Lieblich düftevoll lag die Sommernacht vor den Fenstern über dem alten Garten, dem rauschenden Flüßchen und den Wiesen und Feldern. Ein leiser Hauch von Steinkohlengeruch war natürlich nicht zu rechnen; aber er genügte doch, um mich bei den gewesenen Bildern festzuhalten, wenn ich gleich am heutigen Abend nicht mehr meinem Weibe davon weitern Bericht gab.
Es war eben ein Herbst- und Wintergeruch, den weder die dörflichen und städtischen Gäste, noch die
Mühlknappen und die Räder und mein armer, fröhlicher Vater ihrerzeit länger zu ertragen vermochten. Und die Fische auch nicht - jedesmal, wenn der September ins Land kam.
Damit begann nämlich in jeglichem neuen Herbst seit einigen Jahren das Phänomen, daß die Fische in unserm Mühlwasser ihr Mißbehagen an der Veränderung ihrer Lebensbedingungen kundzugeben anfingen. Da sie aber nichts sagten, sondern nur einzeln oder in Haufen, die silberschuppigen Bäuche aufwärts gekehrt,
auf der Oberfläche des Flüßchens stumm sich herabtreiben ließen, so waren die Menschen auch in dieser Beziehung auf ihre eigenen Bemerkungen angewiesen. Und ich vor allem auf die Bemerkungen meines armen seligen Vaters, wenn ich während des Blätterfalls am Sonnabendnachmittag zum Sonntagsaufenthalt in der Mühle aus der Stadt kam und den Alten trübselig-verdrossen, die weiße Müllerkappe auf den feinen grauen Löckchen hin- und herschiebend, an seinem Wehr stehend fand:
»Nun sieh dir das
wieder an, Junge! Ist das nicht ein Anblick zum Erbarmen?«
Erfreulich wars nicht anzusehen. Aus dem lebendigen, klaren Fluß, der wie der Inbegriff alles Frischen und Reinlichen durch meine Kinder- und ersten Jugendjahre rauschte und murmelte, war ein träge schleichendes, schleimiges, weißbläuliches Etwas geworden, das wahrhaftig niemand mehr als Bild des Lebens und des Reinen dienen konnte. Schleimige Fäden hingen um die von der Flut erreichbaren Stämme des Ufergebüsches und an den zu
dem Wasserspiegel herabreichenden Zweigen der Weiden. Das Schilf war vor allem übel anzusehen, und selbst die Enten, die doch in dieser Beziehung vieles vertragen können, schienen um diese Jahreszeit immer meines Vaters Gefühle in betreff ihres beiderseitigen Hauptlebenselementes zu teilen. Sie standen angeekelt um ihn herum, blickten melancholisch von ihm auf das Mühlwasser und schienen leise gackelnd wie er zu seufzen:
»Und es wird von Woche zu Woche schlimmer, und von Jahr zu Jahr
natürlich auch!«
»Sieh dir nur das unvernünftige Vieh an, Ebert«, sagte der Alte. »Auch es stellt die nämlichen Fragen an unsern Herrgott wie ich. Experimentiert er selber so schon damit im Erdinnern, na, so kann man ja wohl nichts dagegen sagen und muß ihn machen lassen; denn dann wird ers ja wohl wissen, wozu es uns gut ist. Aber - vergiften sie es, da weiter oben, in nichtsnutziger Halunkenhaftigkeit ihm und mir und uns, na, so müßte er denn wohl am Ende mit
seinem Donner dreinschlagen, wenn nicht meinetwegen, so doch seiner unschuldigen Geschöpfe halben. Guck, da kommen wiederum ein paar Barsche herunter, den Bauch nach oben; und daß man einen Aal aus dem Wasser holt, das wird nachgrade zu einer Merkwürdigkeit und Ausnahme. Kein Baum wird denen am Ende zu hoch, um auf ihm dem Jammer zu entgehen; und ich erlebe es noch, daß demnächst noch die Hechte ans Stubenfenster klopfen und verlangen, reingenommen zu werden, wie Rotbrust und Meise zur
Winterszeit. Zum Henker, wenn man nur nicht allmählich Lust bekäme, mit dem warmen Ofen jedwedes Mitgefühl mit seiner Mitkreatur und sich selber dazu kalt werden zu lassen!«...
»O, ich habe alles gehört«, sagte Emmy. »Erzähle nur ruhig weiter; ich höre alles. Es ist bloß ein Erbteil von meinem armen Papa, wenn den etwas sehr interessierte, was Mama erzählte, und er in seiner Sofaecke saß, und Mama grade wie du sagte: ›Kind, wozu rede ich denn eigentlich?‹ - Er wußte
nachher so ziemlich alles, wovon die Rede gewesen war, wenn er auch mit geschlossenen Augen darüber nachgedacht hatte. Und du brauchst mich nur zu fragen, lieber Ebert, ob ich dir nicht auch alles an den Fingern aufzählen kann von dir und den Fischen in Pfisters Mühle - nein, von Pfisters Mühle und deinem Papa und den Enten und allem übrigen, den Studenten und den Gästen aus der Stadt, und wie alles so sehr übel roch jedesmal, wenn seit dem Kriege mit den Franzosen und dem allgemeinen Aufschwung
der Herbst kam. Und eben hatten die Leute schon gesagt: ›Es ist Schnee in der Luft!‹ und du saßest in deiner Schülerstube am Fenster und wartetest drauf, und da war dein Papa in die Stadt gekommen, und ihr hattet wieder von den entsetzlichsten Gerüchen euch unterhalten, daß es einem allmählich ganz unwohl dabei wird. Siehst du wohl, ich weiß alles ganz genau, und zuletzt waret ihr grade in euerer äußersten Verzweiflung auf dem Wege zum Doktor Asche, und das ist eigentlich mehr, als
du von mir verlangen kannst, denn du hattest seinen Namen noch durchaus nicht genannt; ich habe es mir aber gleich gedacht, auf wen die Sache hinauslief.«
»Ein Prachtmädchen bist du und bleibst du!« stotterte ich ein wenig verwundert und in einigem Zweifel darob, wieviel eigentlich unser Herrgott den Seinigen im Traum zu geben vermag. Aber einerlei, woher das liebe Seelchen es hatte; es war seinem eigenen Ausdruck zufolge vollkommen au fait und blieb helläugig und munter und
schlauhörig bis weit über Mitternacht hinaus.
Ein Grund zur Eifersucht war gottlob nicht vorhanden; aber es gab glücklicherweise außer mir keine andern Individuen innerhalb und außerhalb meiner Männerbekanntschaft, die mein Weib so ausnehmend interessierten wie Doktor A. A. Asche und so gut Freund mit ihr waren wie derselbige Herr, Weltweise und Berliner Großindustrielle.
»Ja, setz deine Mütze auf«, sagte mein Vater. »Du kannst mitgehen und anhören, was seine Meinung ist
und ob er auf meine Vorschläge in Anbetracht euerer Weihnachtsferien und Pfisters Mühle eingehen will. Es ist mir sogar recht lieb, wenn ich dich als Zeugen habe, der mir im Notfall dermaleinst vor dem Weltgericht bestätigen kann, daß ich mein möglichstes getan habe, um deiner Vorfahren uralt Erbe vor dem Verderben zu bewahren und es vor dem Ausgehen wie Sodom und Gomorra in Schlimmerem als Pech und Schwefel und in Infamerem als im Toten Meere zu erretten. Deine selige Mutter, wie ich sie kenne,
stünde schon längst als Salzsäule dran; und in der Beziehung ist es ein Glück, daß sie das nicht mehr erlebt hat. O du lieber Gott, wenn ich mir Pfisters Mühle von heute und deine selige Mutter denke!«
Ich hatte meine selige Mutter nicht gekannt. Ich wußte von ihr nur, was mir der Vater und Christine von ihr berichtet hatten und immer noch erzählten, und ich wußte es in der Tat schon, daß sie und Pfisters Mühle »von heute« nicht mehr zueinander paßten, und daß ihr, meiner jungen,
zierlichen, reinlichen, an die beste Luft gewöhnten lieben Mutter, viel Ärgernis und Herzeleid erspart worden war durch ihr frühes Weggehen aus diesem auf die höchste Blüte der Kunst- und Erwerbsbetriebsamkeit gestellten Erdendasein.
Ich setzte meine Mütze auf und nahm den Arm meines alten, einst so fröhlichen Vaters. Er hatte mich sorgsam und nach bestem Verständnis geführt, solange er die alte Lust, das alte Behagen an seinem Leben hatte. Heute abend auf der steilen Treppe, auf dem
Wege zu unserm beiderseitigen Freunde, Doktor Adam Asche, überkam mich zum erstenmal die Gewißheit, daß in näherer oder fernerer Zeit an mir wohl die Reihe sein werde, sorgsam und liebevoll seine Schritte zu unterstützen. Es war kein kleiner Trost, daß das lichte, liebe Bild, das er eben durch Erwähnung meiner Mutter wachgerufen hatte, uns freundlich und ruhig und lächelnd voranglitt.
Die Witterung draußen war längst nicht so behaglich, wie sie sich vom Fenster aus ansehen ließ. Der
Wind blies scharf, und ich hatte häufig die Kappe mit der freien Hand zu halten auf dem Wege zu »unserm Freunde«.
Der pflegte, wie gesagt, häufig mit seinen Wohnungen zu wechseln, wenn er im Lande war, das heißt, wenn er sich in seiner Vaterstadt aufhielt. Diesmal hatte er sein Quartier in einer entlegenen Vorstadt aufgeschlagen, und zwar, wie immer, nicht ohne seine Gründe dazu zu haben; und ich, der ich, um die Schülerredensart zu gebrauchen, die Gegend und Umgegend natürlich wie
meine Tasche kannte, hatte zwischen den Gartenhecken und Mauern, den Gartenhäusern und Neubauten in dem nur hier und da durch eine trübflackernde Laterne erhellten Abenddunkel mehr als einmal anzuhalten, um mich des rechten Weges zu ihm zu vergewissern.
Ein enger Pfad zwischen zwei triefenden Hecken brachte uns zu einer letzten Menschenansiedlung, einem dreistöckigen, kahlen Gebäude, mit welchem die Stadt bis jetzt zu Ende war und hinter welchem das freie Feld begann. Aber Lichter hie
und da in jedem Stockwerk zeigten, daß auch dies Haus schon bis unters Dach bewohnt war, und mancherlei, was umherlag, -hing und -stand, tat dar, daß es nicht grade die hohe Aristokratie im gewöhnlichen Sinne war, die hier ihren Wohnsitz aufgeschlagen hatte.
Bei einer halbwachsenen Jungfrau, die in sehr häuslicher Abendtoilette eben einen Zuber voll Kartoffelschale über den Hof trug, erkundigte ich mich, ob Herr Doktor Asche zu Hause sei, und erhielt in Begleitung einer
Daumenandeutung über die Schulter die eigentümliche Benachrichtigung:
»In der Waschküche.«
»Wo, mein Herz?« fragte mein Vater ebenfalls einigermaßen überrascht; doch ein ungeduldiges Grunzen und Geschnaube aus einer andern Richtung des umfriedeten Bezirkes nahm das Fräulein so sehr in Anspruch, daß es nichts von fernerer Höflichkeit für uns übrig behielt. Zu dem Behälter ihrer Opfertiere schritt die vorstädtische Kanephore; und wir, wir wendeten uns einer halboffenen Pforte
zu, aus der ein Lichtschein fiel und ein Gewölk quoll, welche beide wohl mit dem Waschhause der Ansiedlung in Verbindung zu bringen waren.
»Du lieber Gott, er wird doch nicht - es ist zwar freilich morgen Sonntag; aber er wird doch nicht jetzt noch sein frisches Hemde selber drauf zurichten?« stotterte Vater Pfister, und ich - ich konnte weiter nichts darauf erwidern als.
»Das müssen wir unbedingt sofort sehen!«
Ich stieß die Tür des angedeuteten Schuppens mit
dem Fuße weiter auf. Das vordringende Gewölk umhüllte uns und -
»Alle Wetter!« husteten und prusteten zurückprallend sowohl der Müller von Pfisters Mühle wie sein Kind, - der Dampf, der uns den Atem benahm, stammte wohl von noch etwas anderm als unschuldiger grüner Seife und Aschenlauge; und wie eine menschliche Lunge es hier aushielt, das war eine Frage, zu der wir erst eine geraume Zeit später fähig wurden.
Dagegen begrüßte uns sofort aus dem vielgemischten, entsetzlichen Dunst eine wohlbekannte
Stimme:
»Holla, nicht zuviel Zugluft bei obwaltender Erdenwitterung draußen! Tür zu, wenn ich bitten darf! Olga, bist du es, so muß ich dir doch sagen, daß mir so ein Unterrock während meiner ganzen wissenschaftlichen Praxis noch nicht vor Nase und Augen gekommen ist.«
»Olga ist es grade nicht; wir sinds, Doktor Asche«, keuchte mein Vater. »Ich bitte Sie um des Himmels willen -«
Und aus dem vom Herd und aus dem Waschkessel aufwirbelnden Greuel hob sich, wie das
Haupt eines mittelalterlichen Alchimisten, der schwarze Struwelkopf unseres letzten Trösters in unseren übeln Erdengerüchen; und Doktor A. A. Asche mit aufgestreiften Ärmeln, in einem Schlafrock, der wahrscheinlich seinesgleichen nicht hatte, sagte gelassen:
»Sie sind es, Vater Pfister? Und der Junge auch? Na - dann kommt nur herein und machen Sie auch die Tür zu, wenn das Ihnen lieber ist.«
»Den Teufel auch!« ächzte der alte Herr von Pfisters Mühle. »Aber Asche - Doktor -
Herr Doktor -«
Doktor Asche ließ sich gegenwärtig nicht so rasch stören, wie es für unsern freien Atem wünschenswert sein mochte.
Mit einem langen hölzernen Löffel fuhr er in den Kessel vor ihm, vermehrte durch längeres Suchen und Rühren Gedämpf und Gedüft um ein erkleckliches, holte ein unheimliches Etwas empor, packte das brühheiße Scheußliche mit abgehärtet verwogener Gelehrtenfaust, hielt es, ließ den stinkgiftigen Sud abträufen und sprach wie mit bescheidener Ergebung
unter die eben vom Genius auferlegte Last eines ewigen guten Rufes und unsterblichen Namens:
»Meine Herren, Sie kommen zu einem großen Moment grade recht! Ich glaube wirklich in diesem Augenblick sagen zu dürfen: Bitte, treten Sie leise auf!... Vater Pfister, halten Sie sich die Nase zu, aber stören Sie gefälligst das Mysterium nicht. Und du, Bengel - ich meine dich, Eberhard Pfister, mein Zögling und mein Freund, tritt heran, glücklicherer Jüngling von Sais, werde mir bleich, aber
nicht besinnungslos - ekle dich meinetwegen morgen mehr und soviel du willst, doch gegenwärtig beuge in schaudernder Ehrfurcht dein Knie: so geht man im zweiten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts zur Wahrheit!«...
Jedenfalls ging er mir um den Herd herum zwei Schritte näher, schlug mir den triefenden, furchtbaren Lappen, den Fetzen vom Schleier der Isis, fast ums Gesicht und grinste:
»Gewichtiger, mein Sohn, als du es meinst,
Ist dieser dünne Flor - für
deine Hand
Zwar leicht, doch zentnerschwer für meinen - Beutel; ich meine, Sie, meine Herren, bei der in diesem Raume obwaltenden Atmosphäre nicht darauf weiter hinweisen zu dürfen, daß es keine Kleinigkeit ist, der Natur nicht aus dem Tempel zu laufen, sondern den Stein der Weisen weiter zu suchen, auch auf die Gefahr hin, ihn wieder nicht zu finden.«
Vater Pfister, der seit längerer Zeit von seiner Mühle doch schon an allerlei obwaltende Atmosphäre gewöhnt war, kam vor
Atmungsbeschwerden noch immer nicht dazu, die nötige Frage zu stellen. Ich brachte es zu dem gekeuchten Wort:
»Ich bitte dich um alles in der Welt, Asche!« - Doch Doktor Asche ließ sich fürs erste noch nicht stören.
Er hielt jetzt sein geheimnisvolles Gewandstück zwischen beiden Fäusten. Er wrang es aus zwischen beiden Knieen - schweißtriefend. Er entfaltete es, hielt es gegen eine trübe Petroleumflamme, rollte wie wütend es noch einmal zusammen und rang von neuem mit ihm,
wie der Mensch eben mit der alten Schlange, dem Weltgeheimnis als Ideal und Realität a priori und a posteriori zu ringen pflegt, seit er sich, sich auf sich selber besinnend, erstaunt in der Welt vorfand. Aber er gelangte, wie immer der Mensch, auch diesmal nur bis zu den Grenzen der Menschheit, und er nahm das Ding, nachdem er es zum drittenmal auseinandergebreitet und wieder zusammengewickelt hatte, an sich, das heißt, er nahm es jetzt unter den Arm, bot uns die biedere,
wenn auch augenblicklich etwas anrüchige Rechte und meinte: »Zu Ihrer Verfügung, meine Herren! Ich hatte doch eben das Laboratorium dem schnöden Alltagsgebrauch zu überlassen. Es wollen noch andre Leute am heutigen Abend im Hause waschen, und das wissenschaftliche Trocknen besorge ich in meinem Falle lieber am eigenen Ofen. Olga!..... Witwe Pohle!... Stinchen!... Frau Börstling!..... Fräulein Marie - das Lokal ist frei. Krallen in die Höhe und munter in die Haare einander! Vater Pfister, gehen
wir?«
Wir gingen gern; denn schon drängte es sich in die Pforte dieser Waschküche dieser vorstädtischen Mietskaserne - ein zürnend giftig Gewoge aufgeregter, nevösester Weiblichkeit, das, wie wir im eigenen Durchzwängen noch vernahmen, schon seit Mittag auf das Ende der Schmiererei in seinem eigenen, angeborenen Reiche und Bereiche gewartet hatte. Und ein Gewimmel unmündiger Nachkommenschaft war natürlich auch vorhanden, begleitete uns mit teilweise höhnischen, teilweise aber auch
wohlwollenden Gefühlsäußerungen über den Hof und verließ uns auch im Innern des Hauses auf den Treppen nicht.
»Tausend Donnerwetter«, ächzte mein Vater, meinen Arm fester fassend. »In Kannibalien an ne Insel geworfen werden muß ja ein Labsal hiergegen sein. Hat man denn gar nichts, was man unter sie schmeißen könnte? Hier, halte meinen Stock, Ebert; vielleicht löse ich uns mit meinem Kleingeld aus! Da wage ich mich doch nie in meinem Leben wieder hierher ohne polizeiliche Begleitung
heraus. Da ist ja die reine Kommunewirtschaft, Asche; und Sie mitten drin, Doktor, und zwar ganz in Ihrem Esse, wies den Anschein hat? Das fasse ein anderer!«
»Mein Versuchsfeld, Vater Pfister«, sprach lächelnd Doktor A. A. Asche. »Sie haben mir an jedem andern Orte nach dem zweiten Experiment die Miete aufgesagt. Als ob ich etwas dafür könnte, daß die Wissenschaft in ihrer Verbindung mit der Industrie nicht zum besten duftet. Gleich sind wir aber oben, und zwar in mehr als einem
Sinne. Wie sagte man zu Syrakus, Knabe, als die Geldnot am höchsten und der Küchenschrank am leersten war? ›Gib mir, wo ich stehe, und ich setze mich sofort‹ - wenn ich nicht irre! Und das nämliche sage ich jetzt, und - hier stehe ich, und von hier aus hoffe ich in der Tat die Welt aus den Angeln zu heben und allen Sambuken und Argentariern zum Trotz dem Jammer ein wohlgesättigt, ja vollgefressen behaglich Ende zu bereiten, solide Platz zu nehmen auf Erden und Ihnen, Vater Pfister,
ganz speziell alles Gute, was Sie an mir vollbracht haben, mit dem eigenen Keller- und Speisekammerschlüssel in der Tasche gerührt zu vergelten.«
Wir standen nämlich jetzt in seinem absonderlichen Daheim, Schlehengasse Numero eins, im Ödfelde, und selbst hier nicht im ersten Stockwerk. Es war aber ein ziemlich umfangreiches Gelaß, in dem er jetzt noch, in Erwartung alles Bessern, sich und seine kuriosen wissenschaftlich-industriellen Studien und Bestrebungen untergebracht hatte. Und
Vater Pfister kam noch einmal aus einem übeln Dunst in den andern und hatte Grund, von neuem sich die Nase zuzuhalten und nach Atem zu schnappen.
Ein überheißer, rotglühender Kanonenofen bösartigster Konstruktion war von einem Gegitter von allen vier Wänden her durch den Raum ausgespannter Bindfäden und Wäscheleinen umgeben. Was aber auf den Fäden und Stricken zum Trocknen aufgehängt war, das entzog sich jeglicher genauern Beschreibung. Ich brauche nur mitzuteilen, daß jede Familie im
Hause ein Stück ihrer Garderobe dazu geliefert zu haben schien und daß Doktor Adam Asche Olgas Gewand eben auch dazuhing, und darf hoffen, genug gesagt zu haben.
»Und nun, Kinder, setzt euch«, rief der Doktor, im vollsten Behagen sich die Hände reibend und in überquellender Gastfreundlichkeit unter und zwischen seinen Leinen und Lumpen und Fetzen männlicher und weiblicher Bekleidungs- und Hausratsstücke nach Sitzgelegenheiten hin und her fahrend, auf und ab tauchend. »Das ist ja
reizend von Ihnen, Vater Pfister. Ein Abend, ganz darnach angetan, um wie in Pfisters Mühle beim Schneetreiben und einem Glase Punsch zusammenzurücken! Nur einen Moment, meine Herren; kochendes Wasser stets vorhanden! Störe mir meine Kreise nicht, das heißt, reiß mir meine Feigenblätter menschlicher Eitelkeit und Bedürftigkeit nicht von der Linie, Ebert, sondern greif behutsam hin und drüber weg: die Zigarrenkiste steht auf dem Schranke gerade hinter dir. Vater Pfister -«
»Jetzt will
ich Ihnen mal was sagen, Asche, und zwar am liebsten gleich wieder draußen vor der Tür«, sprach mein Vater, und zwar mit einer wütenden Gehaltenheit in Ton und Ausdruck, die nur selten bei ihm zum Vorschein kam. »Sie werden sich doch nicht einbilden, Adam, daß ich, der ich grade wegen ziemlich gleichem Geruch und noch dazu bei dieser Tages- und Jahreszeit als älterer Mann mich auf meinen weichen Füßen zu Ihnen herausbemüht habe, hier jetzt in diesen infamen Odörs ein pläsierlich Konvivium bei
Ihnen halten will? Behalt deine Mütze auf dem Kopfe, Junge; das haben wir zu Hause auch. Komm wieder mit; ich sehe ein, es ist nicht anders und soll nicht anders sein. Die Welt will einmal in Stank und Undank verderben, und wir Pfister von Pfisters Mühle ändern nichts daran. Bringe mich mit möglichst heilen Knochen wieder hin nach dem Blauen Bock. Samse mag sofort wieder anspannen; wir fahren nach Hause. Es ist wohl nicht das letzte Mal, daß dein Vater sich in das Unabänderliche geschickt hat,
Ebert.«
»Holla! Halt da! Nur noch fünf Minuten Aufenthalt«, rief der Doktor. »Was ist es denn eigentlich, Vater Pfister? Das klingt ja verflucht tragisch. Um was handelt es sich, Knabe Eberhard?..... Wenn die Herren sich vielleicht einbilden, daß ich, Doktor A. A. Asche, vorhin aus inniger Neigung in meinem angeborenen Element plätscherte, daß ich hier wie ne Kölnische Klosterjungfer gegenüber dem Jülichsplatz in meinem Eau de Cologne schwimme und mich selber mit Wonne rieche, so
irren Sie sich. Auch der Gelehrte, der Chemiker bleibt am Ende Mensch - Nase - Lunge! Es ist zwar schön, aber durchaus nicht angenehm, auf dem Gipfel seiner wissenschaftlichen Bestrebungen dann und wann ohnmächtig zu werden; und - wißt ihr was, Leute? Feierabend ist es doch - ich gehe am besten mit euch nach dem Blauen Bock und vernehme dort in gesünderen atmosphärischen Verhältnissen das, worüber Sie meinen bescheidenen Rat einzuholen wünschen, Vater Pfister.«
»Das ist wenigstens ein
Wort, was sich hören läßt«, sagte mein Vater. »Das ist sogar ein vernünftiges Wort, Adam, und ich nehme Sie und warte mit dem Ebert so lange draußen auf der Treppe, bis Sie sich hier drinnen gewaschen und angezogen haben. Nicht wahr, Sie nehmen das einem alten Manne, der sonst schon tief genug im Morast sitzt, nicht übel?«
»Durchaus nicht!« lachte der Doktor, und nach fünf Minuten befanden wir uns auf dem Wege nach dem Blauen Bock. Wieviel Verdruß, Ärger und leider auch
herzabfressenden Kummer Vater Pfister noch von Pfisters untergehender Mühle haben sollte: das ist mir wenigstens ein Trost, daß er dabei zur Rechten wie zur Linken jemand hatte, der, wie treue Söhne sollen, Leib und Seele hingegeben hätte, ihm seine letzten Schritte durch die schlimme Welt behaglicher zu machen. Er ist doch noch mehr als einmal zu einem vergnüglichen Knurren und herzlichen Lachen in seiner alten Weise gekommen, ehe es aus mit ihm war.
Wo bleiben alle die Bilder?