Willibald Alexis
Geschichten aus dem Neuen Pitaval - 3
Eine Walpurgisnacht in Finnland
eingestellt: 7.8.2007
Eine Tagereise nördlich von Frederikshamn in der Provinz St. Michel liegt im Sprengel Maendyhaju das Dorf Partsimaa, eins von jenen weitgebauten Dörfern, in denen ein Nachbar von dem andern eine halbe Stunde und weiter entfernt wohnt. In dem Dorfe lebte Anfang der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ein Schreiner namens Gustav Luóranen, ein kräftiger, starkgebauter Mann von ungewöhnlicher Größe. Das blonde Haar, das breite Gesicht mit den festen bestimmten Zügen
und die blauen Augen verrieten die germanische Abstammung. Er war der uneheliche Sohn einer armen Tagelöhnerin; in Dürftigkeit aufgewachsen, wurde er nach dem frühzeitigen Tode seiner Mutter aus Barmherzigkeit vom Dorfpfarrer aufgenommen. Der Knabe war nicht ohne Anlagen und wußte sich bald seinen Altersgenossen gegenüber eine gewisse Geltung zu verschaffen. Als Jüngling verließ er das gastliche Pfarrhaus und arbeitete bei einem Verwandten seiner Mutter. Bald darauf trat er in den Dienst der
Witwe Pyy, die mit ihren drei Töchtern in Partsimaa wohnte. Nach elfjährigem treuen Dienste heiratete er die älteste ihrer Töchter und zeugte mit ihr in einer dreizehnjährigen Ehe drei Kinder. Seine Schwiegermutter und deren Tochter Maria lebten mit Luoranen zusammen und wurden von ihm ernährt. Der Schwägein Maria war Luóranen liebevoll zugetan; schon als sie noch Kind war, gab er sich viel mit ihr ab, liebkoste sie und betrachtete sich gewissermaßen als ihren Vater, der von ihr Gehorsam und
Liebe fordern könnte. Als Maria zur blühenden Jungfrau heranwuchs, nahm seine Anhänglichkeit an sie nicht ab; es fiel auf, daß er ihr nicht erlaubte, in Dienste zu treten, sondern sie lieber im Hause behielt. Schon wurde hier und da über das Verhältnis Luóranens zu Maria gesprochen, als plötzlich im Sommer 1851 die letztere sich bei dem Bauer Matts Kókkonen, der in einem ziemlich weit von ihrem Wohnort entfernten Dorf wohnte, vermietete und bald nachher die Braut des Bruders ihres Dienstherrn,
des Henrik Kókkonen, wurde.
Im November 1851 kehrte sie, von ihrem Verlobten geschwängert, nach Hause zurück, um Anstalten zur Hochzeit zu treffen. Luóranen, der nicht um seine Einwilligung zum Verlöbnis gefragt worden war, wollte die Verbindung seiner Schwägerin nicht zugeben und verzögerte das Aufgebot von einem Sonntag zum andern, bis die Niederkunft der Braut immer näher herbeikam. Am 25. April 1852 endlich wurde das Paar, während Luóranen bei einem Schmause war, ohne sein
Vorwissen kirchlich aufgeboten. Luóranen erfuhr es noch beim Essen, verließ sofort die Gesellschaft, eilte heim, fand aber Maria nicht. Aus Furcht vor seinem Zorn, der ihn schon oft zu groben Mißhandlungen gegen sie verleitet hatte, war sie zu einem Nachbar gegangen, um dort, wie sie schon öfter getan hatte, wenn sie dem heftigen Schwager ausweichen wollte, die Nacht zuzubringen.
Luóranen verlangte von seiner Frau, die bereits im Bett lag, sie solle aufstehen und ihre Schwester holen;
als sie Einwendungen dagegen machte, drohte er ihr mit Schlägen, bis sie ging. Maria weigerte sich aber, ihr zu folgen, sie kam unverrichteter Sache wieder heim. Nun machte sich Luóranen selbst auf, erzwang den Einlaß bei dem Nachbar, riß seine Schwägerin, die sich, um ganz sicher zu sein, zwischen die Nachbarin und deren Mann gelegt hatte, gewaltsam aus dem Bett und schleppte sie in seine Wohnung. Alle suchten ihr Nachtlager auf, Luóranen das neben seiner Frau. Als alles still geworden war
und er die Hausgenossen eingeschlafen glaubte, schlich er sich zu Marias Bett und begann mit ihr zu flüstern. Er schalt sie aus wegen der bevorstehenden Heirat und verlangte, daß sie bei ihnen bleiben solle; als sie ihm widersprach, zog er sein Gürtelmesser heraus, setzte ihr die Spitze auf die Brust und nötigte ihr unter lebensgefährlichen Drohungen das Versprechen ab, das Verhältnis mit Henrik Kókkonen noch im Laufe derselben Woche abzubrechen.
Seine Frau, die von dem Flüstern
aufgewacht war, hatte ihren Mann beobachtet; sie sah, daß er an Marias Bett stand, und hörte, daß ihre Schwester ängstlich die Worte stammelte: »Bester Gustav, schone mich, ich werde die Verlobung aufheben.« Tags darauf erzählte ihr Maria, daß ihr diese Zusage durch die Drohung mit dem Messer abgepreßt worden sei.
Am Morgen nach dieser nächtlichen Szene blieb Luóranen zu Hause, er beschäftigte sich besonders viel mit Maria und war aufmerksam und liebevoll ihr gegenüber. Am 27. April
ging er auf Arbeit, und zwar mußte er sich so weit entfernen, daß er nicht an demselben Tage, sondern erst am 28. April abends nach Hause zurückkehren konnte.
Maria benutzte seine Abwesenheit und verließ am 27. April ihr Dorf, um nicht neuen Gewalttaten des Schwagers ausgesetzt zu sein und noch länger an ihrer Verheiratung gehindert zu werden. Sie begab sich auf Umwegen in ein etliche Meilen von Partsimaa gelegenes Gehöft zu einem gewissen Thomas Oútinen, bei dem ihre Schwester Eva
in Dienst stand.
Am 29. April frühmorgens entdeckte Luóranen, daß Maria sein Haus verlassen hatte. Er fragte, wohin sie gegangen sei, niemand gab ihm Auskunft, er ging zu ihrem Bräutigam, weil er sie dort vermutete, aber er fand sie nicht bei ihm. Heimgekehrt, fällt ihm ein, sie werde bei Thomas Oútinen sein; er erklärt, daß er sie am folgenden Tage dort aufsuchen werde.
Umsonst bemühen sich Frau und Schwiegermutter, ihm den Vorsatz auszureden; er rüstet sich am 30. April
zu dem Gange, schärft unter furchtbaren Drohungen sein Gürtelmesser, steckt es zu sich und macht sich auf den Weg. Nachmittags kommt er zu Oútinen, er erkundigt sich, ob Maria da sei, die Frage wird verneint, und Luóranrn verläßt das Haus nach kurzer Rast mit dem Bemerken, seine Schwägerin werde ihm jedenfalls nicht entgehen.
Die Hausgenossen hatten den wütenden Menschen vom Fenster aus kommen sehen und Maria hinter den großen Ofen versteckt.
Als Luóranen auf dem Rückweg
war, sah er plötzlich von weitem eine Bauersfrau auf das Haus von Oútinen zugehen, die ihrer Gestalt nach Maria ähnlich sah. Er hielt sie für seine Schwägerin, kehrte wieder um und betrat fast gleichzeitig mit ihr das Gehöft. Jetzt überzeugte er sich, daß ei sich getäuscht hatte, erblickte aber gleichzeitig Maria, die ihr Versteck inzwischen wieder verlassen hatte. Luóranen trat von neuem bei Oútinen ein und schalt seine Schwägerin, daß sie, ohne ihn zu fragen, sein Haus verlassen habe.
Die Wirtsleute suchten den unheimlichen Gast loszuwerden, sie gaben ihm, als es dunkelte, zu verstehen, daß er den Heimweg antreten möchte. Luóranen ging jedoch nicht auf den Wink ein, er erklärte, daß er bleiben wollte, und die Gastfreundschaft verbot, ihn wegzuweisen.
Das Abendessen wurde aufgetragen, Luóranen aß mit, nach Tisch begaben sich sämtliche Hausgenossen – außer Maria und deren Schwester, dem Hausherrn und der Hausfrau waren noch deren Tochter, ihr Mann und
ein Knecht anwesend – zur Ruhe, alle schliefen, wie es Landessitte ist, in derselben Stube.
Luóranen legte sich nicht auf das für ihn bereitete Lager, sondern warf nur einen Teil seiner Kleider darauf. Der Hausfrau, die Marias Angst vor ihrem Schwager kannte, fiel das auf, sie wurde dadurch bewogen, aufzubleiben, und setzte sich, spinnend und das Licht mit Kienspänen unterhaltend, in die Nähe des bedrohten Mädchens. Luóranen drängte sich an ihr vorbei, setzte sich neben seine
Schwägerin und fing an, leise mit ihr zu sprechen. Kurz darauf kniete er nieder, nahm ihren Kopf in den einen Arm, umschlang mit dem anderen ihren Leib und küßte und liebkoste sie.
Mehrmals hatte die wachende und mit Spannung horchende Hausfrau zur Ruhe ermahnt, aber umsonst; Luóranen fertigte sie mit dem Bemerken ab, es handele sich um die Heirat.
Gegen ein Uhr, als die anderen Hausgenossen schliefen, sah die Frau vom Hause bei dem Scheine der flackernden Späne, wie
Luoranen plötzlich aufsprang, sein Messer herausriß und es in voller Wut und mit großer Gewalt Maria tief in die Brust stieß. Der durchdringende Schrei des verwundeten Mädchens weckte alles auf, Luóranen eilte, noch ehe man recht zur Besinnung gekommen war, aus der Stube, die sofort hinter ihm abgeschlossen wurde.
Maria war tödlich verwundet. Kaum hatte sie selbst das Messer aus ihrer Brust herausgezogen und sich notdürftig verbinden lassen, da klopfte es von neuem an die Tür, der
Mörder verlangte Einlaß, er forderte seine auf dem Bett liegenden Kleider und fragte, ob Maria tot sei. Man warf ihm die Kleider durch das Fenster hinaus und bejahte seine Frage; Luóranen stürmte fort.
Am Morgen des 1.Mai wurde Maria in das benachbarte Pfarrhaus gebracht und empfing dort das heilige Abendmahl; am 2. Mai wurde sie in das Hospital der Provinzialstadt geschafft, dort kam sie am 5. Mai mit einer Tochter nieder, am 6. Mai starb sie, am 7. Mai das Kind.
Luóranen
kam noch in der Nacht, in der er den Mord begangen hatte, in fürchterlicher Aufregung nach Hause. Er trat mit den Worten ein: »Nun ists vollbracht, was so lange beschlossen war.« Dann erzählte er, daß er Maria erstochen habe, und verlangte von den Hausgenossen, sie sollten ihn verhaften. Niemand glaubte ihm. Am 2. Mai teilte er abermals mehreren Personen mit, daß er seine Schwägerin umgebracht habe, und forderte sie auf, ihn festzunehmen. Er fand auch jetzt keinen Glauben. Am 3. Mai ging er zu
Thomas Oútinen, ließ sich von dessen Schwiegersohn binden und an den Amtmann abliefern, der ihn, von der blutigen Tat in Kenntnis gesetzt, sofort nach der Provinzialstadt zu bringen befahl, wo ihm der Prozeß gemacht werden sollte.
Als es bekannt wurde, daß Marias Mörder wirklich ihr Schwager sei, hieß es allgemein, daß er sie aus Eifersucht ermordet habe. Der Mörder selbst gab dies nicht zu; er suchte seine Tat auf andere Weise zu erklären und gab vor Gericht an: Maria, die von ihm
abhängig gewesen sei, habe sich ohne sein Vorwissen verlobt, und deshalb sei er anfänglich gegen ihr Verhältnis mit Henrik Kókkonen gewesen. Später habe er seine Zustimmung gegeben, jedoch unter der Bedingung, daß das junge Paar zu ihm zöge und ihm bei der Wirtschaft helfe. Er sei nämlich kränklich, leide an einem periodischen Kopfschmerz, der ihn an der Arbeit hindere, bisweilen sogar seine Sinne trübe, er habe daher die kräftige Schwägerin nicht entbehren, sondern im Hause behalten wollen.
Mit Rücksicht auf den in Zukunft gemeinschaftlichen Haushalt seien verschiedene neue Einrichtungen nötig gewesen, und man habe die Abrede getroffen, daß die Hochzeit erst dann stattfinden sollte, wenn alles in Ordnung wäre. Das sei aber noch lange nicht der Fall gewesen, als er plötzlich das Aufgebot erfahren habe. Nun habe er, wie er behauptete, das Mädchen zum Aufschub der Heirat, nicht aber zum Abbruch des Verhältnisses, und zwar durch gütliches Zureden, nicht durch Drohungen,
bewogen, und auch als er sie nicht mehr in seinem Hause fand, habe er nicht daran gedacht, daß sie fortgegangen sei, um sich zu verheiraten. Er will sie gar nicht bei ihrem Bräutigam aufgesucht haben, sondern nur in Geschäften dort gewesen sein, ebensowenig will er ihretwegen zu Thomas Oútinen gegangen sein, diesen Weg vielmehr gemacht haben, um seine andere Schwägerin Eva zu sprechen. Er gibt an, Maria bei Oútinen wiederholt gebeten zu haben, die Hochzeit noch aufzuschieben. Maria sei aber auf
seine Wünsche nicht eingegangen, sondern unfreundlich gegen ihn gewesen, er habe, weil ihn diese Sache lebhaft beschäftigt habe, nicht einschlafen können, sich deshalb zu seiner Schwägerin gesetzt und sie inständig gebeten, sie möge ihm seine Bitte gewähren. Maria habe ihn statt dessen mit Schmähungen überhäuft. Schon vorher durch das kalte Benehmen Oútinens und die Vorwürfe der Hausfrau, die ihm vorhielt, daß die Leute über sein Verhältnis zu Maria sprächen, gereizt und überdies an seinem
Kopfschmerz leidend, sei er durch die spitzen Reden seiner Schwägerin ganz außer sich gekommen, habe völlig ohne Bewußtsein dessen, was er tue, dem Mädchen das Messer in die Brust gestoßen und dann ebenso willenlos die Stube verlassen. In der freien Luft sei er sich erst klar über seine Tat geworden, sei voll Reue zurückgekehrt und habe sich dann selbst den Händen der Gerechtigkeit überliefert.
Luóranen bestritt, daß er jemals eine strafbare Neigung zu Maria genährt und daß er die
Schwägerin aus Eifersucht getötet habe. Er leugnete die Drohung in der Nacht vom 25. zum 26. April und blieb dabei, seine Handlung sei eine Folge seines unzurechnungsfähigen Zustandes gewesen.
Die Untersuchung strafte den Angeschuldigten Lügen und ergab mit völliger Gewißheit, daß der von ihm verübte Mord längst von ihm beschlossen und reiflich überlegt worden war.
Marias Mutter, die Schwiegermutter Luóranens, sagte aus, einige Jahre nach Eingehung der Ehe habe Luóranen
begonnen, seine Schwägerin besonders zärtlich zu behandeln und sie mit Liebkosungen zu überhäufen. Maria ließ sich dies nur ungern gefallen und suchte auszuweichen, soweit sie es konnte, ohne dadurch ihren Schwager gegen sich aufzubringen.
Der Mutter klagte sie, daß Luóranen ihr den Tod angedroht habe, wenn sie sich nicht gutwillig seinen Lüsten hingebe,
Maria wollte häufig das Haus verlassen und in Dienste gehen, aber ihr Schwager willigte nicht ein, und als sie sich
einstmals hinter seinem Rücken vermietet hatte, schlug er sie mit einem Schüreisen und verletzte sie schwer. Einige Zeit nachher versuchte das Mädchen von neuem aus dem Hause zu kommen, in dem ihrer Unschuld nachgestellt wurde.
Sie hatte für den Zweck ihrer Übersiedlung in ein anderes Dorf sich einen Schein von dem Ortsgeistlichen geben lassen und war im Begriff, ihr Vorhaben auszuführen. Luóranen erfuhr es durch die übliche Abkündigung in der Kirche, er ging ihr entgegen, als sie mit
dem Übersiedlungsscheine aus der Pfarre kam, zerriß den Schein und zwang sie, zu bleiben.
Ein ehebrecherisches Verhältnis kann die Mutter zwar nicht bezeugen, aber eines Nachts hat sie ihren Schwiegersohn aufstehen und an Marias Bett schleichen sehen. Auf ihren Vorhalt, daß das eine Sünde sei, ging er sogleich weg und legte sich wieder auf sein Lager.
Anna, die Frau des Mörders, ist, wie das Protokoll über ihre Vernehmung besagt, durch Verwandte und Angehörige zur Ehe mit
Luóranen überredet worden und nur widerwillig seine Frau gewesen. Vor der Verheiratung war er hart gegen sie und hat sich bisweilen sogar tätlich an ihr vergriffen, dennoch war er »allezeit gut und wohlwollend«. Sie hat keine strafbare Vertraulichkeit ihres Mannes mit ihrer Schwester bemerkt. Seine gelegentlichen Liebkosungen hielt sie für Scherz und glaubte, daß Luóranen seine Schwägerin, die sich stets darüber ärgerte, nur necken wollte. Daß er öfter an Kopfschmerzen gelitten habe,
bestätigte seine Ehefrau, aber davon, daß der Kopfschmerz ihm die Besinnung raubte, hat sie niemals etwas bemerkt.
Nachbarn und Leute, die häufig in Luóranens Hause verkehrten, stimmten darin überein, daß nach einem allgemein verbreiteten Gerücht Luóranen mit seiner Schwägerin Maria ein unkeusches Verhältnis unterhalten habe. Augenzeugen einer eigentlichen Vertraulichkeit sind nur wenige gewesen. Ein Nachbar sah eine lüsterne Umarmung des Angeschuldigten, gegen die sich Maria heftig
sträubte. Eine Nachbarin hatte Luóranen häufig mit seiner Schwägerin zusammen getroffen, sie bemerkte, daß beide in den öffentlichen Badestuben nicht selten allein blieben, wenn die anderen bereits fertig und wieder herausgegangen waren. Die Mutter des Mädchens hatte einmal zu ihr gesagt: »Bei uns muß man, um einem Unglück vorzubeugen, die Nächte hindurch wachen wie bei Kranken«, und Maria selbst hatte ihr schon vor zwei Jahren mitgeteilt, daß sie vor ihrem Schwager ihres Lebens nicht sicher
sei. Die Nachbarin hatte daraus geschlossen, daß Luóranen seiner Schwägerin nachgestellt und sie bedroht habe, wenn sie ihm nicht zu Willen sein wollte. Sie hatte über dieses Benehmen Luóranens öffentlich ihre Mißbilligung ausgesprochen und unverhohlen den strafbaren Umgang und die Untreue des Angeschuldigten getadelt. Luóranen, dem diese Äußerungen hinterbracht worden waren, hatte gerichtliche Klage wegen der ihm widerfahrenen Beleidigung erhoben, der Prozeß war indes durch Vergleich beigelegt
worden.
Weiter wurden viele Personen ermittelt, die bei dem Auftritte zugegen waren, als Luóranen seine Schwägerin mit dem Schüreisen blutig schlug, weil sie sich ohne seine Genehmigung vermietet hatte.
Die Drohung in der Nacht vom 25. zum 26. April, da Luóranen dem Mädchen das Gürtelmesser auf die Brust gesetzt hatte, um den Bruch des Verlöbnisses zu erzwingen, konnten die Frau und die Schwiegermutter bezeugen. Letztere hatte noch am 29. April mit Rücksicht auf jenen
Vorgang geäußert, daß sie sehr besorgt sei wegen ihrer Tochter Maria und befürchte, Luóranen werde sich an ihr vergreifen.
Einer Verwandten gestand Luóranen am 1.Mai den von ihm verübten Mord, und er fügte hinzu, daß er die Tat schon seit neun Jahren beschlossen gehabt habe. Befragt, weshalb er den Mord begangen habe, hatte er damals erwidert: »Solange ich sie geliebt habe, solange habe ich ihren Tod beschlossen; ich kann nicht ohne sie leben und wissen, daß sie einem andern
gehört,«
Luóranen hatte mit diesen Worten das Motiv seines Verbrechens selbst bekannt. Übrigens vereinigten sich sämtliche Nachbarn in dem Zeugnis, daß ihnen Luóranen zwar als reizbar und herausfordernd, aber auch als ein friedlicher, wohlwollender, stiller und mäßiger Mann bekannt sei. Bisweilen habe er wohl über Kopfschmerz geklagt, aber eine Veränderung seines Wesens sei dadurch nicht hervorgebracht und seine Geisteskraft nicht gestört worden.
Die Bewohner des Hauses, in
dem Maria einen so jähen Tod fand, wurden ebenfalls vernommen; man erfuhr von ihnen noch einige Einzelheiten über die Ereignisse des 30. April und der folgenden Nacht.
Hastig und ängstlich war Maria zu Thomas Oútinen gekommen und hatte erzählt, sie müsse vor ihrem Schwager fliehen, der ihr am Abend nach dem Aufgebot den Tod angedroht habe, wenn sie ihrem Bräutigam nicht aufsage. Ihrer dort dienenden Schwester teilte sie mit, der Schwager habe sie bisweilen zum Beischlaf nötigen
wollen, und der Hausfrau vertraute Maria an, ihre Unschuld und das Kind, das sie unter dem Herzen trage, gehöre zwar ihrem Verlobten, allein seit sie schwanger sei, habe sie ihrem Schwager zweimal zu Willen sein müssen.
Als man am 30. April Luóranen kommen sah, wurde Maria versteckt, Luóranen trat ein, fragte sogleich nach Maria, spähte forschend umher, ging und kam sofort wieder; er bat seine Schwägerin Eva, mit ihm herauszukommen, und erkundigte sich nochmals, ob ihre Schwester
nicht da sei. Als sie es verneinte, sagte er: »Ich weiß genau, daß Maria hier ist, aber verborgen wird; sie soll mir jedoch nicht entgehen, sicher ist sie vor mir höchstens bis zu ihrer Hochzeit, diese wird sie nicht mehr als zwei bis drei Tage überleben.« Das Mädchen brach, erschrocken über diese Drohrede, in Tränen aus. »Du weinst,« erwiderte ihr Schwager, »ei freilich! Aber meine Tränen hat keiner gezählt.« Nach diesen Worten entfernte er sich. Unterwegs traf er einen Bekannten und teilte ihm
über den Zweck seines Ganges mit, er sei genötigt, seine Schwägerin Maria sorgfältig zu überwachen, weil sie schwanger sei und schon früher zweimal ihre Leibesfrucht abgetrieben habe.
Als Luóranen zum zweitenmal zu Oútinen zurückkehrte und nun seine Schwägerin fand, wurde er von der Hausfrau wegen seines Benehmens zur Rede gestellt; sie hielt ihm seine frevelhafte Liebe zu Maria vor und ermahnte ihn, er solle doch, da sie die Braut eines andern und er selbst verheiratet sei, seine
ganze Kraft zur Unterdrückung einer Leidenschaft, die ihm verderblich werden müsse, aufbieten, er solle Hilfe bei Gott suchen, und unter Leitung seines Seelsorgers werde er schon einen Ausweg aus dieser sündhaften Verstrickung finden. Luóranen antwortete: »Ich will Maria von ihrer leichtsinnigen Verlobung abbringen; ich habe gerungen und gebetet, aber nichts in der Welt kann mich von Maria trennen.«
Bald darauf hatte Luóranen ein Zwiegespräch mit der erwachsenen Tochter vom Hause.
Von Maria war ihr mitgeteilt worden, ihr Schwager habe ihr noch am 26. April Vorwürfe gemacht, daß sie ihm ihre Schwangerschaft nicht früher angezeigt habe, weil es dann noch möglich gewesen sei, die Frucht abzutreiben; nun bleibe nichts weiter übrig, als das Kind umzubringen, Maria hatte ihr ferner erzählt, schon vor Jahren habe Luóranen sie vor sich selbst gewarnt, weil es ihm »nach ihrem Blut gelüste«, und sie gebeten, sie möge doch dagegen Hilfe und Heilung suchen, Maria war infolgedessen in
dem benachbarten Kirchspiel Walkiala gewesen, hatte dort alle klugen Weiber aufgesucht und sich ihrer Behandlung anvertraut, aber alles war erfolglos gewesen, Luóranen fand sie trotz der Kuren jener weisen Frauen ebenso liebenswürdig wie früher; noch am Tage vorher, ehe sie zu Oútinen kam, schlug er ihr vor, mit ihm, wenn der Schnee schmelze und ihre Spuren dadurch unsichtbar würden, in die tiefsten Wälder zu fliehen, und dort wolle er erst sie, dann sich selbst umbringen.
Luóranen
hatte dann selbst bestätigt, was Maria der Tochter Oútinens gesagt hatte. Er hatte ihr mitgeteilt: Bald nach seiner Vermählung mit Anna habe er ihre Schwester lieb gewonnen, er habe alles aufgeboten, um diese unselige Liebe zu bekämpfen, aber sie sei mit jedem Jahre gewachsen, und jetzt könne er nicht mehr ohne Maria leben. Er betrachte es als ein Glück, mit ihr zu sterben, und oft beschleiche ihn der Wunsch, sich mit ihr zu töten. Luóranen behauptete, diese unheimliche Liebe rühre von einer
Verwünschung her, er meinte, ein von ihm in früheren Jahren verführtes Weib, dem er dann untreu geworden sei, habe ihn behext.
Kurze Zeit nach diesem Gespräche Luóranens mit der Tochter Oútinens begab sich alles zur Ruhe. Wir wissen bereits, daß Luóranen sich in jener Nacht neben Maria setzte, mit ihr flüsterte und endlich, wie von einer dämonischen Gewalt getrieben, aufsprang und ihr das Messer bis ans Heft in die Brust stieß. Das Mordwerkzeug scheint er beim Entkleiden zu sich
gesteckt und es, während er mit Maria flüsterte, in der Tasche seiner Beinkleider verborgen gehalten zu haben. Wie das sterbende Mädchen berichtete, ist er in jener Nacht nicht bloß in sie gedrungen, die Hochzeit aufzuschieben, sondern hat sie auch zu überreden gesucht, ihm das Kind zu überlassen, damit er es töten könne. Seine Mordlust konnte kaum erwarten, daß die männlichen Hausgenossen eingeschlafen waren. Er forderte Maria auf, sie solle mit ihm in den Hof gehen oder sich in der Stube auf
einen anderen Platz legen. Das Mädchen ahnte, was ihr bevorstand; sie wagte nicht, sich zu regen, hielt die Hände über Hals und Herz, um sich zu schützen vor ihrem fürchterlichen Schwager, aber vergeblich, das Messer saß ihr in der Brust, ehe sie einen Hilferuf ausstoßen oder sich auf die Seite drehen konnte.
Das waren die Ergebnisse der Untersuchung, Luóranen beharrte auch den Aussagen der Zeugen gegenüber dabei, daß er Marias Tod zwar verschuldet, aber nicht beabsichtigt habe. Er
behauptete nunmehr, daß er gefürchtet habe, Maria werde ihr Kind, wenn es zur Welt gekommen sei, ermorden, denn sie habe schon früher unter dem Beistand ihrer Mutter und Schwester durch häufige Aderlässe und sonstige Kunstgriffe sich die Frucht abgetrieben. Er sei zu Oútinen gegangen, um Maria von so schwerer Sünde abzuhalten. Dort habe man ihm strafbaren Umgang mit der Schwägerin vorgeworfen, ihn dadurch gereizt, das Mädchen sei auch unfreundlich gewesen, und da habe er sie denn im Zorn und
ohne zu wissen, was er tue, erstochen.
Das Gericht schenkte diesem Vorgeben natürlich keinen Glauben. Es wurde als bewiesen angenommen, daß Luóranen die Tat bei voller Zurechnungsfähigkeit und mit Überlegung begangen habe, der Mörder wurde zum Tode verurteilt und dann, wie es seit Jahren üblich ist, zur Verbannung nach Sibirien begnadigt.
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