Frei Lesen: Geschichten aus dem Neuen Pitaval - 3

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Willibald Alexis

Geschichten aus dem Neuen Pitaval - 3

Johanna Winter

eingestellt: 7.8.2007



In Apolda lebte der Schneidermeister Adam Winter, der sich eines guten Rufes erfreute. Er hat neun Kinder, drei Söhne und sechs Töchter, die brav erzogen waren; sieben davon waren zu der Zeit, in der unsere Geschichte spielt, bereits versorgt und verheiratet. Nur eine Tochter, Johanna, vertrug sich, als sie erwachsen war, nicht mit der Familie. Sie zeigte schon bald ein überspanntes, hoffärtiges Wesen, liebte einen über ihre Verhältnisse gehenden Putz, war dabei leichtfertig und in einer Weise ausgelassen, daß die Eltern und Geschwister sie für etwas verdreht halten mußten. Johanna, voll und kräftig gebaut und von angenehmer Gesichtsbildung, verließ im vierundzwanzigsten Jahre das Haus ihrer Eltern und trat zuerst in Weißenfels, dann an anderen Orten in Dienste. Die Zeugnisse, die ihr von ihren Herrschaften und den Ortspolizeibehörden gegeben wurden, lauteten nicht vorteilhaft; es werden ihr Lügenhaftigkeit, Verstellungskunst, Hang zu sinnlichen Ausschweifungen nachgesagt. Eine Spur von Geisteszerrüttung hat man an ihr nirgends wahrgenommen, nur eine auffallende Äußerung von ihr wird aus dieser Zeit mitgeteilt. Sie diente gegen Ende des Jahres 1859 in Weimar und äußerte eines Morgens, nachdem sie am Abend zuvor eine Theatervorstellung besucht hatte, sie sei vom Teufel umstrickt. Später trat sie in dem Dorfe Oßmannstedt bei Weimar in Dienst, gab aber Anlaß zu einer Störung des häuslichen Friedens, wurde bald wieder entlassen und erhielt eine Bemerkung hierüber in ihr Dienstbuch. Sie fälschte das Zeugnis und wurde deshalb zu einer vierzehntägigen Gefängnisstrafe verurteilt. Der Gendarm, der die Fälschung entdeckte und Nachforschungen anstellte, sagte später aus, die Winter habe damals ihm gegenüber getan, als wäre sie nicht ganz bei Sinnen.

In Weimar hatte Johanna Winter mit einem Manne ein vertrautes Verhältnis angeknüpft, der wenige Monate darauf wegen Teilnahme an allerhand Betrügereien von dem Schwurgericht zu mehrjähriger Arbeitshausstrafe verurteilt wurde. Das Verhältnis hatte Folgen, die Winter teilte aber ihren Zustand weder ihrem Geliebten noch ihrer Familie mit, obwohl sie anderen Leuten gegenüber kein Geheimnis daraus machte. Sie hielt sich im Herbst 1860 bei den vier unverheirateten Schwestern Köhler in Oßmannstedt auf und erwarb sich durch Näharbeit ihren Unterhalt, dann ging sie nach Apolda, aber nicht zu ihren Eltern oder einem ihrer verheirateten Geschwister, sondern zu einer Witwe, und dort kam sie am 17. November mit einem Knaben nieder. Das Kind litt viel an Schwämmchen, war sehr unruhig und gedieh nicht besonders, und die Winter wurde selbst von einem nicht unbedenklichen Kindbettfieber mit Frieseln ergriffen. Sie bewies ihrem Kinde große Liebe, tat alles, was in ihren Kräften stand, für das Kleine und nahm sich seinen Zustand so zu Herzen, daß die Hebamme sie öfters deswegen tadelte und sie zu trösten versuchte, obwohl sie selbst an dem Aufkommen des Kindes zweifelte. Die Gesundheit des Kindes und der Mutter besserte sich jedoch wieder, und am 3. Dezember zog die Winter zu einer ihrer in Apolda verheirateten Schwestern, die sich liebreich ihr gegenüber erwiesen und ihr auch versprochen hatte, dafür zu sorgen, daß das Kind gut untergebracht werde. An demselben Tage kam gerade eine der Schwestern Köhler aus Oßmannstedt nach Apolda, um sich nach der Winter zu erkundigen, und ließ sich bewegen, die Winter mit ihrem Kinde wieder aufzunehmen und das Kind wenigstens so lange zu behalten, bis es irgendwo gut untergebracht wäre.

Noch am gleichen Abend wanderte Johanna mit ihrem Kinde und mit der Köhler nach Oßmannstedt und wurde dort von den drei andern Schwestern Köhler freundlich aufgenommen. Johanna sollte mit ihrem Kinde in einem Bett in der nämlichen Kammer neben der Wohnstube schlafen, in der auch die Betten der Friederike und Wilhelmine Köhler standen; Eleonore und Amalie Köhler hatten ihre Schlafstätien im ersten Stockwerk des Hauses. Friederike Köhler machte sich dann am 5.Dezember auf den Weg nach einem benachbarten Dorf, um dort Leute zu suchen, die das Kind der Winter in Pflege nehmen wollten, kehrte aber unterwegs wieder um, weil schlechtes Wetter eintrat. Ein weiterer Schritt zu dem angegebenen Zwecke wurde nicht getan, und es scheint verabredet worden zu sein, daß das Kind zunächst bei der Mutter bleiben solle. Dabei unterließen die Schwestern Köhler, dem Ortsbürgermeister von dem Aufenthalte der Winter Anzeige zu machen, wahrscheinlich weil die Winter schon früher nur durch ihren freiwilligen Weggang nach Apolda einer Ausweisung entgangen war und sie deshalb fürchteten, ihre Aufnahme würde ihnen Unangelegenheiten machen. Übrigens ist hier gleich zu bemerken, daß die Schwestern Köhler sich eines tadellosen Rufes erfreuten.

Johanna Winter wußte sich auch jetzt wieder durch ihr freundliches Betragen und durch Arbeitsamkeit das Wohlwollen ihrer Wirtinnen zu erwerben. Sie schien das Kind sehr zu lieben, das sich nun auch wohler zu befinden schien, aß und trank und nur in der Nacht häufig unruhig war, und zuweilen klagte die Mutter, daß es an Krämpfen leiden müsse, denn es verdrehe die Augen, hielte den Kopf schief und balle die Händchen. Solch ein Anfall trat auch am Abend des 8.Dezember ein und wiederholte sich zweimal in der Nacht; gegen fünf Uhr morgens beruhigte sich das Kind und schlief noch um sieben Uhr ganz sanft, als Friederike und Wilhelmine Köhler aufstanden und die Kammer verließen. Etwa eine Viertelstunde darauf kam auch Johanna Winter in die Stube und bereitete ihrem Kinde Essen. Sie wollte dann das Kind wecken, doch Wilhelmine Köhler riet ihr, zu warten, bis es von selbst aufwache, es lasse sich dann besser füttern. Die Winter folgte dem Rate, als das Kind aber nach einer Viertelstunde noch nicht munter geworden war, ging sie in die Kammer und fand, daß es ganz verändert war, die linke Seite des Gesichts sah bläulich aus. Auf das Rufen der Mutter hin kamen die Schwestern Köhler herbei und fanden das Kind tot. Sie nahmen an, der Schlag habe es gerührt.

Es wurde nun beraten, was mit dem Leichnam anzufangen sei. Johanna Winter sagte, das Kind müsse, da es in Apolda zur Welt gekommen sei, dort auch begraben werden, und die Schwestern Köhler pflichteten dem bei; jedenfalls fürchteten sie auch Unannehmlichkeiten von der Ortspolizeibehörde wegen der unterlassenen Anzeige. Friederike Köhler begab sich zu der Schwester der Winter, teilte dieser das Ereignis mit, und die Totenfrau wurde herbeigerufen. Johanna Winter hatte auch geäußert, daß sie nichts dagegen habe, wenn der Leichnam an das anatomische Institut nach Jena abgeliefert werde. Die Leichenfrau ging zu einem gewissen Krämer, der derartige Gänge zu besorgen pflegte, und da er selbst nicht einheimisch war, beauftragte sie einen anderen Mann namens Stoß, das Kind von Oßmannstedt zu holen, ohne daß sie vorher die Entscheidung des Oberbürgermeisters von Apolda eingeholt hatte. Stoß nahm einen Büchsenranzen, der von Krämer zu solchen Transporten benutzt zu werden pflegte, und begab sich noch am gleichen Abend nach Oßmannstedt. Er fand, daß das Kind in der Kammer auf der Diele zugedeckt lag, forderte Licht und sah dann um den Mund des Kindes herum Blut. Als er darauf aufmerksam machte, erwiderte Friederike Köhler, das sei von den Krämpfen. Der Leichnam wurde nicht weiter besichtigt, sondern in ein neues Hemd eingeschlagen und von Stoß mit den Füßen zuunterst in den Büchsenranzen gesteckt und so nach Apolda getragen.

Inzwischen hatte die Leichenfrau dem Oberbürgermeister Anzeige gemacht und von diesem den Bescheid erhalten, da das Kind in Oßmannstedt gestorben sei, müsse es auch dort begraben oder von dort aus nach Jena abgeliefert werden. Der Büchsenranzen wurde gar nicht aufgeschnürt, sondern in einer oberen Stube der Kramerschen Wohnung die Nacht über aufbewahrt und dann am Morgen des 10. Dezember von Kramer selbst nach Oßmannsiedt zurückgebracht. Kramer benachrichtigte den Ortsbürgermeister und nahm in seiner Gegenwart in der Kammer des Köhlerschen Hauses die Kindesleiche heraus und legte sie auf Stroh. Er bemerkte dabei, daß sich aus dem After des Kindes Blut ergossen hatte. Auch diese Erscheinung suchte eine der mit anwesenden Schwestern dadurch zu erklären, daß die Krämpfe dem Kinde wahrscheinlich die Därme zerrissen hätten. Einer näheren Untersuchung wurde der Leichnam auch damals nicht unterzogen.

Noch ein Umstand ist hier gleich zu erwähnen. Die Winter hatte sofort nach dem Tode ihres Kindes unaufgefordert das Kopfkissen gewaschen, auf dem sie mit ihrem Kinde geschlafen hatte. Sie gab das auch zu und erklärte es in Übereinstimmung mit den Schwestern Köhler dadurch, daß es im Hause üblich gewesen sei, jedes Stück sofort zu waschen, wenn es nötig sei. Im Bett selbst hat man später keine Blutspuren entdeckt.

Johanna Winter schien sich den Tod ihres Kindes sehr zu Herzen zu nehmen. Am Abend des 10.Dezember, als sie mit den Schwestern Köhler zusammen in der Stube saß, fuhr sie plötzlich einmal in die Höhe, sah eigentümlich um sich und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum.

Die Ereignisse erregten Aufsehen im Ort und gelangten zur Kenntnis der Gendarmerie. Es wurde dem Staatsanwalt Anzeige gemacht, und auf dessen Veranlassung wurde der noch unbeerdigte Leichnam in Beschlag genommen und dem Großherzoglichen Kreisgericht in Weimar zur gerichtsärztlichen Obduktion und Sektion überbracht, vor dem zugleich auch Johanna Winter vorgeführt wurde.

Als in Gegenwart des Gerichts und des Gerichtsarztes der Leichnam aus der Schachtel herausgenommen wurde, zeigte sich, daß die beiden Hemden und das Mützchen an der linken Seite des Halses von noch flüssigem hellroten Blute durchdrungen waren. An der linken Seite des Halses, über dem Schlüsselbein und parallel mit ihm, verlief eine Querwunde, in deren Grunde flüssiges schwärzliches Blut stand. Diese Wunde maß von links nach rechts einen reichlichen Zoll und klaffte in der Mitte einen halben Zoll auseinander. Die Wundränder waren scharf und ohne Zacken, sie verliefen nach beiden Seiten hin im spitzen Winkel. Am Grunde der ausgewaschenen Wunde sah man die hier liegenden Muskeln, doch quoll bei leichtem Druck neues Blut von unten nach oben, das ganz schwarz aussah.

Nachdem durch einen Längsschnitt am Vorderteile des Halses hinab und durch einen Querschnitt am unteren linken Teile des Thorax sowie durch Aufwärtspräparieren des dadurch gebildeten Hautlappens die völlig erhaltene Hautwunde zurückgeschlagen und der Grund übersichtlich gemacht worden war, zeigte sich das lockere Zellgewebe an dieser Stelle des Halses ebenfalls getrennt und der Schlüsselbeinteil des linken Kopfnickers entblößt. Der Grund der Wunde bildete also eine kleine Höhle, die sich bei weiterem Verfolgen nach hinten bis an den Schulterfortsatz des Schlüsselbeins und nach unten bis hinter die zweite Rippe erstreckte. Aus diesem unteren Teile der Höhle ergoß sich fortwährend schwarzes, etwas dickflüssiges Blut. Luft- und Speiseröhre fanden sich unverletzt.

Auf diese Wahrnehmungen stützte sich das gerichtsärziliche Gutachten. Es lautete folgendermaßen:

»Bei dem Fehlen sowohl einer anderen Verletzung des Körpers als auch einer jeden unnormalen Beschaffenheit der inneren Organe glauben wir aussprechen zu dürfen, daß mit höchster Wahrscheinlichkeit die soeben beschriebene Halswunde den Tod des Kindes, und zwar durch eine starke Blutung aus der äußeren Drosselvene oder eines Hauptastes derselben, herbeigeführt habe. Obwohl dieses Gefäß selbst nicht aufgefunden wurde, so setzt doch das nachhaltige Eindringen von schwarzem, also venösem Blut in die Wunde die Annahme einer verletzten großen Vene, also an dieser Halsstelle jedenfalls der äußeren Drosselvene, außer Zweifel. Eine Blutung aus einer so großen Blutader mußte in dem zarten Alter des Kindes sofort Ohnmacht und Collapsus erzeugen, die in Scheintod und bald in den wirklichen Tod übergehen mußten, ohne daß hierzu eine völlige Verblutung bis zur gänzlichen Blutleere notwendig gewesen wäre. Es widerspricht dieser Annahme demnach der vorgefundene Blutreichtum im Gehirn, den Lungen und der Leber keineswegs, da die äußere Drosselvene nur das Blut aus den äußeren Kopfteilen und nicht aus dem Gehirn zurückführt, nach dem Tode aber das Blut überhaupt sich in den Venen ansammelt, wodurch die genannten Organe, namentlich Lunge und Leber, trotz eines großen Blutverlustes immer noch blutreich und dunkel gefärbt erscheinen können, wie das hier der Fall ist. Auch die rechte und venöse Herzseite würde Blut enthalten haben, wenn dieses Blut nicht bei der horizontalen Lage der Leiche in die obere Hohlvene zurückgeströmt und aus dieser in die Drosselvenen gelangt und aus der verletzten Ader ausgeflossen wäre.

Daß die Wunde dem Kinde höchstwahrscheinlich bei Lebzeiten desselben zugefügt worden und nicht erst nach dem Tode entstanden ist, dafür spricht vor allem das weite Klaffen des Risses bis zu einem halben Zoll, während sich die tote Haut nicht zurück- oder zusammenzieht, also die Ränder einer solchen nach dem Tode beigebrachten Wunde schlaff aneinander liegenbleiben.

Gestalt und Beschaffenheit der Wunde kennzeichnen sie als scharfe Schnittwunde, doch spricht die nach unten bis etwa zur zweiten Rippe weitergehende Vertiefung für einen gleichzeitigen Stich, wonach das Instrument also ein spitzes, breiter zulaufendes und zugleich schneidendes gewesen sein muß. Das Blut an dem Leichenhemd kann, obwohl es hellrot erscheint, dennoch aus derselben Quelle, der äußeren Drosselvene, herstammen, weil das schwarze Blut an der Luft bald eine hellrote, arterielle Farbe annimmt. Das Blut an dem viereckigen leinenen Lappen, der quer über dem Leibe der Kindesleiche lag, war nur ausgeschmiert, wie wenn sich jemand mit Blut besudelt und die Finger an dem Tuche abgewischt hätte.«

Der Büchsenranzen, in dem die Kindesleiche hin- und hergeschafft worden war, war mit einem Zuge von Bindfaden und einer messingnen eindornigen Schnalle am Tragriemen versehen, Blutspuren fanden sich in ihm nicht vor, ebensowenig etwas, wodurch der Kindesleichnam hätte verletzt werden können, auch der Dorn der Schnalle würde nicht imstande gewesen sein, die beschriebene Wunde zu verursachen, da diese von einem spitzen und zugleich schneidenden Instrument herrühren mußte.

So war der verhängnisvolle Knoten geschürzt: die Wunde mußte dem lebenden Kinde beigebracht worden, es mußte daran gestorben und niemand anders als die Mutter konnte die Täterin gewesen sein. Es fragte sich nun, was sie zu dem fast unerklärlichen Morde an dem von ihr geliebten Kinde bewogen haben konnte.

Bei dem ersten Verhör brach die Winter in die Worte aus: »Ach Gott, das ist gar nicht möglich, wie soll das zugegangen sein? Der erste Mann hat das Kind ganz unversehrt mit fortgenommen; da sind Köhlers Mädchen Zeugen dafür, daß ich dem Kinde nichts zuleide getan habe. Ach Gott im Himmel, ich habe ja die Nacht noch das Kind im Mantel herumgetragen. Ich kann nicht erklären, wie die Wunde entstanden ist.«

An den folgenden Tagen ließ die Winter den Untersuchungsrichter mehrmals bitten, sie vorzulassen; ihr Ansuchen wurde ihr stets sofort gewährt, sie brach dann in Tränen aus, rang und wand die Hände, fiel auf die Kniee, sprach von der Pflicht, die Wahrheit sagen zu müssen, versicherte aber, daß sie das schon getan und nichts weiter zu gestehen habe. Zwischendurch waren ihre Reden zuweilen ganz verworren, oft redete sie heimlich in sich hinein, ihre Gebärden und Mienen deuteten auf Geistesstörung. Ihr einziger Wunsch war, nach Oßmannstedt geführt zu werden, damit sie selbst ihr dort stehendes Bett untersuchen könne. Am fünften Tage ihrer Haft zertrümmerte die Winter im Gefängnisse ihr Trinkgefäß und schleuderte das Brot und alle beweglichen Gegenstände an die Tür.

Nachdem ihr das gerichtsärztliche Gutachten vorgehalten worden war, beteuerte sie wiederholt ihre Unschuld und behauptete, die Wunde müsse dem Kinde erst nach dessen Tode beigebracht worden sein, von wem und wie und aus welchem Grunde, darüber konnte sie allerdings nicht einmal eine Vermutung angeben. Sie fügte hinzu, sie wolle ihre Strafe geduldig leiden, und sollte es die Todesstrafe sein.

Sie zeigte in diesen Wochen eine große Schreibseligkeit und richtete mehrere Eingaben an ihren Untersuchungsrichter, dem sie überhaupt großes Vertrauen schenkte. Der Inhalt dieser stets ziemlich umfänglichen, aber nur geringe Schulkenntnisse verratenden Schreiben läßt an keiner Stelle auf eine Störung der Verstandeskräfte schließen. Die Winter erkennt die Schwere der einzelnen Verbachtsgründe, den Zusammenhang der für sie bedrohlichen Schlußfolgerung vollkommen klar und verteidigt sich dagegen, schriftlich und mündlich, äußerst geschickt und oft sogar mit einem überraschenden Scharfsinn. Sie macht für sich geltend, daß sie ihre Schwangerschaft nicht verheimlicht habe, daß sie jede Fürsorge für das Kind getroffen habe, daß sie ihr Kind geliebt habe, daß sie Unterstützungen von ihrer Familie erhalten habe, daß sie auch selbst genügende und lohnende Arbeit und also alles in allem gar keine Veranlassung zu einem Mord gehabt habe. Dann bemerkt sie sehr richtig, sie würde doch mit dem Bewußtsein einer solchen Tat den Leichnam nicht erst nach Apolda geschickt und nach Jena zu schicken beabsichtigt haben, wo durch die Ärzte die Halswunde sofort hätte bemerkt werden müssen. Trotzdem fühlt die Winter, daß alle diese Gründe doch nicht imstande sind, die Ergebnisse des ärztlichen Befundes zu entkräften. Wahrhaft merkwürdig ist aber eine Eingabe, in der die Winter – natürlich ohne im geringsten etwas von den Zweifeln zu wissen, die den Untersuchungsbehörden und neuerdings dem Gerichtsarzt selbst gekommen, und von den Schritten, die daraufhin bereits eingeleitet waren – das medizinische Gutachten geradezu angreift, indem sie behauptet, eine Verblutung aus einer so kleinen Wunde sei unmöglich, und wenn die Wunde dem lebenden Kinde beigebracht worden wäre, müsse sie »verschwollen« gewesen sein, da sie aber »glatt« sei, könnte sie nur dem Leichnam beigebracht worden sein. Die Winter glaubt, daß derartige Fälle dem weimarischen Gerichtsarzt nicht häufig vorkämen, und bittet darum, die Sache einem von ihr namhaft gemachten ausgezeichneten Jenaer Arzt zu nochmaliger Untersuchung vorzulegen.

Diese Einwendungen, die von einem Mädchen auf der Bildungsstufe der Winter Staunen erregen müssen, leitet sie in einer, wie wir bald sehen werden, ebenfalls merkwürdigen Weise ein. Zur Probe von Stil und Grammatik wollen wir den Eingang eines Schreibens buchstäblich geben: »Da mir der Herr Greißgerichtsrath, welger Mir nochmals erlaubt, indem ich es besser schreibe Wie sagen kan, Ich bin getz hinder viehles gekomen, Welges noch der letze und richtige grundt zun meiner Verdeudigungen ist.«

Neben diesem Bestreben, ihre Unschuld darzutun, spricht sich oft die Angst aus, als Kindesmörderin vor das Geschworenengericht gestellt zu werden, und vor der Schande, die das ihren Eltern machen würde. Sie erklärt, sie wolle dann lieber die Todesstrafe erleiden. Und das scheint keine leere Redensart, sondern das Ergebnis eines schweren Gemütskampfes gewesen zu sein, denn bei den wiederholten Unterredungen, die sie auf ihren Wunsch hin mit dem Untersuchungsrichter und dem Staatsanwalt hatte, machte sie den Eindruck, als sei sie bereit, alles zu tun, was sie zu diesem letzten Ziele führen könnte. Einmal äußerte sie geradezu, etwa drei Tage vor dem Tode ihres Kindes sei ihr im Traume ein Mann in brauner Kutte und mit grauem langen Barte erschienen und habe ihr das Kind entreißen wollen, sie habe es aber ganz fest an sich gedrückt und sei darüber erwacht. Sie fragte mit seltsam zweifelhaftem Tone, ob wohl dieses heftige Drücken den Tod des Kindes verursacht haben könne. Es hätte vielleicht wenig Überredung gekostet, die Winter zu dem allgemeinen Geständnis zu bestimmen, daß sie die Schuld am Tode des Kindes trage. Doch es war ja festgestellt, daß das Kind sich in den letzten Tagen verhältnismäßig wohl befunden hatte und von einem Zutodedrücken gar nicht die Rede sein konnte. Das wurde der Winter entgegengehalten, und auf die bestimmte Frage hin, ob sie ein spitzes und schneidendes Instrument ergriffen und dem Kinde damit die Halswunde zugefügt habe, antwortete sie mit einem entschiedenen Nein. Wir gehen vielleicht nicht fehl, wenn wir annehmen, daß die Angeschuldigte in ihrer Überspanntheit und krankhaften Gemütserregung sich bereits mit dem Gedanken, als unschuldiges Opfer auf dem Blutgerüst zu fallen, ausgesöhnt hatte.

In ihren Schreiben und ihren Reden gab sich zugleich eine tiefe dem Religiösen zugewandte Schwermut kund. Sie klagte über die traurigen Schicksale ihres Lebens, äußerte, daß sie oft schon in die Versuchung gekommen sei, freiwillig den Tod zu suchen, daß nur der Gedanke an Gott und die Furcht vor seinem Gericht sie davon abgehalten habe. Diesen Gefühlen lieh sie auch in poetischer Form Ausdruck. Als Probe dieser Poesie – auf die sie übrigens selbst nicht wenig eitel zu sein schien – geben wir folgende Strophe aus einem längeren Gedicht:

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