Willibald Alexis
Isegrimm
Scheiden.
eingestellt: 25.7.2007Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Scheiden.
Man konnte das Kind nicht begreifen. Alle schienen nur von einer Sorge bewegt – um Theodors Schicksal; Amalie schien gar nicht bewegt, sie war ganz ruhig. Aber es war eine gläserne Ruhigkeit in ihren Augen. Sie arbeitete und tat nichts; sie konnte lächeln, weil sie nichts dabei dachte; sie lächelte auch, wenn die andern sich abmühten, etwas zu ersinnen, um den armen Vetter zu retten. Sie denkt nichts dabei, dachten die anderen, sie ist krank; aber sie hörte die Reden und schüttelte wehmütig den Kopf: »Es hilft ja doch zu nichts.«
Allerdings war es ein müßiges Sinnen. Sein Schicksal war ausgesprochen; jeder konnte, was kommen müsse, sich sagen, wenn auch die Machthaber mit der Vollstreckung noch zögerten, um keine der Förmlichkeiten zu versäumen, welche man im Kriege zuweilen für nötig findet, um einem mehr das Leben zu nehmen, zuweilen geht man auch rasch darüber weg, und es ist dasselbe.
»Der Krieg will seine Opfer, wie Sturm, Wasser und Feuersbrunst. Jede Exekution aber ist ein Blitzableiter; die nicht getroffen werden, mögen Gott danken für die abgewandte Gefahr. Ja, es ist traurig, herzzerreißend, aber es ist nur ein junger, verlorener Mensch, aus dem Gott weiß was geworden wäre, und wenn sie diesen Sündenbock nicht gefunden, wer weiß, wen der Blitz traf! Hätten sie nicht möglicherweise, denn möglich ist alles, sich ein anderes, teures Haupt auswählen mögen? – Wut und Tyrannei sind blind. – Und, Vetter, denken Sie die Verzweiflung Ihrer Familie – unser aller, wenn sie einen Mann mit grauem Haar, einen Mann, von dem ich nichts sagte, als daß er ein wahrer Patriot war, wenn sie auch ihn dahin geschleppt, wohin sie den Bürgermeister führten. Darum, Gott sei gelobt, daß dies nun alles aplaniert ist.«
Das sollte der Trost sein, den der Hofmarschall bei seiner Abfahrt für den Major bereit hatte; für Frau von Ilitz hatte er – nur Worte.
»Wer weiß denn, wie sich noch alles fügt! Wenn sie ihn füsilieren wollten, warum haben sie es nicht auf der Stelle getan! Wo man eine Strafe aufschiebt, geht man selbst ungern daran, und jeder zufällige Umstand, der die Sache hinzieht, ist uns willkommen, bis – nun, Gott wird alles zum besten fügen!« hatte er mit dem herzlichsten Händedruck beim Abschied gesagt.
Die Ungewißheit verschlimmerte die peinliche Lage. Die Franzosen waren stumm. Böse Gesichter scheuchten die Frager, vorgewiesene Kolben die Neugierigen zurück. Es hatte nicht einmal einer mit Bestimmtheit den Junker gesehen, nur Hans und die Großmagd glaubten, ihn erkannt zu haben; aber es war schon dunkel gewesen, sein Gesicht war von Tuch und Blut entstellt. Möglich auch, sie hatten ihn entschlüpfen lassen, warum sonst das Geheimnisvolle? Vielleicht war er auch schon seinen Wunden erlegen?
War das ein Trost, wo sich jeder sagen mußte, es ist nicht wahr? – Der Major war den stummen Tränen der Seinen entschlüpft, aber als er in seiner Stube sich niederwarf, schien es, als hätte der zurückgehaltene Schmerz gewirkt, stärker, als er sich zugestehen wollte, er fuhr mit der Hand über seine feuchte Wimper:
»Wenn das dem Kinde ans Leben ginge! Das ist der Bursch nicht wert!«
Der Kandidat kam über den Korridor gegangen. Der Major stieß die Tür auf und winkte ihn herein. Sie hatten ein längeres Gespräch, es war verwandt dem am ersten Abend. In der erzumschienten Brust war etwas gelöst, und es floß wie ein Strom, der sich sanft über seine Ufer ergießt. Es schien von seiner Seite alles vergessen, was letzthin wieder zwischen sie gekommen war; der Kandidat erinnerte ihn nicht daran. Dennoch waren beide, ehe sie es sich versahen und gegen ihren Willen, wieder in eine Kontroverse geraten. Herr Mauritz sollte, das war des Vaters Wunsch, auf seine Tochter einwirken, ihr Fassung empfehlen, ihren Schmerz stillen, ihren Gedanken eine andere Richtung geben.
»Ihre Tochter ist gefaßt, sie ist ruhiger, als ich sie je gekannt, ihren Schmerz aber anzugreifen, dünkt mich ein Eingriff in fremdes Eigentum. Kennen Sie, der Vater, denn ganz diesen jungfräulichen Schmerz? Was weniger ich! Edlen Seelen ist ihr Schmerz ein Schrein, worin sie ihr Bestes tun, er wird die Quelle zu schönen Entschlüssen und erhebenden Taten. Und warum den Gedanken eine andere Richtung geben wollen, wo wir weder ihren Quell genau kennen, noch auf welches Ziel sie selbst hinsteuern. Wir wissen nur, wohin wir wünschen, oder für gut halten, daß sie steuern sollen; wer aber gibt uns die Gewißheit, daß wir damit zum besten lenken!«
Der Major fand das gut gesprochen, aber nicht christlich gedacht. Man müsse auf jedes Gemüt durch die Religion einwirken.
»Ist die Religion ein Despot, ein Exerziermeister? Und wenn wir von ihren Segnungen erfüllt sind, sind wir um deswillen berechtigt, sie anderen aufzudringen?«
»Aber verpflichtet! Es ist die Pflicht des Seelsorgers.«
»Das bin ich zurzeit noch nicht; aber wenn ich es wäre,« entgegnete der junge Mann nach einigem Bedenken, »so gäbe es doch Verhältnisse, wo ich zweifelte, ob meine Pflicht zum Recht würde. Macht der Unteroffizier einen Rekruten zum tapfern Soldaten, indem er ihm die Montur aufpreßt und die Exerzitien und Handgriffe beibringt, wie einem alten Veteranen?«
»Vielleicht – doch! – Steht der Mensch in Reih und Glied, ist er eben nur ein Glied in der Kette. Es kommt nicht auf ihn an; auf den allein, der die Kette in der Hand hat, auf das Rad, woran sie hängt. Der Offizier macht den guten Soldaten.«
»Die Religion aber ist kein Exerzierreglement, sie kennt Höheres, weil sie etwas Höheres ist als die Disziplin. Das Glied in der Kette wird zum freien, selbständigen Wesen vor dem, der es schuf.«
»Noch nicht satt von den schönen Freiheitsideen – Herr Theolog?«
»Soll ich das größte, heiligste, beseligendste Geschenk, das den Menschen über die Kreatur zu seinem Schöpfer erhebt, denen aufdringen, die sich davor verschließen? Wehe uns, wenn das wieder zum Gesetz würde in dieser Welt der Arglist und Heuchelei. Wie zwing ich den armen Betörten, der sich gegen den Trost verschließt, der nach der Sonnenglut des Tages die Brust zuknöpft, daß er sie aufreißt, um im linden Wehen des Abendhauches sich des Daseins zu erfreuen? Der Theolog, den Sie anrufen, weiß von dem Gnadenstrahl, der durch die Finsternis der Seele zückt, aber sein weisester und glühendster Priester vermißt sich nicht, daß er vollbringe, was allein des Herrn ist. Glaube, Liebe, Hoffnung, wie ein Quell sprudeln sie aus des Berges Grunde; so kommt auch der süße Trost, die selige Erleuchtung doppelt erfrischend, belebend, wenn er gefunden wird, während der Müde nach anderem sucht, nimmermehr auf ein Kommando.«
»Und doch gräbt man Brunnen. – Eure Theologie wird erst gesund werden, wenn sie aufhört, gelehrt zu sein und spitzfindig zu argumentieren.«
»Vielleicht erst dann, wenn sie die Lust zum Herrschen und zum Richten aufgibt.«
»Aber die Furcht Gottes erwecken, das verträgt sich doch noch mit Eurer mystischen Liebe, Herr Kandidat? Meinen Sie, daß Faßbinder in dem Kinde die religiösen Gefühle nicht recht erweckt hat? Sie ist der Gehorsam selbst gegen den Vater, warum nicht weiter? – Genug, Sie sehen, Malchen verkommt. Ein rechtes Wort von Ihnen zur rechten Zeit, denn – sie horcht ja auf Sie, sie tut alles, was Sie gutheißen. Ist das für Sie kein Fingerzeig, das Mädchen von ihrer törichten Liebe abzulenken?«
»Nein, Herr Major.«
»Weil Sie eigensinnig sind.«
»Weil« – der Kandidat stockte – »weil ich nicht weiß, ob sie wirklich in törichter Liebe an dem jungen Offizier hängt – es wäre ja denkbar, daß sie diese ihre erste Jugendneigung schon überwunden hat – daß nur das allgemeine, das Schicksal ihres Verwandten, vielleicht die Angst um ihren Vater, ihre Familie –«
»Sie sind darin verständig, Herr Mauritz, ich meine, daß in einem Hause nur einer Herr sein soll. Seit Sie darin sind, ist zu dem einen, an dem es genug wäre, meine ich, ein zweiter gekommen. Der kommandiert zwar nicht, o, er tritt sehr bescheiden auf, aber man fragt offen oder im stillen nach seiner Meinung, und was er rät, vorschlägt, das geschieht. Ich klage nicht darüber, denn das ist Frauenart, so von je gewesen, und wird so bleiben, daß sie sich Rats und Trost einholen, wo ein rauher Vater und Ehegatte ist, beim sanften Beichtvater, gleichviel, ob er eine Tonsur trägt oder einen melancholisch gestrichenen Scheitel. Verstehen Sie mich, ich klage nicht darüber, ich jage den Beichtvater auch nicht zur Tür hinaus, weil die weibliche Schwäche absolut eines weichen Schwammes bedarf, in den sie ihren Jammer ausdrücken kann, und weil ich nicht weiß, ob, wenn ich den einen fortschickte, nicht ein anderer wiederkäme, der schlimmer ist, aber – von solchem Beichtvater erwarte ich denn auch, daß er seine Stellung und seine Pflichten begreift. Er muß Frieden stiften, dem Hausherrn entgegenkommen und von ihm das abhalten, was ihn stört. Wer hat jetzt Zeit für rote Augen und Familienjammer! Das Vaterland liegt in der Agonie, und der Mann hat abzuwägen, ob mehr Mut dazu gehört, noch zu hoffen, oder die Hoffnung aufzugeben. Also – wenn Sie der Mann sind, den Gottes Geist erleuchtet, so begreifen Sie Ihre Lage, Ihre Pflicht. Ich übergebe Ihnen meine Tochter – wenn – wenn das Schlimmste kommt – und ich sehe kein Mittel, es abzuwenden – dann sprechen Sie ihr Trost ein, den besten, den Sie haben, richten Sie die Geknickte auf. Sie können es, Sie müssen es, ich fordere mein Kind von Ihnen. – Nun, mein Herr! – Noch immer stumm? – Sie zittern ja. – Ei, ei, Sie, so mutig oft, daß Sie auch mir Lehren geben wollen, werden doch aus einem sechzehnjährigen Mädchen machen können, was Sie Lust haben?«
Die Unterredung war längst vorüber, aber Herr Mauritz zitterte noch immer. Er war auf seiner Stube. Er entsann sich nicht mehr, was er noch eingewandt, er glaubte, er habe Verwirrtes gesprochen. Der Major hatte die Stirn gerunzelt und mit den Worten geschlossen: » Wem ich Vertrauen gezeigt, von dem erwarte ich, daß er es zu schätzen weiß.« –
Er hatte ihm ja schon einmal Vertrauen gezeigt, ein ungewöhnliches, und hatte der Kandidat Dank, auch nur Anerkennung für seine Handlungen in der Stadt geerntet? Woher dies neue Vertrauen, nachdem der Hausherr in der langen Zwischenzeit auch nicht das geringste Zeichen einer Zufriedenheit verraten? Freilich, der Major kannte nur Pflichten bei denen, welche keine Rechte beanspruchen dürfen; aber zitterte der junge Mann vielleicht darum, weil er den Auftrag für eine Versuchung und Falle ansah? Retten konnte er nichts, nichts an dem Unabänderlichen ändern. Vielleicht wollte der rauhe Mann gerade das, um seiner Ohnmacht sich zu freuen und einen Grund zu finden, seiner sich zu entledigen?
Da ging die Tür auf; sie mochte nicht ganz verschlossen gewesen sein, und zu dem Zitternden trat eine, die auch zitterte. In Karolinen, was wir nachholen müssen, war auch eine Veränderung vorgegangen; man achtete nur nicht darauf, entweder, weil sie ihre Unruhe besser zu verbergen wußte, oder weil die Besorgnis der Familie sich allein auf die jüngste Schwester gewandt.
Was niemand ausspricht, mögen doch vielleicht alle fühlen, und Karoline hatte am allerlebhaftesten gefühlt, welche Dissonanz sie neulich in den Empfindungen der anderen hervorgerufen. Was diese vielleicht schon wieder vergessen hatten, wirkte in ihr eine Unruhe, ein bitteres Gefühl; war es Scham, Reue oder plötzlich erwachte Schwesterliebe? Sie wollte es wieder gut machen, sie überhäufte Malchen mit Zeichen der Teilnahme und Zärtlichkeit, worauf diese doch nur mit starren Blicken geantwortet, und wenn ein wehmütiges Lächeln um ihre Lippen gespielt, schien sie nur zu fragen: Was kümmert Dich denn das, Du denkst ja doch an ganz anderes.
So dachte Karoline, denn wer auf Irrwegen geht, ist argwöhnisch. Ihr Gewissen trieb sie auch an, etwas zu tun, aber warum schlug das Herz so lebhaft, als sie über die Mittel sann? Warum war sie so heimlich, errötete, als könne jemand etwas merken? Warum war sie jetzt über den Korridor geschlichen wie eine Verbrecherin, die ertappt zu werden fürchtet? Dies hatte nun wohl seinen Grund, denn als sie kam, hatte sie die Stimme des Kandidaten in der Stube des Vaters gehört. Sie war stehen geblieben und hatte auch den Vater, am Ende hatte sie das ganze Gespräch gehört. Nun durfte sie sich doch nicht verraten, und hatte sich in die Ecke gedrückt, als Herr Mauritz an ihr vorüberging, und jetzt – vielleicht um ihn um Entschuldigung zu bitten, vielleicht – Gott weiß warum, sie selbst wußte es nicht, war sie in seinem Zimmer.
Auf seinen verwunderten Blicke, auf sein: »Gnädiges Fräulein!« schien sie erst wieder zu sich gebracht. Doch arbeitete es noch in der Brust, bis sie Worte fand, es waren nicht die, es war nicht das, was sie sagen wollte.
»Ich habe Sie behorcht, ich weiß alles,« und sie warf sich auf den Stuhl, ihr Gesicht verbergend.
»Wir leben in einer schweren Zeit, mein gnädiges Fräulein, wo das Maß von sonst für die Verhältnisse nicht mehr ausreicht,« hatte er erwidert, und sie mit einer Heftigkeit, die er an ihr nicht kannte, entgegnet:
»Ja, so ist es, es wird alles anders werden. Wir haben uns zu lange getäuscht und eingeredet, daß etwas noch sei, was nicht mehr ist, und Sie haben immer hier die Wahrheit gesagt, aber man hörte Sie nicht. Nun hat auch der Vater auf Sie hören müssen, es hat ihm Mühe gekostet, seinen Stolz zu überwinden, aber er hat Sie zu unserm Vormund eingesetzt. – Mein Gott, wir müssen doch jemand haben, zu dem wir aussprechen dürfen, was uns ängstet, der uns versteht, uns deutlich macht, was uns verwirrt, und Rat gibt. Sind wir doch so mit einem Male hineingerissen in ungeheure, wunderbare Verhältnisse, die über unsere Köpfe zusammenschlagen.« –
»Starren Sie nicht so verwundert auf mich,« hub sie wieder an, als er noch vergebens nach dem Schlüssel zu dem unerwarteten Auftritt suchte. »Wo alles sich verrückt hat, alles sich verrückt hat, alles anders ward, bin ich auch eine andere geworden. Sind wir hier in Ilitz, bin ich in Berlin für das erzogen, was über uns hereinströmt? Hat uns der Lehrer gelehrt, haben wirs von unsern Eltern, hat der Prediger es uns gesagt, was wir tun, wie wir handeln sollen? Unsere Eltern – was ich rede! – Nun aber sollen Sie uns helfen, der Vater selbst hat Sie dazu eingesetzt, und meine Schwester muß gerettet werden. Sie muß – wir müssen alles daran setzen. Das will ich von Ihnen hören.«
Was wollte sie von ihm hören! Sie war doch nicht im Zustande, um nur ruhig anzuhören, was er von ihr sagen konnte: daß man noch immer nicht wisse, ob das Kriegsgericht wirklich zusammengetreten sei, daß zurzeit bei dem besinnungslosen Zustande des verwundeten Obristen kein höherer Offizier im Hause wäre, um zu präsidieren, daß man glaube, sie warteten auf die Ankunft eines solchen, somit noch immer die Möglichkeit einer Aenderung da sei. Sie hatte nur das eine herausgehört:
»Er ist nicht mehr besinnungslos! Ich sah es, die Tür stand vorhin offen – er fragte den Chirurgen, wie lange er werde liegen müssen? Der Arzt sagte, das hinge ab von der Ruhe, die er pflege. Er lächelte schmerzlich:
»Das sagen Sie einem Soldaten, der sein Leben nur nach den Tagen der Unruhe zählt!«
»Ich begreife Sie nicht, Fräulein.«
»Was sind in solchen Momenten die Rücksichten! War ich nicht, waren nicht alle dabei, als er auf der Bahre gebracht ward? Sie trugen ihn ungeschickt, er fiel, und der Verband ging ab, sein Blut floß an den Boden, wir alle schrien, sprangen hinzu – faßten mit an – da hier auf meinem Aermel ist noch ein Fleck von seinem Blut.«
»Was soll das Ihrer Schwester – was soll das dem Kornett helfen? Besinnen Sie sich, Fräulein.«
»Hab ich das nicht gesagt? – Ach, mein Kopf ist wirr und wüst. – Er hat ein menschlich Herz – Herr Mauritz, Sie hörten ihn nicht, wie ich, nicht dort in der Stadt, nicht hier – er ist edel, bei Gott, er ist ein durchaus adliger Mann, er ist uns Dank schuldig – vielleicht sein Leben, seine Rettung – ach, Sie wissen ja auch darum – ich vergaß es – er vergißt es nicht, er ist ein Ritter im wahren Sinne des Wortes. Vater sieht es nicht, weil er es nicht sehen will – er darf auch jetzt nichts sehen, nicht darum wissen –«
»Wohin irren Ihre Gedanken! Wir sind bei Ihrer Schwester, bei Ihrem Vetter. Fräulein Karoline, Amalie ist zu retten, wenn wir Balsam für ihren Schmerz finden; der Vetter ist, fürchte ich, nicht zu retten.«
»Wenn ich ihm zu Füßen stürze –«
»Wem?«
»Nicht doch zu Füßen. Wenn er wacht, das Fieber ihn verlassen, meine Bitte, den Frieden, die Ruhe einer Familie, die er achtet, nicht zu stören – Herr Mauritz, der Colonel kann Theodor retten.«
Der Schlüssel zu dem Rätsel schien nun dem Kandidaten in die Hand gegeben, aber doch vielleicht nicht ganz. Sie blickte schüchtern zu ihm auf:
»Sie sind nun unser Beichtvater, Vater selbst hat Sie dazu bestellt; was für die eine Tochter, muß doch auch für die andere gelten.«
»Ihr Vater –«
»Würde den Schritt nicht zugeben,« unterbrach sie. »Nimmermehr. Er würde außer sich geraten.«
»Es läßt sich vielleicht vermitteln.«
»Keine Vermittlung! Die meines Vaters käme zu spät, oder die Art, wie, tötete die Wirkung. Ich muß allein zu ihm, ich, jetzt, auf der Stelle – Arzt und Wächter haben ihn verlassen. – Es ist eine günstige Stunde. Niemand darf darum wissen. Herr Mauritz, ich weiß, was ich wage, den Zorn meines Vaters – Pflicht gegen Pflicht – das andere kümmert mich nicht. Ich bin entschlossen, aber Sie haben zu entscheiden. Er hat seinen Willen in Ihre Hand gelegt. Jetzt will, fordere ich Ihren Rat, nein, Ihre Zustimmung, Ihren Beistand.«
»Wenn Sie zu dem Schritte schon fest entschlossen sind!«
»O, seien Sie mir nicht böse, ich wollte Sie nicht aufbringen. Aber mir ist so bang, nicht vor dem Vater, nur vor dem Ungewöhnlichen. Sprechen Sie ein Wort, das wie ein Segen klingt. Ich bin doch nur ein schwaches Mädchen. Was wir in Romanen gelesen, wenn das mit einem Male wirklich wird, wenn die Helden und Gespenster, die uns da erscheinen, nur zur Lust für unsere Phantasie, plötzlich ihre kalte Hand wirklich auf uns legen, wenn die Abgründe vor uns gähnen – Herr Mauritz, Sie müssen uns beistehen; legen Sie Ihre Hand auf mich.«
»Sie täten den Schritt, Karoline, auch wenn –«
»Sie mich festhalten wollten! Ich risse mich los. Ich muß!«
»So sei der Geist, der Sie treibt, ein guter, und sein Geist, der solches Verhängnis über dies Haus zuließ, wende Ihre Schritte zum besten!«
Als sie hinaus war, trieb es ihn, ihr nachzueilen, aber er zauderte an der Tür. Schwebten schon die mitternächtlichen Gespenster durch die öden Gänge? Amalie brauchte gerade jetzt seine Hilfe, der Gedanke wollte nicht fort. Er schritt vor ihrer Schlafstube wie eine Schildwache auf und ab, aber es war drinnen still. Von unten kam ein matter Lichtschein. Im großen Saal mußte sich jemand verspätet haben. Er schlich leise hinab und hatte sich nicht getäuscht. Bei der dunkel brennenden Kerze erkannte er Amaliens Figur am Fenster, in der Stellung einer Lauschenden.
Beim Geräusch, das sein Eintritt verursachte, wandte sie nur etwas den Kopf um und winkte ihm Stille zu. Dann reichte sie ihm ihre Hand und sprach mit leiser Stimme: »Das ist gut, daß Sie kommen.«
»Was geht hier vor?«
»Sie haben ihn aus dem Turm dort in den Seitenflügel gebracht –«
Mit Verwunderung sah der Kandidat einen matten Lichtschein aus den Fenstern eines Zimmers dringen, das, nur noch zur großen Polterkammer dienend, selten betreten ward.
»Woher wissen Sie es, Fräulein? Sollten Sie ein Verhör –«
Sie schüttelte den Kopf:
»Sie haben ihn gerichtet.«
»Fräulein – Amalie – liebes Kind, Sie haben Visionen, Sie müßten durch die Mauern sehen – Ihre Spannung reizt Ihre Nerven und macht Sie krank. Sie sollten dem Wunsch Ihrer Eltern nachgeben und sich zum Schlafen niederlegen.«
»Damit ich zu der Nachricht aufwache: Theodor ist tot? Nein, Herr Mauritz, das wenigstens kann mein Vetter und lieber Jugendfreund von mir fordern, daß ich wache, bis – bis er die kleine Spanne Zeit ausgelebt hat.«
Der Kandidat hatte wenig, oder eigentlich keine Hoffnung, daß Karolinens Schritt gelingen werde. Dennoch gab er sich Mühe, ihr den Gedanken auszureden. Was halfen ihm die Gründe, mit denen man sich im Schloß zu trösten versucht! Malchen hörte ihn mit der ruhigsten Miene zu und sah ihn dann so hell an, daß er die Augen senken mußte.
»Sie glauben selbst nicht dran. Warum geben Sie sich so viel Mühe, mir etwas einzureden, was doch kein Trost sein kann? Denn, wenn ich es auf einen Augenblick glaubte, so würde es ja um so schrecklicher nachher. Da meine ich, ist es am besten, sich das Schreckliche vor Augen zu halten, damit es nicht mehr erschreckt. Wenn ich recht lange ins Dunkle sehe, erkenne ich die Gegenstände und glaube sie ganz deutlich zu sehen, wo andere noch gar nichts sehen als Nacht, und sich fürchten. So ists mir jetzt; ich fürchte mich gar nicht mehr. Ich sehe Theodor ganz deutlich, wie damals, als er bei uns im Hause war, mit den blonden Locken, mit dem blauen Auge, das einen so unschuldig ansehen konnte – und ich meine auch zu sehen, wie sein Gesicht jetzt immer klarer wird – der spöttische Blick, das wilde Lächeln und dabei der schmerzliche Zug um den Mund, wie er in Nauwalk zu uns kam, sind verschwunden – er wird auch wie ich in die Nacht gesehen haben, und hat gefunden, daß es nicht so dunkel ist, wenn man nur vertraut, daß alles, was geschieht, zum Guten ist. – Nun ists auch gut, daß Sie hier sind.«
»Sie erwarteten mich?«
»Ich wußte, daß Sie kommen würden. Es ist mir lieber – es ist mir lieb, daß jemand bei mir ist. – Anfangs hatte ich Sie bitten wollen, bei den Offizieren zu bitten, daß sie mich noch einmal zu ihm ließen. Das hätten sie wohl nicht abgeschlagen; aber es ist so besser. Mein Anblick hätte den Armen auf dem Wege zum Tode wohl noch verwirrt. O, er hat sich nichts vorzuwerfen, aber froh soll er sein, durch nichts gedrückt. Er soll der Muskete ins Auge sehen, wie wenn er auf dem Schlachtfelde stände. Er wäre gewiß ein guter Offizier, vielleicht ein großer General geworden. Nun ruft der liebe Gott ihn früher ab. Er hat ihm gegönnt, daß er mit Ruhm stirbt. Die Feinde sagen, er hätte sie in der Dorfgasse da angegriffen und sich geschlagen wie der beste Reitergeneral; hätten alle unsere Offiziere ihre Schuldigkeit getan wie er, dann stände es anders um den Krieg. Ich weinte vor Freude, als ich es hörte, ich küßte ihm die blutende Stirn in Gedanken. Sagen Sie ihm das –«
»Ich!«
Amalie ergriff die Hand des Kandidaten und wollte sie in lebhafter Bewegung an die Lippen bringen. »Ja, Sie sollen – Sie tuns mir zuliebe, Sie sollen ihn zum Tode begleiten. – Lassen Sie mir doch die Hand, Herr Mauritz! – Sie sollen es mir versprechen.«
Er versprach es durch einen Händedruck. »Möge der Augenblick, wo ich das heilige Versprechen erfülle, wenn überhaupt, noch lange nicht eintreten.«
In dem Augenblick ward die Stille draußen durch Töne ebenso unerwartet unterbrochen, als sie auf die beiden einen ganz verschiedenen Eindruck machten. Es war Musik; eine geübte Hand gleitete über einen Flügel, und die Macht der Kunst entlockte ihm Klänge, die das alte Instrument nur mit Widerstreben noch von sich zu geben schien. Der Kandidat erinnerte sich, daß unter anderem Gerümpel auch ein Spinett in dem Saale stand, ein unbenutztes Erbstück, mit Staub und Spinneweben überzogen. Der Spieler jetzt darauf mußte es, wie es ging, gestimmt haben, denn wenn auch unwillig, die Saiten folgten dem Willen des Meisters, wie der Schaum der Welle dem Kiel, der seinen Frieden zerrissen hat, und die schwermütig süßen Töne schwellten über den Hof.
So konnte nur Theodor spielen, es konnte nur Theodor sein. Das Lied war eine neue Komposition des Königs von Thule.
»Wer so in die Saiten greifen kann, geht nicht zum Tod. Seine Haft wird schon erleichtert, das ist ein Uebergang zur Befreiung.«
»Ja, zur Befreiung!« Sie stieß einen Ton aus, der in die Seele schnitt. »Sie lassen ihn noch einmal spielen, – weil er nie mehr spielen soll.«
Sie war auf den Stuhl gesunken und bedeckte das Gesicht. Ein unterdrücktes Schluchzen accompagnierte die immer schwermütiger, aber immer schöner und freier tönenden Klänge, bis der Becher ins Meer sank und man das Rauschen der Wellen zu hören glaubte, die über ihn zusammenschlugen. Aber aus der Tiefe wirbelten andere Töne, lustiger, stürmischer, rufend, es wurden Trompetenklänge, Accorde aus dem Reiterliede und dem Dessauer Marsch.
»Er will als Soldat sterben!« sprach sie. Der Kandidat hatte auf andere Töne gehorcht. Dumpf, aber vernehmlich klangen sie aus den hinteren Baulichkeiten: schwere Tritte, Gewehrkolben – da blitzte ein Licht – der Schein einer Laterne, Bajonette schimmerten auf – das Klavier war verstummt.
»Beten Sie, Malchen –« flüsterte er mit zitternder Stimme – »beten Sie für ihn. Seien Sie stark – ich gehe zu meiner traurigsten Pflicht.«
Sie war lautlos aufgesprungen, hatte krampfhaft seine Hand ergriffen, hob sich auf den Zehen und hauchte einen Kuß auf die Lippen des jungen Mannes. »Den von mir – ein Schwesterkuß – der erste, letzte. – Schnell, um Gottes willen schnell.«
Sie lag auf ihren Knien. – Es war eine fürchterliche Stille, nur unterbrochen vom unwillkürlichen Zusammenschlagen ihrer Zähne. – Sie konnte ja nicht beten, sie mußte horchen. – Für wen betete sie? – Der kalte Angstschweiß perlte über die Stirn. – Da kam es die Treppe herab – hastige, aber leichte Tritte.
»Herr Mauritz! Herr Mauritz!« es war Karolinens Stimme. Sie trat in großer Aufregung, ein Papier in der Hand, ein. »Wo ist der Kandidat? – Er muß zu den Offizieren. – Es wird alles gut werden,« rief sie zur Knienden, als sie diese erblickte. »Stehe auf, Herzens-Malchen, schaff mir nur Deinen Herrn Mauritz – der Obrist, o, er ist, – Gold ist nicht echter – hier ist sein Wille, seine Vorstellung an den Richter. Ich mußte sie aufsetzen – er diktierte – Gott sei Dank, er hatte schon Kraft, sie zu unterzeichnen.«
»Gnade! – um Gottes Barmherzigkeit willen.«
»Die kann er nicht gewähren, – nur Aufschub; man soll erst das Protokoll einfordern, in welcher Art die Offiziere damals ihr Ehrenwort gegeben – aber jeder Aufschub ist –«
Malchen sprang auf und riß ihr das Papier aus der Hand. Sie riß das Fenster auf, sie wollte schreien, da versagte ihr die Stimme. – Es blitzte hell aus dem Obstgarten – gleich darauf ein – zwei – ein vielfacher Knall widerhallte an der geschlossenen Mauer des Hofes. Er schien durch die Eingeweide der Schwestern nachzuhallen. Malchen wankte zurück; sie sank auf die Knie, den Kopf im Stuhl, die Hände krampfhaft gefaltet, mochte sie jetzt wirklich beten.
Auch Wilhelmine war nun hinzugekommen. Die Schüsse hatten sie geweckt; in ihr Tuch gehüllt, sah, ahnte und wußte sie, was geschehen. Die Ahnung, in traurigen wie in freudigen Dingen, ist oft eine lebendigere Vermittlerin, sie spricht deutlicher, klarer, tiefer als Worte und Schrift.
»Der liebe Gott erbarme sich unser!«
Der Kandidat stand auch wieder im Zimmer. Brauchte er die Lippen zu öffnen, ein Wort zu sprechen? Wie verräterisch ist schon der Gang eines Menschen. Man hört das Herzklopfen aus seinen Tritten, wenn ein Bittsteller sich der Schwelle naht, den trotzigen Entschluß, die frohe Botschaft – ach, was mehr die traurige an den langsamen Schritten, wo die Sohle sich nicht vom Boden lösen mag!
Es war geschehen, – das, was keiner mehr änderte. Der Geist des Jünglings, dessen Blut noch rauchte, schwebte durch die lautlos Versammelten. Sie senkten die Augenlider, ihre Zunge schien am Gaumen zu kleben, auch war es zu überwältigend gekommen, als daß der Schmerz in stillem Schluchzen oder hellen Tränen sich lösen konnte. Amalie war es, die zuerst die Augen aufschlug und den Mut hatte zu fragen: »Wie starb er?«
»Wie ich wünsche, daß Gott in meiner letzten Stunde mich stärke. Nicht trotzig, nicht verzagt; ohne Bitterkeit und ohne Klage. Als wären die Schlacken abgefallen und es strahlte schon aus den Toren der Ewigkeit auf seine Jünglingsstirn das Licht, das keinen Schatten wirft. Die rauhen, rohen Menschen selbst, welche die Laterne auf seine Brust hefteten, fluchten vor Bewunderung.«
»Was der arme Theodor wohl zuletzt gesprochen?«
»Es war ein kurzes Wort, aber wie ein schöner heller Bach, der, aus dem Felsen sprudelnd, in die See fällt. Ein tiefer Seufzer, ein Aufschnappen, es galt seinem Vaterlande: Es kann ja nicht aus sein für immer; ich fühle es, ich werde wieder leben, rief er, indem er die Halsbinde abriß und die frischen Ströme der Luft einsog; so soll, muß, ja, es wird wieder leben, auch mein Vaterland, wenn die nur besser werden, die nach uns kommen, und mehr lernen als wir. Sie müssens ja wieder gutmachen, was wir verdorben hatten.«
»An sein Vaterland dachte er zuletzt!«
»Noch an etwas, was ihm teuer im Leben gewesen, und eine Röte überzog sein blasses Gesicht: ob ihm wohl alle vergeben hätten? Der Tod löscht die Schuld dieser Erde! Als ich ihm eine letzte stille Botschaft vertraute, glänzte sein Auge auf, er stürzte an meine Brust. Was ich ihm überbracht, gab er zurück, mit einer Bitte, die ich nicht versagen konnte und doch nicht erfüllen darf –«
Als hätte nun der erstarrte Schmerz sich gelöst, waren die Tränen aus den Augen der Schwestern gestürzt; es war einer der Momente, wo die Rücksichten als wesenlose Schatten gefallen sind und die Pulse schlagen, wie die Mutter Natur sie ihren Kindern gab.
Auch die Augen des Kandidaten waren feucht, vermutlich wollte er sie trocknen, als er die Arme hob. Aber es kam anders, die Hand kam nicht mehr an die Augen. Malchen lag an seiner Brust. Ob, um die Botschaft des Toten zurückzuempfangen, ob aus Dank für den Ueberbringer, oder weil sie schwach war, wer sagt es. Aber schwach war sie wirklich, der Kandidat mußte sie mit beiden Armen halten, und die Träne aus seinem Auge fiel auf ihre Stirn.
»Gott im Himmel, Herr Mauritz, verlassen Sie mich nicht. Ich weiß nicht, wie mir wäre, wenn Sie nicht hier wären.«
An Nervenzufällen litt man vor fünfzig Jahren weniger als jetzt; wenigstens in den Provinzen, von denen hier die Rede ist. Es gab noch keine Schienen und überhaupt noch zu wenig Wege, welche das Land in augenblicklichen Rapport mit allen Fluktuationen der Hauptstadt setzten. Aber vor kamen sie auch damals schon, und es war eine Art Nervenanfall, wie Malchen auf dem Kanapee saß, aufschluchzend und zitternd vor hellem Weinen.
»Lassen Sie ihre Hand nicht los,« flüsterte Minchen hinter der Kanapeelehne zum Kandidaten. »Wenn Sie mit den Fingern sanft darüber streichen, wird sie ruhig und lächelt.« –
Und sie ward ruhiger und lächelte. Er fragte vieles, und sie antwortete aus ihrer Seele, klar und hell. Sie sprach, was sie nimmermehr, nicht vor dem Kandidaten, nicht vor ihren Schwestern, gesprochen hätte. Sie sprach so viel, daß Herrn Mauritz das Herz schlug; er zauderte zu fragen, und eine unwiderstehliche Macht drängte ihn doch.
»Theodor ist glücklich!« sprach sie.
»Er wäre glücklicher geworden, wenn er lebte.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Es war ja nicht wahr, ich habe ihn nicht geliebt. Das wußte ich – ganz gewiß.«
»Seit wann, Malchen, kam Ihnen die Ueberzeugung?«
Sie lächelte. »Das kann ich doch nicht sagen. – Da, als er so wild und träumerisch zu uns kam und in sich fuhr, wenn ich ihn ansah – nein, auch da war es schon nicht mehr – es war schon als –«
Er fiel ein: »Als Sie erfuhren, daß er eine andere liebte?«
Sie sann nach: »Nein, sie war so schön, das hätte ich ihm vergeben, da konnte ich mich ja gar nicht mit ihm vergleichen, aber ich verglich ihn mit anderen und fragte mich, wie andere wohl an seiner Stelle gehandelt hätten?«
»Und doch die Angst und Seelenpein um ihn, die nur die Liebe eingibt.« –
»Kann das nicht auch Gewissensangst gewesen sein?«
»Der Schmerz um seinen Tod! Verstellung ist das doch nicht?«
»Nein, nein, Herr Mauritz, aber – lieber Gott im Himmel, vergib mir, ich habe vielleicht doch nicht so gebetet, als ich sollte, für sein Leben. Ist das Sünde, Herr Mauritz, wenn ich still bei mir dachte: es ist vielleicht doch gut, wenn er stirbt. Darum war er mir schon wie ein Toter. Ich gönnte ihm das ewige Leben, ich freute mich herzinnig, daß er mit Ruhm aus diesem fortging, aber – aber es überfuhr mich kalt der Gedanke, wenn er wieder aufstände, wenn man ihm Pardon gewinkt, wenn er zurückkäme. – O, ich habe nicht seinen Tod gewünscht, wahrhaftig nicht, aber so wie sonst konnte es doch nie mehr werden! Wenn er von mir gefordert hätte, daß ich gegen ihn wie sonst – ach, Herr Gott, ich weiß nicht, ist das eine Sünde?«
»Sünde, Du liebe Büßerin, ist die Unwahrheit gegen sich selbst, gegen Gott, gegen andere. Sei wahr, wie in dieser Stunde gegen Dich, gegen ihn – sei es auch gegen die Menschen, wenn sie ein Recht haben, Dich zu fragen, – und der Herr im Himmel wird alles zum besten fügen!«
Die Schwestern hatten sich leise der Tür genähert. Hatten sie ein Recht, noch hier Zeugen zu sein, wo die beiden nur den Himmel dazu angerufen?
Malchen weinte an seiner Brust, aber es waren andere Tränen; kein Quell mehr, der konvulsivisch aus der Brust sich herausarbeitete, es war ein stiller, süßer Erguß der Seligkeit und des Friedens. Caroline schielte gebückten Kopfes zurück. Es schien sie zu frösteln, sie zog das Tuch um die Ohren. »Ob wir« – Minchen ergänzte die Frage, »den Vater wecken? Ach nein, Line. Laß Vater und Mutter schlafen, die schlimmen Botschaften kommen immer früh genug. Und wer weiß, was dann noch kommt!«
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