In Apolda lebte der Schneidermeister Adam Winter, der sich eines guten Rufes erfreute. Er hat neun Kinder, drei Söhne und sechs Töchter, die brav erzogen waren; sieben davon waren zu der Zeit, in der unsere Geschichte spielt, bereits versorgt und verheiratet. Nur eine Tochter, Johanna, vertrug sich, als sie erwachsen war, nicht mit der Familie. Sie zeigte schon bald ein überspanntes, hoffärtiges Wesen, liebte einen über ihre Verhältnisse gehenden Putz, war dabei
leichtfertig und in einer Weise ausgelassen, daß die Eltern und Geschwister sie für etwas verdreht halten mußten. Johanna, voll und kräftig gebaut und von angenehmer Gesichtsbildung, verließ im vierundzwanzigsten Jahre das Haus ihrer Eltern und trat zuerst in Weißenfels, dann an anderen Orten in Dienste. Die Zeugnisse, die ihr von ihren Herrschaften und den Ortspolizeibehörden gegeben wurden, lauteten nicht vorteilhaft; es werden ihr Lügenhaftigkeit, Verstellungskunst, Hang zu sinnlichen
Ausschweifungen nachgesagt. Eine Spur von Geisteszerrüttung hat man an ihr nirgends wahrgenommen, nur eine auffallende Äußerung von ihr wird aus dieser Zeit mitgeteilt. Sie diente gegen Ende des Jahres 1859 in Weimar und äußerte eines Morgens, nachdem sie am Abend zuvor eine Theatervorstellung besucht hatte, sie sei vom Teufel umstrickt. Später trat sie in dem Dorfe Oßmannstedt bei Weimar in Dienst, gab aber Anlaß zu einer Störung des häuslichen Friedens, wurde bald wieder entlassen und
erhielt eine Bemerkung hierüber in ihr Dienstbuch. Sie fälschte das Zeugnis und wurde deshalb zu einer vierzehntägigen Gefängnisstrafe verurteilt. Der Gendarm, der die Fälschung entdeckte und Nachforschungen anstellte, sagte später aus, die Winter habe damals ihm gegenüber getan, als wäre sie nicht ganz bei Sinnen.
In Weimar hatte Johanna Winter mit einem Manne ein vertrautes Verhältnis angeknüpft, der wenige Monate darauf wegen Teilnahme an allerhand Betrügereien von dem
Schwurgericht zu mehrjähriger Arbeitshausstrafe verurteilt wurde. Das Verhältnis hatte Folgen, die Winter teilte aber ihren Zustand weder ihrem Geliebten noch ihrer Familie mit, obwohl sie anderen Leuten gegenüber kein Geheimnis daraus machte. Sie hielt sich im Herbst 1860 bei den vier unverheirateten Schwestern Köhler in Oßmannstedt auf und erwarb sich durch Näharbeit ihren Unterhalt, dann ging sie nach Apolda, aber nicht zu ihren Eltern oder einem ihrer verheirateten Geschwister, sondern zu
einer Witwe, und dort kam sie am 17. November mit einem Knaben nieder. Das Kind litt viel an Schwämmchen, war sehr unruhig und gedieh nicht besonders, und die Winter wurde selbst von einem nicht unbedenklichen Kindbettfieber mit Frieseln ergriffen. Sie bewies ihrem Kinde große Liebe, tat alles, was in ihren Kräften stand, für das Kleine und nahm sich seinen Zustand so zu Herzen, daß die Hebamme sie öfters deswegen tadelte und sie zu trösten versuchte, obwohl sie selbst an dem Aufkommen des
Kindes zweifelte. Die Gesundheit des Kindes und der Mutter besserte sich jedoch wieder, und am 3. Dezember zog die Winter zu einer ihrer in Apolda verheirateten Schwestern, die sich liebreich ihr gegenüber erwiesen und ihr auch versprochen hatte, dafür zu sorgen, daß das Kind gut untergebracht werde. An demselben Tage kam gerade eine der Schwestern Köhler aus Oßmannstedt nach Apolda, um sich nach der Winter zu erkundigen, und ließ sich bewegen, die Winter mit ihrem Kinde wieder aufzunehmen
und das Kind wenigstens so lange zu behalten, bis es irgendwo gut untergebracht wäre.
Noch am gleichen Abend wanderte Johanna mit ihrem Kinde und mit der Köhler nach Oßmannstedt und wurde dort von den drei andern Schwestern Köhler freundlich aufgenommen. Johanna sollte mit ihrem Kinde in einem Bett in der nämlichen Kammer neben der Wohnstube schlafen, in der auch die Betten der Friederike und Wilhelmine Köhler standen; Eleonore und Amalie Köhler hatten ihre Schlafstätien im ersten
Stockwerk des Hauses. Friederike Köhler machte sich dann am 5.Dezember auf den Weg nach einem benachbarten Dorf, um dort Leute zu suchen, die das Kind der Winter in Pflege nehmen wollten, kehrte aber unterwegs wieder um, weil schlechtes Wetter eintrat. Ein weiterer Schritt zu dem angegebenen Zwecke wurde nicht getan, und es scheint verabredet worden zu sein, daß das Kind zunächst bei der Mutter bleiben solle. Dabei unterließen die Schwestern Köhler, dem Ortsbürgermeister von dem Aufenthalte der
Winter Anzeige zu machen, wahrscheinlich weil die Winter schon früher nur durch ihren freiwilligen Weggang nach Apolda einer Ausweisung entgangen war und sie deshalb fürchteten, ihre Aufnahme würde ihnen Unangelegenheiten machen. Übrigens ist hier gleich zu bemerken, daß die Schwestern Köhler sich eines tadellosen Rufes erfreuten.
Johanna Winter wußte sich auch jetzt wieder durch ihr freundliches Betragen und durch Arbeitsamkeit das Wohlwollen ihrer Wirtinnen zu erwerben. Sie schien
das Kind sehr zu lieben, das sich nun auch wohler zu befinden schien, aß und trank und nur in der Nacht häufig unruhig war, und zuweilen klagte die Mutter, daß es an Krämpfen leiden müsse, denn es verdrehe die Augen, hielte den Kopf schief und balle die Händchen. Solch ein Anfall trat auch am Abend des 8.Dezember ein und wiederholte sich zweimal in der Nacht; gegen fünf Uhr morgens beruhigte sich das Kind und schlief noch um sieben Uhr ganz sanft, als Friederike und Wilhelmine Köhler
aufstanden und die Kammer verließen. Etwa eine Viertelstunde darauf kam auch Johanna Winter in die Stube und bereitete ihrem Kinde Essen. Sie wollte dann das Kind wecken, doch Wilhelmine Köhler riet ihr, zu warten, bis es von selbst aufwache, es lasse sich dann besser füttern. Die Winter folgte dem Rate, als das Kind aber nach einer Viertelstunde noch nicht munter geworden war, ging sie in die Kammer und fand, daß es ganz verändert war, die linke Seite des Gesichts sah bläulich aus. Auf das
Rufen der Mutter hin kamen die Schwestern Köhler herbei und fanden das Kind tot. Sie nahmen an, der Schlag habe es gerührt.
Es wurde nun beraten, was mit dem Leichnam anzufangen sei. Johanna Winter sagte, das Kind müsse, da es in Apolda zur Welt gekommen sei, dort auch begraben werden, und die Schwestern Köhler pflichteten dem bei; jedenfalls fürchteten sie auch Unannehmlichkeiten von der Ortspolizeibehörde wegen der unterlassenen Anzeige. Friederike Köhler begab sich zu der Schwester
der Winter, teilte dieser das Ereignis mit, und die Totenfrau wurde herbeigerufen. Johanna Winter hatte auch geäußert, daß sie nichts dagegen habe, wenn der Leichnam an das anatomische Institut nach Jena abgeliefert werde. Die Leichenfrau ging zu einem gewissen Krämer, der derartige Gänge zu besorgen pflegte, und da er selbst nicht einheimisch war, beauftragte sie einen anderen Mann namens Stoß, das Kind von Oßmannstedt zu holen, ohne daß sie vorher die Entscheidung des Oberbürgermeisters von
Apolda eingeholt hatte. Stoß nahm einen Büchsenranzen, der von Krämer zu solchen Transporten benutzt zu werden pflegte, und begab sich noch am gleichen Abend nach Oßmannstedt. Er fand, daß das Kind in der Kammer auf der Diele zugedeckt lag, forderte Licht und sah dann um den Mund des Kindes herum Blut. Als er darauf aufmerksam machte, erwiderte Friederike Köhler, das sei von den Krämpfen. Der Leichnam wurde nicht weiter besichtigt, sondern in ein neues Hemd eingeschlagen und von Stoß mit den
Füßen zuunterst in den Büchsenranzen gesteckt und so nach Apolda getragen.
Inzwischen hatte die Leichenfrau dem Oberbürgermeister Anzeige gemacht und von diesem den Bescheid erhalten, da das Kind in Oßmannstedt gestorben sei, müsse es auch dort begraben oder von dort aus nach Jena abgeliefert werden. Der Büchsenranzen wurde gar nicht aufgeschnürt, sondern in einer oberen Stube der Kramerschen Wohnung die Nacht über aufbewahrt und dann am Morgen des 10. Dezember von Kramer selbst nach
Oßmannsiedt zurückgebracht. Kramer benachrichtigte den Ortsbürgermeister und nahm in seiner Gegenwart in der Kammer des Köhlerschen Hauses die Kindesleiche heraus und legte sie auf Stroh. Er bemerkte dabei, daß sich aus dem After des Kindes Blut ergossen hatte. Auch diese Erscheinung suchte eine der mit anwesenden Schwestern dadurch zu erklären, daß die Krämpfe dem Kinde wahrscheinlich die Därme zerrissen hätten. Einer näheren Untersuchung wurde der Leichnam auch damals nicht unterzogen.
Noch ein Umstand ist hier gleich zu erwähnen. Die Winter hatte sofort nach dem Tode ihres Kindes unaufgefordert das Kopfkissen gewaschen, auf dem sie mit ihrem Kinde geschlafen hatte. Sie gab das auch zu und erklärte es in Übereinstimmung mit den Schwestern Köhler dadurch, daß es im Hause üblich gewesen sei, jedes Stück sofort zu waschen, wenn es nötig sei. Im Bett selbst hat man später keine Blutspuren entdeckt.
Johanna Winter schien sich den Tod ihres Kindes sehr zu
Herzen zu nehmen. Am Abend des 10.Dezember, als sie mit den Schwestern Köhler zusammen in der Stube saß, fuhr sie plötzlich einmal in die Höhe, sah eigentümlich um sich und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum.
Die Ereignisse erregten Aufsehen im Ort und gelangten zur Kenntnis der Gendarmerie. Es wurde dem Staatsanwalt Anzeige gemacht, und auf dessen Veranlassung wurde der noch unbeerdigte Leichnam in Beschlag genommen und dem Großherzoglichen Kreisgericht in Weimar zur
gerichtsärztlichen Obduktion und Sektion überbracht, vor dem zugleich auch Johanna Winter vorgeführt wurde.
Als in Gegenwart des Gerichts und des Gerichtsarztes der Leichnam aus der Schachtel herausgenommen wurde, zeigte sich, daß die beiden Hemden und das Mützchen an der linken Seite des Halses von noch flüssigem hellroten Blute durchdrungen waren. An der linken Seite des Halses, über dem Schlüsselbein und parallel mit ihm, verlief eine Querwunde, in deren Grunde flüssiges
schwärzliches Blut stand. Diese Wunde maß von links nach rechts einen reichlichen Zoll und klaffte in der Mitte einen halben Zoll auseinander. Die Wundränder waren scharf und ohne Zacken, sie verliefen nach beiden Seiten hin im spitzen Winkel. Am Grunde der ausgewaschenen Wunde sah man die hier liegenden Muskeln, doch quoll bei leichtem Druck neues Blut von unten nach oben, das ganz schwarz aussah.
Nachdem durch einen Längsschnitt am Vorderteile des Halses hinab und durch einen
Querschnitt am unteren linken Teile des Thorax sowie durch Aufwärtspräparieren des dadurch gebildeten Hautlappens die völlig erhaltene Hautwunde zurückgeschlagen und der Grund übersichtlich gemacht worden war, zeigte sich das lockere Zellgewebe an dieser Stelle des Halses ebenfalls getrennt und der Schlüsselbeinteil des linken Kopfnickers entblößt. Der Grund der Wunde bildete also eine kleine Höhle, die sich bei weiterem Verfolgen nach hinten bis an den Schulterfortsatz des Schlüsselbeins und
nach unten bis hinter die zweite Rippe erstreckte. Aus diesem unteren Teile der Höhle ergoß sich fortwährend schwarzes, etwas dickflüssiges Blut. Luft- und Speiseröhre fanden sich unverletzt.
Auf diese Wahrnehmungen stützte sich das gerichtsärziliche Gutachten. Es lautete folgendermaßen:
»Bei dem Fehlen sowohl einer anderen Verletzung des Körpers als auch einer jeden unnormalen Beschaffenheit der inneren Organe glauben wir aussprechen zu dürfen, daß mit höchster
Wahrscheinlichkeit die soeben beschriebene Halswunde den Tod des Kindes, und zwar durch eine starke Blutung aus der äußeren Drosselvene oder eines Hauptastes derselben, herbeigeführt habe. Obwohl dieses Gefäß selbst nicht aufgefunden wurde, so setzt doch das nachhaltige Eindringen von schwarzem, also venösem Blut in die Wunde die Annahme einer verletzten großen Vene, also an dieser Halsstelle jedenfalls der äußeren Drosselvene, außer Zweifel. Eine Blutung aus einer so großen Blutader mußte in
dem zarten Alter des Kindes sofort Ohnmacht und Collapsus erzeugen, die in Scheintod und bald in den wirklichen Tod übergehen mußten, ohne daß hierzu eine völlige Verblutung bis zur gänzlichen Blutleere notwendig gewesen wäre. Es widerspricht dieser Annahme demnach der vorgefundene Blutreichtum im Gehirn, den Lungen und der Leber keineswegs, da die äußere Drosselvene nur das Blut aus den äußeren Kopfteilen und nicht aus dem Gehirn zurückführt, nach dem Tode aber das Blut überhaupt sich in den
Venen ansammelt, wodurch die genannten Organe, namentlich Lunge und Leber, trotz eines großen Blutverlustes immer noch blutreich und dunkel gefärbt erscheinen können, wie das hier der Fall ist. Auch die rechte und venöse Herzseite würde Blut enthalten haben, wenn dieses Blut nicht bei der horizontalen Lage der Leiche in die obere Hohlvene zurückgeströmt und aus dieser in die Drosselvenen gelangt und aus der verletzten Ader ausgeflossen wäre.
Daß die Wunde dem Kinde
höchstwahrscheinlich bei Lebzeiten desselben zugefügt worden und nicht erst nach dem Tode entstanden ist, dafür spricht vor allem das weite Klaffen des Risses bis zu einem halben Zoll, während sich die tote Haut nicht zurück- oder zusammenzieht, also die Ränder einer solchen nach dem Tode beigebrachten Wunde schlaff aneinander liegenbleiben.
Gestalt und Beschaffenheit der Wunde kennzeichnen sie als scharfe Schnittwunde, doch spricht die nach unten bis etwa zur zweiten Rippe
weitergehende Vertiefung für einen gleichzeitigen Stich, wonach das Instrument also ein spitzes, breiter zulaufendes und zugleich schneidendes gewesen sein muß. Das Blut an dem Leichenhemd kann, obwohl es hellrot erscheint, dennoch aus derselben Quelle, der äußeren Drosselvene, herstammen, weil das schwarze Blut an der Luft bald eine hellrote, arterielle Farbe annimmt. Das Blut an dem viereckigen leinenen Lappen, der quer über dem Leibe der Kindesleiche lag, war nur ausgeschmiert, wie wenn sich
jemand mit Blut besudelt und die Finger an dem Tuche abgewischt hätte.«
Der Büchsenranzen, in dem die Kindesleiche hin- und hergeschafft worden war, war mit einem Zuge von Bindfaden und einer messingnen eindornigen Schnalle am Tragriemen versehen, Blutspuren fanden sich in ihm nicht vor, ebensowenig etwas, wodurch der Kindesleichnam hätte verletzt werden können, auch der Dorn der Schnalle würde nicht imstande gewesen sein, die beschriebene Wunde zu verursachen, da diese von einem
spitzen und zugleich schneidenden Instrument herrühren mußte.
So war der verhängnisvolle Knoten geschürzt: die Wunde mußte dem lebenden Kinde beigebracht worden, es mußte daran gestorben und niemand anders als die Mutter konnte die Täterin gewesen sein. Es fragte sich nun, was sie zu dem fast unerklärlichen Morde an dem von ihr geliebten Kinde bewogen haben konnte.
Bei dem ersten Verhör brach die Winter in die Worte aus: »Ach Gott, das ist gar nicht möglich, wie soll das
zugegangen sein? Der erste Mann hat das Kind ganz unversehrt mit fortgenommen; da sind Köhlers Mädchen Zeugen dafür, daß ich dem Kinde nichts zuleide getan habe. Ach Gott im Himmel, ich habe ja die Nacht noch das Kind im Mantel herumgetragen. Ich kann nicht erklären, wie die Wunde entstanden ist.«
An den folgenden Tagen ließ die Winter den Untersuchungsrichter mehrmals bitten, sie vorzulassen; ihr Ansuchen wurde ihr stets sofort gewährt, sie brach dann in Tränen aus, rang und wand die
Hände, fiel auf die Kniee, sprach von der Pflicht, die Wahrheit sagen zu müssen, versicherte aber, daß sie das schon getan und nichts weiter zu gestehen habe. Zwischendurch waren ihre Reden zuweilen ganz verworren, oft redete sie heimlich in sich hinein, ihre Gebärden und Mienen deuteten auf Geistesstörung. Ihr einziger Wunsch war, nach Oßmannstedt geführt zu werden, damit sie selbst ihr dort stehendes Bett untersuchen könne. Am fünften Tage ihrer Haft zertrümmerte die Winter im Gefängnisse
ihr Trinkgefäß und schleuderte das Brot und alle beweglichen Gegenstände an die Tür.
Nachdem ihr das gerichtsärztliche Gutachten vorgehalten worden war, beteuerte sie wiederholt ihre Unschuld und behauptete, die Wunde müsse dem Kinde erst nach dessen Tode beigebracht worden sein, von wem und wie und aus welchem Grunde, darüber konnte sie allerdings nicht einmal eine Vermutung angeben. Sie fügte hinzu, sie wolle ihre Strafe geduldig leiden, und sollte es die Todesstrafe sein.
Sie zeigte in diesen Wochen eine große Schreibseligkeit und richtete mehrere Eingaben an ihren Untersuchungsrichter, dem sie überhaupt großes Vertrauen schenkte. Der Inhalt dieser stets ziemlich umfänglichen, aber nur geringe Schulkenntnisse verratenden Schreiben läßt an keiner Stelle auf eine Störung der Verstandeskräfte schließen. Die Winter erkennt die Schwere der einzelnen Verbachtsgründe, den Zusammenhang der für sie bedrohlichen Schlußfolgerung vollkommen klar und verteidigt sich
dagegen, schriftlich und mündlich, äußerst geschickt und oft sogar mit einem überraschenden Scharfsinn. Sie macht für sich geltend, daß sie ihre Schwangerschaft nicht verheimlicht habe, daß sie jede Fürsorge für das Kind getroffen habe, daß sie ihr Kind geliebt habe, daß sie Unterstützungen von ihrer Familie erhalten habe, daß sie auch selbst genügende und lohnende Arbeit und also alles in allem gar keine Veranlassung zu einem Mord gehabt habe. Dann bemerkt sie sehr richtig, sie würde doch mit
dem Bewußtsein einer solchen Tat den Leichnam nicht erst nach Apolda geschickt und nach Jena zu schicken beabsichtigt haben, wo durch die Ärzte die Halswunde sofort hätte bemerkt werden müssen. Trotzdem fühlt die Winter, daß alle diese Gründe doch nicht imstande sind, die Ergebnisse des ärztlichen Befundes zu entkräften. Wahrhaft merkwürdig ist aber eine Eingabe, in der die Winter – natürlich ohne im geringsten etwas von den Zweifeln zu wissen, die den Untersuchungsbehörden und
neuerdings dem Gerichtsarzt selbst gekommen, und von den Schritten, die daraufhin bereits eingeleitet waren – das medizinische Gutachten geradezu angreift, indem sie behauptet, eine Verblutung aus einer so kleinen Wunde sei unmöglich, und wenn die Wunde dem lebenden Kinde beigebracht worden wäre, müsse sie »verschwollen« gewesen sein, da sie aber »glatt« sei, könnte sie nur dem Leichnam beigebracht worden sein. Die Winter glaubt, daß derartige Fälle dem weimarischen Gerichtsarzt nicht
häufig vorkämen, und bittet darum, die Sache einem von ihr namhaft gemachten ausgezeichneten Jenaer Arzt zu nochmaliger Untersuchung vorzulegen.
Diese Einwendungen, die von einem Mädchen auf der Bildungsstufe der Winter Staunen erregen müssen, leitet sie in einer, wie wir bald sehen werden, ebenfalls merkwürdigen Weise ein. Zur Probe von Stil und Grammatik wollen wir den Eingang eines Schreibens buchstäblich geben: »Da mir der Herr Greißgerichtsrath, welger Mir nochmals erlaubt, indem
ich es besser schreibe Wie sagen kan, Ich bin getz hinder viehles gekomen, Welges noch der letze und richtige grundt zun meiner Verdeudigungen ist.«
Neben diesem Bestreben, ihre Unschuld darzutun, spricht sich oft die Angst aus, als Kindesmörderin vor das Geschworenengericht gestellt zu werden, und vor der Schande, die das ihren Eltern machen würde. Sie erklärt, sie wolle dann lieber die Todesstrafe erleiden. Und das scheint keine leere Redensart, sondern das Ergebnis eines schweren
Gemütskampfes gewesen zu sein, denn bei den wiederholten Unterredungen, die sie auf ihren Wunsch hin mit dem Untersuchungsrichter und dem Staatsanwalt hatte, machte sie den Eindruck, als sei sie bereit, alles zu tun, was sie zu diesem letzten Ziele führen könnte. Einmal äußerte sie geradezu, etwa drei Tage vor dem Tode ihres Kindes sei ihr im Traume ein Mann in brauner Kutte und mit grauem langen Barte erschienen und habe ihr das Kind entreißen wollen, sie habe es aber ganz fest an sich
gedrückt und sei darüber erwacht. Sie fragte mit seltsam zweifelhaftem Tone, ob wohl dieses heftige Drücken den Tod des Kindes verursacht haben könne. Es hätte vielleicht wenig Überredung gekostet, die Winter zu dem allgemeinen Geständnis zu bestimmen, daß sie die Schuld am Tode des Kindes trage. Doch es war ja festgestellt, daß das Kind sich in den letzten Tagen verhältnismäßig wohl befunden hatte und von einem Zutodedrücken gar nicht die Rede sein konnte. Das wurde der Winter entgegengehalten,
und auf die bestimmte Frage hin, ob sie ein spitzes und schneidendes Instrument ergriffen und dem Kinde damit die Halswunde zugefügt habe, antwortete sie mit einem entschiedenen Nein. Wir gehen vielleicht nicht fehl, wenn wir annehmen, daß die Angeschuldigte in ihrer Überspanntheit und krankhaften Gemütserregung sich bereits mit dem Gedanken, als unschuldiges Opfer auf dem Blutgerüst zu fallen, ausgesöhnt hatte.
In ihren Schreiben und ihren Reden gab sich zugleich eine tiefe dem
Religiösen zugewandte Schwermut kund. Sie klagte über die traurigen Schicksale ihres Lebens, äußerte, daß sie oft schon in die Versuchung gekommen sei, freiwillig den Tod zu suchen, daß nur der Gedanke an Gott und die Furcht vor seinem Gericht sie davon abgehalten habe. Diesen Gefühlen lieh sie auch in poetischer Form Ausdruck. Als Probe dieser Poesie – auf die sie übrigens selbst nicht wenig eitel zu sein schien – geben wir folgende Strophe aus einem längeren Gedicht:
Vater, ist denn nicht erschaffen
Wie ich diese schöne Welt,
Soll ich denn alleine schlafen
In dem dunkeln, schlechten Zelt?
Hie ist Sonn noch Licht zu finden,
Das Gott für uns hat bestimmt,
Dies kann ich nicht überwinden,
Darum laß mich Gnade finden
Und nimm mich nun auf zu dir.
Sollt ich hie nun länger leben,
Muß ich meinen Geist aufgeben.
Johanna Winter.
Die Winter war, damit sie besser beobachtet
werden könne und verhindert werde, Hand an sich zu legen, mit zwei weiblichen Gefangenen zusammengesetzt worden. Als diese beiden über ihre Wahrnehmungen befragt worden waren, ließ die Winter wieder um Vorlaß bitten und beklagte sich darüber, daß die beiden Frauen nun denken könnten, die Anschuldigung sei wahr, und sie habe wirklich ihr Kindchen umgebracht. Auf die Frage hin, woher sie wisse, daß den Frauen der Grund ihrer Haft mitgeteilt worden sei, erwiderte sie: »Ich weiß es. Früher hatte ich
die Gabe nicht, im Schlafe Dinge zu sehen, seit meiner Entbindung darf ich aber nur während des Schlafes mit der linken Hand auf die Magengegend kommen, so sehe und höre ich Dinge, die mir im Wachen noch nicht vorgekommen sind.«
Der Untersuchungsrichter hielt ihr vor, daß sie dann auch die Ursache der Verwundung ihres Kindes wissen müsse, und sie antwortete augenblicklich: »Das ist auch der Fall. Es ist mir im Traume ein Mann erschienen, und zwar derselbe, der das Kind wiedergebracht
hat. Ich weiß seinen Namen nicht, es ist mir aber im Traume gesagt worden, der Mann habe am Halseisen gestanden, er habe damals auch bei meinem Schwager, dem Amtsdiener, gesessen, meine Schwester sei ganz gut gegen den Mann gewesen, er aber nicht gegen sie. Dieser Mann nun soll aus Rache das Kind am Halse verwundet haben. Ich habe bis jetzt nichts gesagt, weil ich dachte, man glaube mir nicht, und weil ich einen Beweis doch nicht führen kann.«
Als die Winter in ihr Gefängnis
zurückgebracht worden war, gab der Untersuchungsrichter das zu Protokoll, und es wurde auch wirklich ermittelt, daß der oben erwähnte Kramer siebenundzwanzig Jahre vorher, also zur Zeit der Geburt der Winter, wegen Felddiebstahls von der früheren Landesregierung zu Halseisen verurteilt worden war und diese Strafe auch verbüßt hatte. Damals war aber der spätere Amtsdiener bei Vollstreckung der Strafe nicht mit tätig und überhaupt noch in keinem Amte gewesen. Kramer hatte also nicht den geringsten
Grund, gegen den Amtsdiener oder dessen Familie erbittert zu sein, sie haben vielmehr immer in guter Freundschaft miteinander gelebt.
Die Gefangene, die längere Zeit mit der Winter zusammengesessen hatte, machte folgende Aussage: »Die Winter ist ein ausgezeichnet gutes Mädchen, es kommt mir aber vor, als wäre es bei ihr unter der Haube nicht so ganz richtig. Sie spricht zwar, wenn man sich mit ihr unterhält, ganz vernünftig, sie spricht aber auch öfters so vor sich hin, sie hört
mitten in einer Rede auf, und die Gedanken vergehen ihr. Ich liege des Nachts neben ihr, daher weiß ich, daß sie unruhig schläft, sie fährt im Schlafe mitunter auf und fürchtet sich besonders sehr, das leiseste Geräusch setzt sie in Schrecken. Bald hört sie was an der Wand kratzen, bald an der Tür, und wenn ich mich auch bemühe, sie zu beruhigen, so läßt sie sichs doch nicht ausreden. Ich jammere mitunter darüber, daß ich hier sitzen muß und mich um mein Kind zu Hause nicht bekümmern kann;
dabei habe ich den Wunsch ausgesprochen, doch nur zu wissen, was mein Kind mache, und die Winter sagte mir darauf, wenn sie schlafe, möge ich sie einmal anstoßen und nach meinem Kinde fragen. Ich tat das. Als die Winter sich eines Tags hingelegt hatte und schlief, richtete ich in Beziehung auf meine häuslichen Verhältnisse allerhand Fragen an sie, und sie gab Antworten, die mich in Erstaunen setzten, denn sie erzählte mir von Dingen, über die ich mit ihr noch nicht gesprochen hatte.«
Die Winter wurde von dem Geistlichen wie von dem Arzte vielfach besucht, beide gaben auf Veranlassung Gutachten über den Geisteszustand der Angeschuldigten.
Der Geistliche sprach sich folgendermaßen aus: »Während die Winter in einer früheren Unterredung am 4.Januar dieses Jahres mit ihrem übermäßigen Weinen und ihren unzusammenhängenden, unverständlichen Reden den Eindruck einer im Stadium beginnender Geistesstörung stehenden Person machte, zeigte sie heute (am 5. Februar) das
gerade Gegenteil. Sie erzählte mir in einem ganz ruhigen Tone, in zusammenhängender Rede und mit Überlegung, daß sie am Tode ihres Kindes unschuldig sei, daß weder Not noch Verzweiflung sie zu so einer entsetzlichen Tat hätten verleiten können, daß auch in ihrem Bette sich sonst Blutspuren hatten finden müssen, daß sie eine neue Untersuchung des Tatbestandes durch Herrn Professor Schoeman in Jena beantragt habe, daß sie aber jetzt ihre bittere Haft mit Geduld ertragen wolle. Mit derselben
Besonnenheit ging sie auf religiöse Gegenstände ein. So sagte sie, daß sie nicht glaube, daß sie Gott zu diesem Unglück bestimmt habe, daß sie aber freilich auch einsehe, ohne Versuchung gebe es keine Tugend. Ich habe die Überzeugung gewonnen, daß bei der Johanna Winter keine Geistesstörung vorliegt, sondern erkenne in dem unsicher umherschweifenden Auge und in ihrem öfteren Besinnen nur ein bei Inhaftierten oft vorkommendes geistiges Gereiztsein, das in der Einzelhaft, in der Furcht vor
Schande und zum Teil im Aberglauben seinen Grund zu haben scheint.«
Zu anderen Ergebnissen kommt der Gerichtsarzt. Wir führen unter Weglassung des schon Erwähnten seine hauptsächlichsten Beobachtungen und Folgerungen an. »Johanna Winter ist mittelgroß, gut genährt, doch von wechselndem Aussehen. Ihre Gesichtsfarbe ist mitunter blaß und gelblich, andermal rot, ihr Ausdruck hat in der Regel etwas Unbestimmtes, zuweilen selbst Scheues, und besonders bewegt sie die Augen beim Sprechen
häufig nach den Seiten hin. Ihr Schädel ist nicht unregelmäßig gebildet, doch ist die Stirne niedrig, die Dimensionen der Breite herrschen vor. Ihr Puls ist meist sehr langsam und leer, mitunter ungleich. Schon den Tag nach ihrer Verhaftung fing sie an, verdrehte Reden zu führen. Sie sprach dabei meistens leise, verdrehte die Augen bald nach oben, bald nach beiden Seiten hin und zeigte sich unruhig. Die beiden folgenden Tage steigerte sich das, und in der Nacht zertrümmerte sie ihre hölzernen
Geräte, Kanne und Spucknapf, schrie und tobte und war zu keiner vernünftigen Antwort zu bringen. Sie nahm kein Essen und sagte dazu: Manches wachse von oben, manches von unten, und man könne deshalb nicht alles genießen. Man drohte ihr an, wenn sie so unruhig bliebe und namentlich nicht aufhöre, Gegenstände zu beschädigen, werde man ihr die Zwangsjacke anlegen und sie bestrafen müssen. Daraufhin wurde sie bald ruhiger, und schon am anderen Morgen sprach sie wieder vollkommen vernünftig und
beantwortete alle Fragen, wenn auch langsam und mit einem gewissen anscheinend vorsichtigen Zögern. Zu bemerken ist dabei, daß sie in jenem Wutanfall an ihren eigenen Sachen nicht das mindeste beschädigte und, wenn man sie von ihrem Geschwätz auf gewöhnliche Tatsachen und Personen, vor allem aber auf ihre Arbeiten und dergleichen ablenkte, sehr bald aufhörte, irre zu reden, und vernünftige, sachgemäße Antworten erteilte. An die Wand ihres Gefängnisses hat sie einen Baum und darüber einen Kopf
gezeichnet, das sei Goethe, sagte sie, der Gedichte gemacht habe, wie sie es auch könne. Die Gestalt eines jungen Mädchens mit einem Blumenkränze sei ihr erschienen und habe ihr die Gabe zu dichten verliehen. Zieht man nun alles hier Dargestellte in Erwägung, so kann man sich einerseits zeitweise des Gedankens nicht erwehren, daß sich die Winter verstelle. Andrerseits muß man jedoch zugeben, daß die Möglichkeit einer Seelenstörung bei der Winter nicht vollständig und nicht erwiesenermaßen
abgeleugnet werden kann. Erstens muß sie, wie ihr Gedicht und ihre Zeichnung mit den Äußerungen dazu beweisen, wenigstens als überspannt gelten; ihre Phantasie ist fehlerhaft ausgebildet, und sie leidet an einer dünkelhaften Überschätzung ihrer geistigen Fähigkeiten, ist also im ganzen mit einer schon länger vorhandenen Anlage zu krankhaften Ausschreitungen der Einbildungskraft belastet. Zweitens sind aber eine Entbindung, namentlich in ungünstigen Verhältnissen, eine Kindbettkrankheit mit
Frieseln, ein zu frühes Ausgehen bei rauher Jahreszeit nach einem solchen Exanthem, das Wegbleiben der Milch und des Lochienflusses ursächliche Momente, die eine solche Anlage zu einer wirklichen Krankheit ausbilden können. Ich bin daher der Meinung, daß sich die Winter in dem Stadium einer sich erst bildenden, jetzt noch nicht entwickelten Seelenstörung befindet, wenigstens aber das Gegenteil zur Zeit nicht erweislich ist.«
Schließlich erwähnt der Gerichtsarzt noch als neu
hinzutretendes Moment, das seine Annahme noch unterstütze, daß die Winter im Schlafe laut spreche, zuweilen um sich schlage und manchmal auch aufstehe und umherstolpere. Übrigens erklärte er noch, daß die Frage, ob sich die Winter vielleicht dennoch bloß verstelle, nur nach einer genauen, anhaltenden, durch alle möglichen Hilfsmittel unterstützten Beobachtung, wie sie natürlich nicht im Gefängnisse, sondern nur in der Jenaer Irrenheilanstalt zweckmäßig vorgenommen werden könne, mit Sicherheit zu
beantworten sei. Ob aber der Zustand der Winter ihre Einlieferung in die Irrenheilanstalt geradezu nötig mache, darüber behalte er sich noch weitere Begutachtung vor, einstweilen genüge es, wenn sie für ein paar Tage eine sichere Aufwärterin mit in das Gefängnis bekomme.
Die Voruntersuchung war nunmehr abgeschlossen, es wurde nur noch das Gutachten der Großherzoglichen Medizinalkommission erwartet. Da reichte der Gerichtsarzt einen sehr wesentlichen Nachtrag zu seinem ersten Gutachten
ein. Er sagte: »Als Zeichen, daß eine Wunde im lebenden Zustande des Verletzten entstanden sei, werden angenommen erstens das Klaffen derselben und zweitens Spuren eingetretener organischer Reaktion, d. h. Entzündung, Ausschwitzung und dergleichen. Letzteres, das übrigens sicherste Zeichen, kann bekanntlich nur da vorkommen, wo das Leben noch eine Weile nach der geschehenen Verletzung bestanden hat, nicht da, wo es fast augenblicklich erloschen ist: es fehlte in unserem Falle gänzlich. Ersteres
Zeichen, das Klaffen der Wunde, ist aber in doppelter Hinsicht unsicher, denn erstens kann die Haut noch eine kurze Zeit nach dem Tode eine gewisse Spannung behalten und also auch eine bald nach dem Tode verursachte Wunde auseinanderklaffen, ohne daß man die Grenze, wo das aufhört, genau anzugeben imstande wäre. Zweitens aber muß nach allgemeinen physikalischen Gesetzen eine Wunde klaffen, die in der Falte eines in starker Beugung befindlichen verkürzten Körperteiles entstanden ist, sobald
derselbe, wie es gewöhnlich bei Leichen geschieht, wieder in den Zustand völliger Streckung gebracht wird. Dieser Umstand, den ich nirgends erwähnt gefunden habe, bestimmte mich, die Wunde des Kindes (wegen ihrer Lage) als nur sehr wahrscheinlich im Leben entstanden zu bezeichnen. Ein günstiger Zufall verschaffte mir gestern Gelegenheit, bei einem tags zuvor plötzlich verstorbenen Kinde im Alter des Winterschen Versuche anzustellen, die meine Meinung völlig bestätigten. Ich machte bei dem Kinde
in der Ellbogenbeuge des stark gebeugten rechten Armes einen einen halben Zoll langen schrägen und in der linken Ellbogenfalte einen zweiten ebenso großen Querschnitt: beide Wunden klafften, nachdem der Arm einfach ausgestreckt worden war, um einen Viertelzoll auseinander. Hierauf machte ich ein wenig über dem linken Schlüsselbein und parallel mit ihm – also so, wie die Wunde bei dem Winterschen Kinde verlief – einen einen Zoll langen Hautschnitt bei stark nach links geneigtem Kopfe,
und auch diese Wunde klaffte nach Zurücklegung des Kopfes und Streckung des Halses um einen halben Zoll, also um die Hälfte ihrer Länge, auseinander, genau wie bei dem obduzierten Kinde. Gleiche Versuche können schwerlich ein anderes Resultat geben, und es ist nach meiner Überzeugung dadurch so viel erwiesen, daß an den genannten einer starken Beugung und Streckung fähigen Körperteilen, wie eben in dem vorliegenden Falle, das Klaffen der Wunde ein sehr zweifelhaftes Beweismittel für eine bei
Lebzeiten des Verlebten geschehene Verwundung ist und als solches für sich in Zukunft nicht mehr zugelassen werden kann.«
Die Winter hatte sich in der letzten Zeit wieder ganz ruhig und vernünftig bewiesen, nur wenn man sie darüber befragte, sprach sie von ihren fortdauernden Traumerscheinungen; sie sah auch mit großer Zuversicht dem medizinischen Obergutachten entgegen und erwartete es ungeduldig. Darum war die Wärterin auf Anordnung des Arztes wieder entlassen worden, und die
Angeschuldigte saß allein in ihrer Zelle. Wenige Stunden darauf brach sie aber in einen neuen Anfall von Tobsucht aus. Sie zertrümmerte Fenster und Geräte, und als der Gefangenenmeister zu ihr eintrat, stürzte sie sich mit wütendem Blick und wildem Gekreisch auf ihn und packte ihn so heftig am Halse, daß der sehr starke Mann alle Kraft aufbieten mußte, sich der wiederholten Angriffe zu erwehren, und es ihm erst nach längerem Kampfe gelang, die Gefangene zu bändigen. Der schleunigst
herbeigerufene Arzt fand die Winter wohl schon etwas beruhigter, aber laut weinend, erhitzt und verstört und mit wildscheuem Blick. Als sie noch am gleichen Tage auf ihren Wunsch hin dem Untersuchungsrichter vorgeführt wurde, zeigte sie sich über den Vorgang niedergeschlagen und erklärte, sie begreife nicht, wie sie sich zu solch einem Benehmen habe hinreißen lassen können, und war im übrigen wieder so ruhig und klar wie zuvor.
In ihrem Gefängnis hatte man inzwischen abermals einen
von ihr beschriebenen Bogen Papier gefunden. Sie hatte ihn jedenfalls kurz vor dem Anfall beschrieben, und da die Niederschrift ein getreues Bild von ihrem inneren Zustand gibt, teilen wir das Hauptsächlichste mit, soweit es sich aus den ungleichen, halbverwischten Bleistiftzügen entziffern ließ, »Das ist doch meine wahre Freude, daß ich mich zu Gott halte und zu Gott gehalten habe. Jetzt habe, jetzt habe ich wieder einige Augenblicke, wo ich meine Gedanken zusammennehmen kann über meinen
traurigen Zustand, in den ich gefallen bin. Ich kann mir selber nicht zusammensetzen, daß, wenn man über alles nachdenkt, nicht klug werden über Gottes Bestimmung, daß einen guten Menschen, der gute Lehren hätte und Gottes Wort geehrt und geachtet habe und beständig Gutes im Gedächtnis gehabt und einen doch hineinführte ins Unglück. Warum mich der liebe Gott hineinführt und solche Menschen leben läßt, die ihre ruchlose Hand noch an Tote plagte (legte) und noch einen Menschen, der verschmachtet
vor Jammer und (Elend). Ich weiß nicht, ob die Menschen falsch richten oder Gott, das habe ich noch nicht gefunden. Es kommt mir vor, wie in den alten Zeiten mit Foltern, es wird mir richtig abgezwungen, daß ich so was Schändliches getan habe. Aber ich will nur sagen ja, damit ich unschuldig in meiner Strafe gehn konnte; mir ist es gleich, und wenn ich sie morgen antreten kann, daß ich meine Eltern darum bitten kann, daß sie in der Kirche lassen beten, damit dieser schlechte Mensch nur es
gesteht, daß sie sehn, daß ich Unrecht leiden muß und verschmachten, wo ich schon todkrank bin. Ich bitte Ihnen, Herr Kriminalrat, bitte bitte, ich erwarte heute Bescheid.« An der Seite steht in Absätzen: »Lieber guter Gott, lenk Herrn Kriminalrat sein Herz, guter Gott, lieber Vater im Himmel, himmlischer Vater. Ich will lieber lebend gehängt sein, als allein in diesen Gefängnissen. Der liebe Gott im Himmel mag Ihr Herz lenken, damit Sie gerecht an mir handeln. Ich kann den Jammer nicht mit
ansehen, ich bitte Sie tausendmal, heute den Bescheid über mich zu fügen. Lieber will ich unschuldig leiden, da, wenn ich Strafe habe, bin ich nicht allein. Ich bitte umständig. bitte, bitte! Johanna Winter.«
In der einen Ecke waren noch etwa sechs Zeilen so flüchtig hingekritzelt, daß es ganz unmöglich war, auch nur eine Silbe zu enträtseln. Auf der Rückseite waren ein paar Gesangbuchverse unvollständig abgeschrieben, und die Winter hatte dabei die Form der gedruckten Buchstaben
nachgeahmt.
Der Gerichtsarzt verlangte nunmehr die sofortige (Anlieferung der Winter in die Großherzogliche Irrenheil- und Pflegeanstalt zu Jena, und das wurde am Morgen des nächsten Tages, des 13. Februar, ausgeführt.
Drei Tage darauf ging das Obergutachten der Großherzoglichen Medizinalkommission ein und sprach sich dahin aus, daß die Verletzung am Halse des Winterschen Kindes höchstwahrscheinlich erst nach dem Tode desselben entstanden sei; für das Gegenteil fehle jeder
Beweis, mit Ausnahme des (weil möglicherweise bloß mechanisch herbeigeführten) sehr zweideutigen Klaffens der Wundränder; daß also schon hiernach von einer Verblutung des Kindes nicht mehr die Rede sein könne, aber auch sonst nichts zur Annahme einer solchen Todesursache berechtige, da sich kein merklicher Blutmangel in der Leiche gezeigt habe, sondern im Gegenteil nicht nur bei der Obduktion fortwährend Blut aus der Wunde geflossen sei, sondern auch die Lungen, das große und das kleine Gehirn
und die Leber sich noch blutreich gefunden hätten; und endlich wurde gesagt, daß das Blut nach der Lage des Grundes der Wunde nicht aus äußeren Drosselvenen herstammen könne.
Es wurde nunmehr von der Staatsanwaltschaft die Aufhebung der Untersuchungshaft der Johanna Winter I I und alsdann die gänzliche Einstellung der Untersuchung beantragt; wann die Winter aus der Heilanstalt entlassen werden könne, müßte dem Ermessen des dortigen Direktoriums anheimgestellt werden.
Johanna Winter ist kaum vier Wochen lang in der Irrenheilanstalt behandelt und verpflegt worden. Als sie nach ihrer Einlieferung von dem Direktor geprüft worden war, stieg in letzterem der Argwohn auf, daß sie sich nur verstellen könne. Er ermahnte sie daher ernstlichst zur Wahrhaftigkeit und fügte hinzu, jeder Versuch, ihn zu täuschen, würde vergeblich sein. Es ließ sich bei der Winter während der Zeit ihres Aufenthalts in der Anstalt zwar ein aufgeregtes Wesen erkennen, aber es hat sich
weder ein Anfall von Tobsucht noch ein somnambuler Zustand gezeigt. Nach etwa vier Wochen kam ihre Mutter und erklärte sich bereit, ihre Tochter – falls deren Entlassung unbedenklich erscheine – mit nach Hause zu nehmen. Man fand keinen Grund, dieses Gesuch abzuschlagen. Johanna Winter ist zu ihren Eltern zurückgekehrt und, nachdem sie ein Vierteljahr dort zugebracht hatte, ohne eine Spur von Geistesstörung zu zeigen, auf ihren Wunsch versuchsweise in derselben Irrenanstalt als
Wärterin angenommen worden. Sie hat in ihrem neuen Amte Geschick, Peinlichkeit und die zum pfleglichen Umgang mit den Kranken nötige Befähigung an den Tag gelegt. Auch alle nachträglich vorgenommenen Nachforschungen, zu ermitteln, ob eine dritte Person dem Kinde nach dessen Tode die Verwundung zugefügt habe, sind erfolglos geblieben.
Der Fall, wie er hier dargelegt worden ist, ist juristisch, medizinisch und psychologisch einer der rätselhaftesten.
Daß die richterliche
Entscheidung, dem Antrage der Staatsanwaltschaft gemäß, nicht anders ausfallen konnte, nachdem das gerichtsärztliche Gutachten dergestalt modifiziert worden und das Obergutachten so günstig für die Angeschuldigte ausgefallen war, unterliegt keinem Zweifel: wenn dem Angeschuldigten die Schuld nicht nachgewiesen werden kann, ist er freizusprechen, das ist das Grunderfordernis jedes vernünftigen Strafrechts. Hier stimmt aber auch die innere Überzeugung mit diesem Resultat überein, denn es fehlt
an jedem Beweggründe, der stärker als die Mutterliebe gewesen wäre und die Mutter zu einer so unnatürlich verbrecherischen Tat gegen ihr Kind hätte treiben können. Dazu kommt, daß eine Mörderin ihre Tat zu verbergen gesucht, nicht aber durch ihre spätere Handlungsweise offenkundig gemacht haben würde.
Steht es fest, daß die Wunde erst dem toten Kinde beigebracht worden ist, so steht es, durch die unverdächtigen Zeugenaussagen des Stoß, der den Leichnam abholte, und durch die der
Schwestern Köhler nicht minder fest, daß die Wunde am Halse vorhanden war, ehe der Leichnam nach Apolda geschafft wurde. Am Nachmittag des 9. Dezember war bereits Blut um den Mund des Kindes herum. Stoß machte darauf aufmerksam, und die Schwestern Köhler überzeugten sich davon; die Krämpfe, an denen das Kind jedenfalls gestorben war, hatten diese Blutung nicht herbeiführen können.
Wer konnte aber bis dahin Gelegenheit und wer konnte einen Beweggrund haben, dem Leichnam die
Schnittwunde am Halse zuzufügen? Niemand als die Schwestern Köhler und Johanna Winter. Auf diese Personen beschränken sich unsere Mutmaßungen, ein dritter hätte wenigstens nicht ohne ihr Vorwissen und ihre Genehmigung eine solche Tat verüben können.
Wir schwanken nur zwischen zwei Vermutungen. Die Schwestern Köhler und Johanna Winter nahmen an, das Kind sei infolge der Krämpfe, und zwar an einem Schlagfluß, gestorben. Die linke Seite des Kindes, das Gesicht wie der Körper, schien
ihnen bläulich gefärbt. Hatten sie etwa gehört, daß bei einem Schlaganfall ein rascher Aderlaß das Leben retten könne? Hätten sie etwa dieses Mittel versucht und, da es nicht half, aus Furcht vor Verantwortung geschwiegen? Der Umstand, daß sie alle die Wunde gar nicht bemerkt haben wollen, spricht dafür. Auf diese Weise würde sich auch die bedeutende Aufregung der Winter während ihrer Haft erklären lassen. Die Winter hätte sich wohl unschuldig gefühlt an der Tat, die ihr nach dem ersten
Gutachten zur Last gelegt wurde, aber doch wieder unter der Seelenangst gelitten, durch ein gewagtes, verderbliches Mittel den Scheintod ihres Kindes in wirklichen Tod verwandelt, wenigstens sich selbst in Unglück und Schande gestürzt zu haben. Nur eins spricht wieder dagegen. Die Frauen würden alles aufgeboten haben, eine ärztliche Besichtigung des Leichnams zu verhindern und so rasch als möglich die Beerdigung in Oßmannstedt zu bewerkstelligen. Das haben sie aber nicht einmal versucht, es ist
im Gegenteil ihr Wille gewesen, daß der Leichnam zur Zergliederung nach Jena geschafft werde.
Die andere Vermutung stützt sich auf den Geisteszustand der Winter. Wir halten ihr Benehmen während ihrer Haft nicht für Verstellung. Der Umstand, daß sie während der beiden Anfälle von Tobsucht ihre eigenen Sachen unbeschädigt gelassen hat, erklärt sich aus einem gewissen Instinkt der Gewohnheit; die Wut richtet sich gegen die fremden Gegenstände; man hat schon oft dieselbe Wahrnehmung bei
unzweifelhaft Tobsüchtigen gemacht. Ebensowenig scheint uns die Klarheit des Verstandes, mit der die Winter sich in ihrer Sache verantwortete und die sie auch sonst an den Tag legte, im Widerspruch zu unserer Annahme zu stehen. Die Erfahrung bietet ja tausendfältige Beispiele, daß Geistesstörungen – namentlich im Beginn der Krankheit – ganz partiell sind und die Kranken sich noch im vollständigen Besitz ihrer Geisteskräfte, bis auf den einen Punkt, befinden. Nun wird zwar die
Winter aus früherer Zeit als lügnerisch und der Verstellungskunst in hohem Grade mächtig geschildert. Hätte sie sich aber hier verstellt, so würde sie es sicher nicht bei den beiden Anfällen haben bewenden lassen; sie würde bei ihren Vernehmungen und bei ihren vielfachen schriftlichen Ergüssen gewiß bisweilen eine Geistesverwirrung an den Tag gelegt haben. Vorspiegelung von Verrücktheit kann doch nur als Mittel dienen, einen Zweck zu erreichen, der ohne das nicht erreichbar sein würde. Die
Winter mußte sich sagen, daß das Gelingen öer Täuschung sie nur in das Irrenhaus führen könne. Soll ein solcher Erfolg einem vernünftigen Menschen wünschenswert erscheinen, so muß das von einer anderen Seite her drohende Übel sehr schwer sein. Demnach kann man im vorliegenden Falle bei der Winter nur dann eine Verstellung annehmen, wenn man sie zugleich eines schweren Verbrechens an ihrem Kinde für schuldig hält – was man nach alledem doch eben nicht darf. Und wenn sie aus diesem Grunde zu
diesem Mittel gegriffen hätte, würde sie es gewiß mit solcher Energie angewandt haben, daß es nicht fehlschlagen konnte, und es nicht während der sieben bis acht Wochen, in welche die für ihr Schicksal so wichtigen Vernehmungen ihrer selbst und der verschiedenen Zeugen fielen, bei den unwirksamen Vorspiegelungen von Traumgesichten haben bewenden lassen. Hieraus gewinnen wir gleichfalls die Überzeugung, daß sich die Winter nicht wie eine Vernünftige benommen hat, die sich Mühe gibt,
geisteskrank zu erscheinen.
Hierfür spricht noch eine Reihe anderer Gründe. Als hervorstechendste Eigenschaft der Winter wird von den verschiedensten Personen Eitelkeit, Dünkel und Selbstüberschätzung angegeben: das hat sich schon früher als krankhafte Überspanntheit gezeigt. Durch diese Eigenheiten hatte sie sich ihrer Familie entfremdet, und ihre Eltern und Geschwister hatten schon lange von ihr geglaubt, »sie habe einen Stich«. Ihre Dienstherrschaften hatten Hoffart und Dünkel an
ihr bemerkt und sich natürlich nicht bemüht, weiter zu erforschen, ob hierin der Keim und die ersten Anzeichen einer Geistesstörung lägen. Die Äußerung, welche die Winter nach jenem Theaterabend getan hat, ist jedenfalls schon sehr auffallend. Ob die Winter, als die von ihr vorgenommene Fälschung des Dienstbuchs entdeckt wurde, sich nur närrisch gestellt hat, wie der Gendarm meint, oder einen wirklichen Anfall von Geistesstörung gehabt hat, muß unentschieden bleiben, da keine näheren Erhebungen
hierüber stattgefunden haben. Nach ihrer Entbindung trat ein heftiges Kindbettfieber ein und ließ einen krankhaften Zustand des Unterleibs zurück, der bis zur Einlieferung in die Irrenheilanstalt noch nicht behoben war, sondern sich in den letzten Wochen wieder gesteigert hatte. Bei dieser Sache ist jede Möglichkeit der Verstellung ausgeschlossen, und daß derartige körperliche Zustände der Wöchnerinnen oft zu Geistesstörungen führen, steht wohl fest: um so mehr kann man es hier vermuten, wo
schon eine psychische Anlage dazu vorhanden war. Nach der Entbindung und kurz vor dem Tode des Kindes beginnen bei der Winter die Traumerscheinungen; sie glaubt, das Kind soll ihr entrissen werden, und drückt es so fest an sich, daß sie darüber erwacht. Sehr bemerkenswert ist, was eine der Schwestern Köhler sagte, daß die Winter am Abend vor dem Tage, an dem das polizeiliche Einschreiten stattfand, plötzlich ohne Veranlassung in die Höhe gefahren ist, eigentümlich um sich geblickt und mit den
Händen in der Luft herumgefuchtelt hat.
Daß alle diese körperlich und geistig krankhaft gereizten Zustände durch die Verhaftung und durch die schwere Anschuldigung aufs äußerste gesteigert werden mußten, bedarf keiner weiteren Ausführung; nur ein paar Bemerkungen mögen noch am Platze sein. Auch in dieser Zeit größter Aufregung geben sich jene Grundzüge im Wesen der Winter, die Eitelkeit, der Dünkel und die Selbstüberschätzung, aufs deutlichste kund und finden in der religiösen
Schwärmerei und Redseligkeit, in dem dichterischen Hang und in dem Wahne der Hellseherei ihren Ausdruck. Dabei macht sich das Bedürfnis, vor andern damit zu glänzen, bemerkbar; und damit hängen auch ihre beständigen Bitten um Vorlaß, ihre Schreibseligkeit, ihr Verlangen nach Gesellschaft zusammen. Letzteres hat wohl auch noch den Grund, daß sie bei ihrem Gemütszustand die Einsamkeit nicht ertragen konnte. Die beiden Anfälle von Tobsucht fanden statt, als die Winter allein in ihrer Zelle war. Daß
alle diese Erscheinungen, bis auf ein im allgemeinen aufgeregtes Wesen, in der Irrenheilanstalt verschwanden oder nicht mehr zutage traten, läßt sich gleichfalls erklären. Dort war sie nicht mehr Untersuchungsgefangene; sie wußte bereits, daß die Untersuchung einen für sie günstigen Verlauf nahm, sie war nicht allein eingeschlossen, und ihre Eitelkeit fand keine Nahrung mehr, denn man hatte keine Ursache, sich um ihre Träume, Gedichte und dergleichen zu bekümmern.
Nehmen wir daher als
feststehend an, daß die Winter sich nicht verstellt hat, sondern daß eine seit langem in ihr vorhandene Anlage zu partieller Geistesstörung, die sich in Dünkel und Überspanntheit kundgab, durch die physischen Folgen der Niederkunft, durch den Schmerz über den Tod des Kindes, durch die Mordanschuldigung und die Verhaftung sich entwickelt und bis zu den beiden Anfällen von Tobsucht gesteigert hat: so liegt es nicht mehr außerhalb der Grenzen der Wahrscheinlichkeit, anzunehmen, daß Schreck oder
Angst, vielleicht im Zusammenwirken mit einem Gebilde der krankhaft aufgeregten Phantasie, die Winter schon in der Nacht vom 8. zum 9. Dezember in einen Zustand ähnlicher Art versetzt haben könnten. Wir wollen diese den sicheren Grund des Tatsächlichen verlassenden Vermutungen nicht weiter verfolgen, sondern nur die zwei Möglichkeiten zur Erklärung des rätselhaften Falles angedeutet haben und für den Mangel an einem genügenden Aufschlusse in der Gewißheit Ersatz finden, daß die Mutter von der
Schuld des Kindesmordes rein geblieben ist. Dabei hat zugleich das eifrige Zusammenwirken der vorwärtsschreitenden Wissenschaft und einer besonnenen Rechtspflege den schönen Erfolg erreicht, daß der trügerische Anschein eines grauenvollen Verbrechens in seine Wesenlosigkeit aufgelöst worden ist.