben, für mich ein konzentriertestes Dasein alles dessen, was an Bekanntschaft und Gewohnheit gewesen war, von Kindheit an, durch wundervollste Jünglingsjahre bis hinein ins früheste, grünendste Mannesalter.

Alles um mich herum, bei gutem und schlechtem Wetter, bei Sonnenschein und Regen, hatte in den Tagen und Nächten dieser seltsamen Sommerfrische nicht bloß den Namen, daß es lebte, sondern es lebte wirklich. Und wie hätte vor allem der letzte wirkliche Herr und Wirt des guten Ortes sich in Nebel und Nichts auflösen können, während sein letzter Stammgast noch seinen Platz auf der Bank und am Tische festhielt?

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