Frei Lesen: Der neue Pitaval - Band 15

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Willibald Alexis

Der neue Pitaval - Band 15

Eine Hinrichtung in Appenzell

eingestellt: 22.7.2007



Die Geschichte der Hinrichtung des Manningschen Ehepaares lief noch durch alle Zeitungen, mit Boz Betrachtungen und Gegenbetrachtungen, als man der Allgemeinen Zeitung ein Seitenstück von einer eben in Appenzell stattgefundenen Hinrichtung berichtete, was in seiner drastischen Kürze wohl verdient als Anhang zum vorigen Falle in unserer Sammlung aufbewahrt zu werden. Wir haben keinen Grund, die Worte des Berichterstatters, da er von St.zur von einem gestern erlebten Ereigniß schreibt, umzuändern. Die Frische des Eindrucks hat auch ihren Werth. Nur bemerken wir für den mit den Verhältnissen der Schweiz minder bekannten Leser, daß der Halb-Canton Appenzell-Innerrhoden nicht allein in der Justiz, sondern in vielen Dingen dem Mittelalter noch weit näher steht, als irgend ein anderer der Schweiz. Das gewerbfleißige Außerrhoden bildet schon dazu einen merkwürdigen Gegensatz.

Ich schreibe Ihnen heute unter dem Eindruck einer entsetzenvollen Hinrichtung einen neuen Beitrag Beurtheilung derselben, der sich in der That den Bozschen Betrachtungen genau anschließt. Das fürchterlichste Schauspiel, das sich denken läßt, ist soeben gewissermaßen unter unsern Augen an uns vorübergegangen: ein Mensch, der sich für sein junges Leben aufs äußerste wehrt, von der erbarmungslosen Gerechtigkeit unter und vermöge furchtbarer Anstalten zum Tode gebracht. Gestern wurde bei Appenzell, dem Hauptflecken des Cantons Appenzell-Innerrhoden, ein Mädchen, Namens Koch, wegen Mords enthauptet – unter Umständen, welche diese Hinrichtung zu der gräuelvollsten, die je mit dem Schwerte vollzogen worden, stempeln. Im Lauf des vergangenen Sommers war eine junge Bauerntochter erschlagen und ertränkt gefunden worden. Der Besitz von Silbergeräthen, welche derselben bei Lebzeiten unzweifelhaft gehört, führte bald die Spur auf jene Koch, welche jedoch im gütlichen Verhör den Verdacht so geschickt auf einen jungen Mann, ihren »Geliebten«, zu lenken wußte, daß dieser auf Verweigerung des Geständnisses hin der Folter unterworfen ward (in den Schweizern Bergen hat sich die Tortur neben vielen andern Justizgräueln bis auf den heutigen Tag fortgeerbt). Dieser, ein starker Bursche, bestand die Probe, wogegen dasselbe Mittel der schwächern Jungfrau sehr bald das (unzweifelhaft richtige) Geständniß ihrer That abzwang. Sie hatte, wol hauptsächlich von Eifersucht bethört, ihr unglückliches Opfer unter heuchlerischer Freundlichkeit an einen Teich verlockt, dort durch einen Streich betäubt und die Ohnmächtige im Teiche ertränkt. Nach erfolgtem Geständniß konnte es einem Zweifel nicht unterliegen, daß der Mörderin das Leben werde abgesprochen werden. Sie wurde daher von der hiesigen Geistlichkeit fleißig besucht, um auf ihr nahes Ende vorbereitet zu werden. Allein die Unselige, weniges über zwanzig Jahre alt, konnte sich mit dem Gedanken, sterben zu müssen, so gar nicht vertraut machen, daß sie alle Tröstungen der Religion verzweifelnd von sich wies und erklärte, nicht sterben zu können. Der Große Rath, gestern versammelt, um über Begnadigung oder über Urtheilsvollzug endgültig zu entscheiden, verwarf die erste und ordnete nach Landessitte auch ohne weitern Verzug die Hinrichtung an, zu welcher eventuell schon alle Vorkehrungen getroffen waren. Die dem Tode Geweihte nahm die Nachricht ihres Schicksals so auf, wie nach allem Vorhergehenden zu erwarten war. Sie widersetzte sich den Bütteln, welche sie in die öffentlichen Schranken vor das hochnothpeinliche Gericht führen sollten, mit Aufbietung aller Kräfte, mußte daher von vier Männern aus dem Gefängniß auf den Markt hinuntergeschleppt werden, und wurde dort bei fortgesetztem Widerstand unter herzzerreißendem Geschrei, welches die Vorlesung des Urtheils völlig unverständlich machte, auf einen Schlitten gebunden. Unter gleichem Tumult und Ablehnung alles Beistandes eines Pfarrers ward sie nunmehr, nachdem der Stab über sie gebrochen worden, fortwährend betheuernd, daß sie nicht sterben könne und wolle, auf den Rabenstein geschafft, wo ein junger Scharfrichter sein »Meisterstück« an ihr verrichten sollte. Allein dies machten ihm die unablässigen leidenschaftlichen, ja verzweiflungsvollen Bewegungen der Armen unmöglich, so daß endlich der Reichsvogt (auch diese uralthergebrachte Benennung des Blutgerichtsvorsitzers hat sich selbst officiell erhalten) an den Rath berichten mußte, mit der Frage, was unter solchen Umständen zu thun sei. Der Bescheid lautete lakonisch: der Nachrichter solle sehen, wie er mit ihr fertig werde. Also neue Versuche, neues Sträuben und betäubendes Geschrei des Justizopfers; bis endlich ein alter grauer Mann hinzutrat, rathend, es sollte der Zopf der Unglücklichen um eine Stange gebunden, vermittels derselben ihr Kopf straff emporgerissen, zugleich aber unten der Körper festgehalten werden. Gesagt, gethan! Unter solchen Anstalten ward im Jahr 1849 ein schwaches Mädchen glücklich enthauptet. – Was soll man zu einer solchen Geschichte sagen? Soll man mit Boz vor allem wenigstens darauf dringen, daß dergleichen empörende, entmenschende Schauspiele nicht, wie gestern geschah, vor vielen Tausenden, jedes Alters und Geschlechts, aufgeführt werden? Oder soll man seinem entrüsteten Erstaunen Worte leihen, daß ein Rath (zumal ein katholischer) es wagt und über sich nimmt, einen Menschen ohne Bekehrung, ohne Trost, ohne alle Vorbereitung unter tumultuarischen Formen erbarmungslos hinrichten zu lassen? Ich gestehe, daß mir bei Anhörung der Erzählung die Haare gen Berge standen und die Worte im Hals erfroren sind. Und welche Roheit muß dazu gehören oder dadurch erzeugt werden, wenn einem Todeskampf, wie der gestern ausgekämpfte war, während anderthalb Stunden zugeschaut werden kann! Gehört das vielleicht zur sittlichen Erziehung des Volks oder kann ein derartiger Auftritt dazu dienen, seinen Abscheu vor dem Verbrechen zu vermehren? Zu einiger Genugthuung habe ich denn auch vernommen, daß sich alle nicht ganz allem Gefühl Abgestorbenen vielmehr mit Abscheu vor der Unmenschlichkeit menschlicher Satzungen hinweggewendet haben. Braucht es, um aus diesem neuen und erschütternden Beitrag zur Geschichte der öffentlichen Hinrichtungen eine Geschichte zu machen, wohlgeeignet das Blut im Herzen zu erstarren und Gesetzgeber aus ihrer schauderhaften Indolenz aufzuschrecken, noch des Beisatzes: daß der unschuldig gefolterte Jüngling in einen Zustand sich versetzt sieht, der seine Wiederherstellung billigen Zweifeln unterstellt! Machen Sie, wenn Sie wollen, zu diesem Aufsatz die Überschrift: »Ein Stück Cultur des 19. Jahrhunderts!«


 

< George Frederick Manning und Maria Manning
Constantin Weise >



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