Willibald Alexis
Isegrimm
Das Vaterland und bürgerlichen Offiziere.
eingestellt: 25.7.2007Vierunddreißigstes Kapiteln
Das Vaterland und bürgerlichen Offiziere.
Der Riß, welcher vorhin die Konferenz unterbrochen, schien noch nicht ausgeglichen, oder wars ein neuer, der sie heut abend zu Kopfhängern machte! Die Tür zum Krankenzimmer war halb geöffnet. Der Minister war nicht schlimmer geworden, aber eine rheumatische Heiserkeit hatte ihm das Sprachvermögen genommen; er war ein passiver Teilnehmer an der Unterhaltung. Das Licht an seinem Bette – er schien zu lesen – drang durch die Spalte ins Zimmer.
Wie viel war schon besprochen! Wo man nicht einig wird, kommt man immer wieder auf die Punkte zurück, von denen man ausging.
Den Mann, der von den Leuten Isegrimm gescholten ward, und zuweilen hörte er den Namen nicht ungern, hätte man heut nicht wiedergekannt. So saß er versunken, als sei etwas von dem Stahl, der trotz Jahre und Wunden den verwitterten Körper immer wieder in die Höhe schnellte, geschmolzen. Auch seine Stimme war es:
»Und darum die Arbeit eines Lebens! Wie vieler Leben! Wir mühen uns, eingesetzt als Verwalter in das Amt und Lehen, damit wir unsere Ritterdienste tun und für das Ganze Wache stehen, und die uns kommandieren sollen, haben uns vergessen. Doch immerhin! Die Schildwachen mögen verkommen und verloren gehen, wenn das Korps nur gerettet wird! Aber wenn der Feldherr seine Armee, wenn er sich selbst vergißt! – Was dann? Wozu dann uns opfern, Opfer, für die niemand dankt! Warum noch Habe, Gut und Blut dransetzen, Ehre verpfänden, warum Begeisterung für diesen oder jenen, der kein Gefühl dafür hat. Gab uns Gott diese Kraft, den Willen, die Ausdauer, um für Luftblasen zu arbeiten?«
Es blieb lange still. Es gäbe vielerlei Luftblasen, warf der Reichsgraf hin: »Und doch setzt der Mensch sein alles dafür ein, wenn er einmal nach ihnen hascht.«
»Seltsam!« fuhr er nach einer Pause fort: »Wäre das doch das Ziel des glückseligen Lebens, so schiene Bonaparte ja destiniert, mit seinen Kanonen und Rossen der einen Wahrheit seinen Stempel aufzudrücken, welche unsere Poeten uns tausendfältig in die Ohren sagen: fein zu Hause bleiben, wenns draußen stürmt, die Augen zu schließen, wenns blitzt, uns um das nicht zu kümmern, was uns nichts angeht, das Glück des Philemon- und Baukislebens in einer Hütte, in irgend einem Winkel, fern vom Geräusch der Heerstraße. Schade nur, daß diese Paradiesvorstellung der deutschen Sentimentalität unpraktisch war und bleibt. Der Staub der Heerstraße, das Knarren der Räder dringt jetzt bis in die stille Hollunderhütte, und, was noch schlimmer als Staub und Knarren – die Einquartierung auch. Wenn nichts anderes, so ist sie bestimmt, die Deutschen doch zu einem politischen Volk aufzurütteln.«
»Wie vieles haben wir in Deutschland durchgeprobt und was hat sich davon als stichhaltig erwiesen!« hub der Fremde an. »Die Idylle der Holunderhütte, das Glück der Beschaulichkeit, der Idealismus und alle Systeme der Philosophen, sie zergingen an der Feuerprobe der Wirklichkeit. Wir sind kein Volk, diese entsetzliche Wahrheit hat uns der französische Tyrann ins Ohr gedonnert; wir sprechen zwar eine Sprache, aber sie klingt in den verschiedenen Stämmen verschieden, dem Ohr fremd, wie es die Sitten, der Glaube, die Gesinnungen sind. Wir sind noch nicht einmal ein Volk, aber wir haben einen Grund und Boden, auf den wir treten, der uns hält, der uns Nahrung gibt, dessen Berge und Täler mit ihrer Luft und ihrem grünen Kleide unserer Natur zusagen, wir haben ein Vaterland und an das müssen wir halten. Es ist die Klippe, die uns Schiffbrüchigen aus dem tobenden Meere auftaucht. Steht sie auch da, nackt, trostlos, ein zerklüfteter Felsen, vom Wetterstrahlen und Regengüssen zerrissen und abgespült, klammert Euch daran, es ist das einzig Feste. Was das Vaterland ist, weiß der Bauer und der Bettler, der Weise und der König, das Kind lernt es, wenn es noch lallt, der Sterbende betet dafür und sinkt in seinen Schoß, um zum neuen anderen Vaterlande überzugehen. Es ist der Weg zu dem. Lang oder kurz bis dahin, es ist der einzige, auf dem wir nicht fehlgehen. Das Vaterland geht nicht unter in den Wellen, mögen sie noch so toben; aber wer es verlor, weil die Wogen in ihm die Liebe, die Erinnerung, die zarten Bande der Kindheit verlöschten, wer sich stark glaubt, davon losgerissen, ein neues zu entdecken, das ubi bene ibi patria. – wehe dem! – Heißborn rennt seinem Schicksal entgegen! Wer auch in dem Kampfe siege, ich sage Ihnen voraus, der Unglückliche, der sein Vaterland verraten, bleibt verdammt.«
»Bravo!« rief Graf Waltron.
»Auch Sie!« der Major sah ihn verwundert an.
»Wer verwundet vom Kampfplatz zurücktritt, um sich verbinden zu lassen, verläßt darum nicht das Heer. Er wartet nur ab, bis er geheilt ist.«
»Schön, schön!« rief der Major. »Aber wo faß ich das Vaterland? Nackt und glatt meinethalben, aber ich muß auf dem Felsen stehen können. Gebt mir nur eine Handhabe, daß ich zugreifen kann. Wo pulst das Herz, wo ist eine Hand von Knochen, Knorpel, Fleisch, Blut und Haut, die ich fassen, drücken mag, um zu prüfen, wieviel Widerstandskraft sie hat, und wenn ich einen Blutschlag fühle, will ich ihm von meinem mitteilen. Ich glaube an die magnetische Sympathie, unter den Schlechten und unter den Guten. Aber wo gar nichts ist, gar nichts blieb, Herz, Blut, Knochen, Fleisch in eine schwammichte Muskelmasse sich zersetzte, wo kann ich hinfassen, um zu retten! – Gut – seis – sie ließen den Freiherrn fallen, gaben ihm einen Fußtritt – sie brauchen jetzt keinen Staatsmann – das will ich gelten lassen. Sie brauchen nur einen Soldaten, der ihnen Soldaten machte – Da ist einer, ein ganzer Ehrenmann – Wie wird Scharnhorst behandelt! Erlaucht erzählten es ja selbst. Wie ein Bettler, der um einen Bissen für sich bittet, muß er anklopfen, wenn er für die Armee etwas anderes, Neues will. Dient es nicht in den Kram, gefällt das Epaulett, der Knopf, der Federbusch nicht, wird er abgewiesen.«
»Ich sagte Ihnen aber auch, lieber Quarbitz, Scharnhorst läßt sich nicht abweisen. Er kommt wieder. Findet er auch am nächsten Tage ein mürrisch Gesicht, versucht ers nach einer Woche, nach vierzehn Tagen, und ist dann seiner Sache gewiß; der König willigt ein, denn er denkt was dem gescheiten Mann so ernst am Herzen liegt, daß er meine Ungnade nicht scheut, muß doch richtig und gut sein.«
»Das Gute muß also den Schleicherweg der Schmarotzer und Schweifwedler gehen. Da sprechen Sie es aus, den Wurmstich, den Erbschaden, an dem die Monarchie zugrunde ging. – Wer waren seine, wer der Fürsten natürliche Räte, Richter, Generale? Die dazu geboren, oder die hergelaufenen Franzosen, Juden, Pilze, Glücksritter, Intrigants und Phantasten? Was sie an uns verbrochen, damals, ihre Glorie verdeckt es, aber weil sie es nicht wieder gutgemacht, als es Zeit war, das rächt sich jetzt. Wozu stand der kurmärkische Adel um den Thron der Hohenzollern, eine Mauer mit Gut und Blut? Damit ein liederlicher schlesischer Edelmann, ein florentinischer Ränkemacher, eines hergelaufenen Perückenmachers Sohn aus Paris das Mark des Landes zum Vergeuden aussaugten? Scham und Schande, daß es war, aber es mußte sein, daß wir um bürgerliche und adelige Maitressen kabalierten. Um nicht zu ertrinken, stößt der Schiffbrüchige auch den Busenfreund vom Brett. Beyme war doch wenigstens ein ausgezeichneter Richter, rühmten sie. Nun habt Ihr die Bescherung, daß man die von den Bänken fortdrängte, die dazu geboren waren, Kammergerichtsräte zu sein. O ja, Gelehrte, superkluge Gelehrte waren die Cocceji, Klein, Suarez, römische, griechische, persische, was Ihr wollt. Nach der Gelehrsamkeit der ganzen Welt, schmeckt denn auch ihr verdammtes Landrecht, nur nicht nach dem, was der Kurmark, Priegnitz, Altmark, Neumark, Pommern, was dem Kern des Reiches not tut. So hat sich diese Begriffspuissanze, diese schale Gleichmacherei in unser Sein und Wesen eingefressen, daß da gar nichts mehr gutzumachen ist. Sie haben systematisch seit Jahrhunderten an der Niederdrückung des Adels gearbeitet, nun müssen sie fortarbeiten, oder es ist um sie selbst geschehen. Wie Friedrich im Kassubenlande nach barfüßigen Junkern Hetzjagden anstellte, um sie zu Offizieren zu pressen, so unsere Regenten nach Talenten im Auslande. Die Kassuben nutzten wenigstens dem großen Könige, sie ließen sich für ihn totschießen, unsere eingefangenen Talente waren nur Schmeißfliegen, sie verdrängen und erdrücken das eingeborene Verdienst und Recht. Auf Hardenberg hoffen sie jetzt, er solls besser machen. Geben Sie Achtung, was dieser leichtsinnige Hannoveraner weiter hecken wird.«
Die Blicke der Anwesenden richteten sich unwillkürlich nach dem Krankenzimmer; sie sprachen: »Auch Ihr Gast ist ein Ausländer!« Der Major verstand es:
»Und diesen einzigen, den sie aus der Fremde aufgefischt, verstieß er, den einzigen, der sich von dem Gesurr und Gesumme des niederträchtigen, glattzüngigen Geschmeißes nicht irren ließ, der geradeaus ging, gerade redete, von alten Rechten einen Begriff hatte und sie achtete, weil er selbst von altem Rechte war. Er weiß, was der Geburt und dem Stande zukommt und rührt nicht Pfützenschlamm und Quellwasser zusammen. Den, meine Herren, glauben Sie mir, haben nicht die Beyme und Nagler, nicht die Lucchesini, nicht die Haugwitz und Lombardsche Lumpenschleppe gestürzt, diese – Kerle fallen in Ohnmacht vor dem Zornblick eines wahren Reichsfreiherrn. Das ist er selbst, sein Eigensinn. Ihr aller Erbfehler, sie konnten und können keine Männer, Meinungen, keine Charaktere, neben sich keinen Widerspruch vertragen. Sie wollen die Weltweisheit mit Löffeln geschluckt haben, und, was noch schlimmer, die Gottesgelahrtheit zuweilen auch. Darum hätschelten sie zu aller Zeit die ausstaffierten Lumpen, die sich um sie hängten. Solange sie noch stark waren, merkte man das nicht; die Lumpen zottelten und flatterten hinter ihren eisernen Herren her wie Fahnen an der Stange, mit Sternen und Bändern übersäet für den Pöbel, von ihnen selbst herzlich verachtet. Nun sie nicht mehr stark sind, geht es nicht mehr, sie wurden von den Lumpen betrogen und gezogen hin und her, in stinkende Sümpfe und philosophische Luftschlösser, bis wir das Gebräu haben, wo alles verloren ist, weil alles zerfahren ist. Keiner weiß mehr, wo die Tete und wo die Queue ist, der Wille, der retten könnte, der Geist sich in Kleinigkeiten verliert, wo man dem Feinde um den Bart geht und dem Freunde hinterrücks einen Fußtritt versetzt. Meine Herren, ich sage es mit blutendem Herzen, aber so ist es. Das göttliche Strafgericht ist über sie gekommen. Dasselbe Medium, wie sie ihren Staat anfingen, mußte ihn stürzen. Sie fingen damit an, die Korporationsrechte zu zerklopfen, das Uhr- und Räderwerk eines Staates, seine elastische Kraft, die Stände, zu zertreten, sie achteten keine geborenen Rechte mehr vor dem Vollbewußtsein ihrer Mission. Es war eine falsche Mission. Eine Weile ging es, bis es sich gerächt hat. Ein Körper lebt nicht vom Kopfe, er bedarf der Glieder, das Herzblut muß durch alle Adern pulsen, und wenn man die Knochen von einander löst und zerklopft hat, was hilft aller Geist, der Surrogate dafür schafft. Ein Schlag auf den Kopf und der Körper stürzt. Die den Staat hätten retten können, die Korporationen, Stände, der Adel, sie sind dahin. Der Staat ist in drei Wagen mit Regierungsakten nach Königsberg gefahren. Packt das Papier aus, zerstreut es in alle Winde und seht, was es gegen den Feind vermag und tut!«
»Sie geben Preußen ganz auf?« sagte Waltron. »Wenn Kaiser Alexander –«
»Es rettete, ist es nicht mehr das Reich der Hohenzollern – eine russische Dependenz, ein Kurland, eine Krim oder ein Georgien.«
»Welche Ehre, Herr Major, erweisen Sie dem einen Manne, der mich beauftragt, für ihn das Wort zu führen,« nahm Herr Walter das Wort. »Ich glaube in seinem Sinn zu handeln, wenn ich diese Ehre zurückweise. Mit seiner ganzen Kraft widmete sich der Freiherr dem Staate, in welchem er den jüngsten und stärksten Trieb sah aus der alten deutschen Wurzel, dem Staate, der das zusammenfallende Reich erhalten, und wo das nicht möglich, aus dem ein neuer Stamm aufschießen könne. So betrachtete er mit Liebe und Hoffnung, aber auch schon mit dem Schmerz, den Sie angedeutet, Preußen. Aber es kam ihm nicht in den Sinn, sich, seine Person, mit diesem Lande zu identifizieren. Er kam mit der Hoffnung, daß die Schäden sich heilen ließen; man hörte ihn nicht oder nur halb. Er sieht sich bitter getäuscht; das ist der Schmerz, mit dem er ringt. Er ward verstoßen; das erträgt er mit der großen Seele aller großen Männer, die über ihrer Zeit und den Menschen standen, die sie nicht begriffen und sich darum nicht helfen lassen wollten. Nichts von Haß, nichts mehr von Zorn. Wie soll man Schwachen zürnen, die das Gute wollten! nur erfuhren sie nie, wo es lag. Als Christ konnte er ihnen vergeben und sprechen: sie wissen nicht, was sie tun. Als Patriot gibt er Preußen so wenig auf, als sein größeres deutsches Vaterland. Dies heißgeliebte Deutschland hält er noch heute nicht für so verwittert und verfault, daß es unter den Stürmen zersplittern und zergehen müsse, wie ein Byzanz und Polen; er hält die Stürme und die Ströme Blutes für von Gott gesendet, daß der Meltau auf den Saaten vergehe, nur die Fäulnis im Fleische soll ausgeschnitten werden und in der wieder rein gewordenen Luft das Fremde und Angewehte verwehen. Vom wahren deutschen, freien Geiste hofft er, er ist sogar des festen Glaubens, daß er wieder seine Schwingen entfalten und, in Treue und Liebe das Unvergängliche im Erworbenen festhaltend, vorwärts streben wird, nach den unentdeckten Gütern, die im Schoße der Unendlichkeit für das sterbliche Geschlecht noch verborgen sind. Unter Verfolgung, Ketten und Hohn hat der deutsche Geist zweimal Roms Fesseln abgestreift und Güter der Freiheit errungen, um die ihn das Menschengeschlecht beneiden muß, wenn es gerecht wäre. Der deutsche Geist ist erniedrigt, beschmutzt, aber wie der Schwan taucht er den Hals in die reinigende Flut und ist wieder rein und schön. Man hat uns, wir haben uns entwürdigt, aber zum Helotengeschlecht ist der deutsche Nacken zu starr. – Mein Herr Major, Sie können dem Freiherrn von Stein keinen größeren Schmerz antun, als indem Sie sagen, mit dem einen Mann sei alles verloren.«
»Ei, so jung noch!« rief der Hausherr. »Luft – reine Luft! – o mein Gott, schafft sie mir in dem allgemeinen Pesthauch der Verwesung. – Kandidat, nicht wahr, das war Wasser auf Ihre Mühle? Hier ist freies Kolloquium. O, sprechen Sie, sekundieren Sie doch den Herrn durch eine Predigt.«
»Aus der Verwesung keimt Leben,« sprach der Angeredete. »Das ist das Naturgesetz. Als Christ kenne ich und bekenne mehr. Die Heilsgeburt des ewigen Geistes hat die Pforten der Hölle gesprengt und den Tod überwunden. Tod, wo sind nun deine Schrecken? ruft der Gläubige. Was für den einzelnen Sterblichen errungen war, soll es seiner Gesamtheit, den Völkern nicht zugute kommen? Sind sie um ihrer Sünden willen verdammt in Ewigkeit, kann für sie nie ein Strahl der Gnade leuchten, kein Tag von Damaskus für sie aufgehen? Der entnervte Jüngling findet in Heilbädern seine Gesundheit wieder, gibt es für Nationen keine? Der verlorene Sohn ward ein Wiedergeborener. Ist für Völkerschaften allein kein Fest der Wiedergeburt denkbar? Sie rollen mir die Tafeln der Geschichte auf und zeigen auf die Grabsteine der untergegangenen Nationen – eine lange Reihe tönender Namen – ich kann den Deutschen noch nicht darauf finden. Ich sehe einen Strahl zücken, ich sehe nach der entsetzlichen Nacht einen Morgen leuchten; Gewitterwolken, die furchtbar sich entladen, ein Blutmeer sehe ich, eine Bluttaufe, aber aus dieser ein verjüngtes, wiedergeborenes Volk aufstehen. – Das ist Glaubenssache, mein Glaube, ich kann ihn niemand aufdringen. Aber mein Gefühl hat ein Recht, von Ihnen, von allen geteilt zu werden, die nach Gerechtigkeit trachten. Man hat uns da verlassen, sagen Sie, verstoßen, wo wir Hilfe, Rat, Führung, Trost erwarteten. Sie haben sich selbst aufgegeben, auf die wir unser alles gesetzt, sagen Sie. Ich maße mir nicht an, darüber zu urteilen, ich weiß es nicht, ob es so ist. Aber wohlan, wenn sie uns aufgeben, haben wir darum ein Recht, sie aufzugeben? Wäre im Vater die Liebe für den verlorenen Sohn erloschen gewesen, durfte der Sohn ihn auch ausstreichen aus seiner Liebe und Erinnerung? Nein, dies heilige Naturband der Dankbarkeit könnte durch keine noch so großen Fehltritte zerrissen werden. So, meine ich, sind wir an unser Königshaus nicht gefesselt, aber gebunden. Wie sie dies Land aus Sumpf und Wildnis, uns aus Barbarei und Verwilderung, aus Druck und Abhängigkeit gehoben zu einem gesitteten, glücklichen Dasein, zum edelsten Austausch der Gedanken und geistigen Strebens, zum Bewußtsein eines Nationallebens, zu dem Stolze, daß der Name Preußen wie ein Klang der Memnonssäule durch die Nacht des verrosteten Daseins anderer Völker hallte, ein Morgenstrahl, der Freiheit verkündet an der Hand der Sitte und Ordnung, eine Humanität, wo das Geschöpf sich nicht in Dünkel vom Schöpfer losreißt – das – das brauche ich Ihnen nicht zu sagen, es muß mit leuchtender Schrift in Ihren Herzen stehen. – Weil seit dem Tage, wo der große Friedrich sein Heldenauge, dies weisheitstrahlende, schloß, es anders ward in jenen Regionen, haben wir darum ein Recht, anders zu werden? Weil Nachteulen um das Morgenrot flattern, weil der Rost der alten Tradition sich um die Memnonssäule lagerte, daß der Klang des Lichtes nur gebrochene Töne gibt, sollen auch unsere Sinne sich darum trüben, daß wir das Licht nur umflort erblicken? Wenn nichts anderes, die Pflicht der Dankbarkeit ruft uns, wo wir sie schwach werden sehen, stark zu bleiben, wo sie vor der Mission zurückschrecken, welche die Vorsehung ihnen gesetzt, diese Mission aufzugreifen, die Kronen an der sie haftet, wenn sie wankt, zu erfassen und halten – für sie, für uns.«
»Wer!« rief der Major.
»Das Volk, das sie ins Leben, das sie aus der Roheit des Daseins zum Bewußtsein riefen, das Volk, das mit ihnen aus den Schatten der Finsternis und des Aberglaubens zum Lichte aufstieg, das mit ihnen bei Fehrbellin, bei Prag und Leuthen über Berge von Leiden zur Selbständigkeit klomm; das Volk, mit dem sie arbeiteten, die Sümpfe zu trocknen, den Flugsand zu befestigen, die Wüsten in Gärten zu verwandeln; das Volk, von dessen Schultern sie die Lasten entmenschenden Druckes lösten, den Stempel des Zugtieres, den die Barbarei der Jahrhunderte auf das Menschenantlitz, das Gottes Abbild sein soll, geheftet; das Volk, das mit ihnen den Ausgestoßenen aus der Fremde und den Gehetzten um ihres Glaubens willen ein gastlich Asyl bot; das Volk, das den Jubelhymnus anhob, der durch Europa widerhallte, als vom Thron der Urteilsspruch, ein leuchtender Blitz, zückte: es solle auch dem Geringsten das Recht geschehen wie dem Höchsten; das Volk, das sie liebte und vergötterte, weil sie es wieder liebten und ihm vertrauten; das Volk, das durch Jahrhunderte eins war mit seinen Fürsten. Wenn schon das Band, das Hunger und Not, Tod und Gefahr, Blut und Siegesfreude zwischen Zeltkameraden geschlungen, bis in den Tod dauert, wo darf dieses Band, das Jahrhunderte gewebt, darum zerrissen sein, weil der eine schwach ward, und der andere darf sich nicht rühmen, daß er stark blieb! Nein, auch wir waren es nicht, wir waren hohl und ausgeblasen auf unsere guten Werke, während der Nerv zur Tat, zum kräftigen Denken selbst, längst erschlafft war; die Sünden, die der geistigen Trägheit folgten, zehrten an unseren Säften, und, noch als die Gerichtstrompete dröhnte, blähten wir uns in unserem Dünkel. Wir, wir haben nicht das Recht, ihnen ihre Zaghaftigkeit und Schwäche vorzuwerfen, wir nicht, daß sie mit Augen nicht sahen, mit Ohren nicht hörten, denn auch wir waren blind und taub. Ists Zeit, die größere oder geringere Schuld abzuwägen? Wenns brennt, treibt man nicht die voran zum Löschen, welche durch Nachlässigkeit schuld am Feuer waren; wer zuerst kommt, ergreift den Wassereimer. Darin muß der edle Kampf sein zwischen Volk und Fürsten, wer am ersten sich aufrafft aus Erstarrung und Verzweiflung, wer zuerst wieder hofft, wer auf Mittel sinnt, und wem es glückt, den Weg zur Rettung zu finden.«
Militärs pflegen nicht gern Predigten anzuhören: das konnte man auch zuerst auf dem Gesicht des Reichsgrafen lesen. Dann ward er aufmerksamer und hatte die Pfeife fortgestellt; jetzt war er leise aufgestanden und drückte dem Kandidaten stumm die Hand.
Herr Walter hatte mit einer Aufmerksamkeit, die sich nicht verriet, zugehört. Er drückte den jungen Mann an die Brust: »Und Sie werden ebenso brav handeln. Glück uns zu diesem Bundesbruder!«
Der Major am Ofen sitzend, den Blick ins Feuer gerichtet, das er dann und wann mit der Zange schürte, hatte unmerklich dem Redner den Rücken zugewandt. Daß aber auch er aufmerksam gewesen, bewies der Eifer, mit dem er die Feuerbrände zerhackte.
»Eigentlich kann ich die Kerle nicht ausstehen, die einem das Herz aus dem Leibe reden, denn sie haben in der Regel keines in ihrem. Aber – Sie, Mauritz, weiß der Teufel, ich glaube, Sie haben mein Auge naß geredet.«
Wenn sein Auge naß war, ward es doch bald wieder trocken. Jetzt saß er mit den anderen, eng zusammengerückt, um das Tischchen, auf dem Karten und Papier lagen, und es mußte wieder sehr viel besprochen sein, denn die Lichter waren tief niedergebrannt.
Eine ernste Stunde war vergangen.
»Es hätte der langen Verhandlung nicht bedurft, meine Herren!« sagte der Hausherr aufstehend. »Zu Konspirationen bin ich nicht der Mann, Bündlerei und Geheimtuerei mag ich nicht; auch nicht für die Tugend, auch nicht für das, was man Staat zu nennen beliebt. Was Sie da vorbrachten, daß die Gerechten durch Wort und Blick von selbst sich verstehen, mag richtig sein, es hätte indes auch nicht des Wortes und Blickes bedurft, wären wir nicht aus aller natürlichen Ordnung der Dinge herausgefahren.«
»Was verstehen Sie darunter?« fragte der Reichsgraf.
»Wo jeder der Pflichten und Rechte seines Standes sich bewußt ist, in dem Lande brauchte es gar keine Kommunikation, das ist meine Meinung, auch nicht, daß der feine Herr aus der Spandauer Straße als Viehhändler umherreist; aber was verdorben, ist jetzt nicht zu ändern. Schweigen wir davon. Ich billige, daß Sie sich zunächst an den Adel, die Rittergutsbesitzer wenden. Deren Pflicht und Beruf ist es, auf ihre Untertanen einzuwirken. Daß wir nicht mehr können, falle auf die zurück, die uns die Macht genommen, mehr zu tun. Das sage ich ohne Zorn, glauben Sie es mir. Unseres jungen Predigers Wort ist mir zum Herzen gedrungen. Was sie an uns verbrochen, wer wollte es jetzt rächen! Ich danke Ihnen und denen, die in mich das Vertrauen gesetzt, persönlich. Rechnen Sie auf mich. Ich stehe zu Ihnen, wenn es gilt, und bin gewärtig, in jedem Augenblicke, wo man mich ruft. Möchten alle denken wie ich.«
Man schüttelte über dem Tisch die Hände: »Alle für einen, einer für alle,« rief Walter. »Es ist kein Unterschied in Stand, Glaube, Geburt unter denen, welche Preußens Ehre und Deutschlands Wiedergeburt wollen. Der gemeinsame Haß gegen die Fremdherrschaft besiegelt das Bündnis.«
»Das Phrasenmachen überlassen wir doch anderen, und wenn die Zeit dazu kommt,« sagte der Major; »hier gilt es nur, sich unter uns verständigen. – Die Idee Seiner Exzellenz ist neu, ich könnte sagen, verwegen, ich könnte sie Nachäfferei schelten. Die Konskription ist ein Kind der französischen Revolution. Aber ich füge mich auch darin. Wo man alle Bande, die Gott gemacht, zerrissen hat, ist es unabweisbare Notwendigkeit, daß man ein neues knüpft. Das Gesindel, das immer auseinanderläuft, muß gebunden werden. Wenn Ihr aber alle ins Feld rufen wollt, die Waffen tragen können, wo wollt Ihr denn die Offiziere herkriegen? Alle Kadettenhäuser reichen nicht aus.«
»Der Krieg ist die beste Schule für Offiziere.«
»Wenn man aber keine Kadetten hat, um zu lernen?«
»Schultern für die Epauletts und Hüften für die Degenkoppel finden sich, wenn es not tut, überall.«
Der Major sah den Fremden wieder scharf an: »Da haben wir also die Bescherung! Besessenheit durch Verrücktheit, Satan durch Beelzebub! Ich dacht es mir.«
Der Major geriet nicht in den Zorn, wie der Kandidat erwartet zu haben schien, er drückte vielleicht in den Pfeifenkopf, den er stopfte, den Zorn mit hinein. Der Reichsgraf blickte schlau lächelnd auf seinen Meerschaum, dem es an Luft zu fehlen schien.
»Meine Herren und Freunde,« hub der Major an. »Ich lasse mich wahrhaftig nicht von Vorurteilen plagen, am wenigsten jetzt. Aber es geht nicht. Bürgerliche Offiziere! Warum macht man nicht Schrauben von Holz? Für Spielsachen und Drechslerarbeit mögen sie taugen. Wenn man aber mit rohem Holz zu tun hat, mit Klötzen, Bohlen, Balken, muß Schraube und Anker von Eisen sein, vom besten geschmiedeten Stahl. Eisen macht man nicht, man holt es aus den Bergen. Krieg ist unsere Zukunft – eine lange Zukunft – leugnen wir uns das nicht ab! Der Krieg muß eine Ordnung, Gesetze haben, sonst verwildern wir zur Bestie. Das erkennt selbst Bonaparte an. Teile er aber noch so viel Marschallsstäbe aus, und betroddele und betressiere seine militärischen Würdenträger, er macht keinen einzigen Ritter draus. Das Rittertum muß geboren sein; und ohne Rittertum kein nobler Krieg. Was waren Attilas, Tamerlans Kriegsheere? – Bestienhorden, Heuschreckenschwärme. Erdrücken, ersticken konnten sie ein ritterliches Heer, aber nicht schlagen, nicht ordnungsmäßig es überwinden. Wenden Sie mir nicht Winkelrieds Tat ein. Diese Schweizer Hirten waren freie, grundgesessene Mannen, sie saßen auf Erbgut seit Jahrhunderten; nur der Ritterschlag fehlte ihnen zum Adel, aber er saß im Blute. Daher drang die Keule durch die Mauer der glänzenden Stahlpanzer. Das sitzt auch unseren Kerlen im Blute, den Soldaten, ich meine, der Respekt. Was hat einer, der von der Picke auf gedient, zu tun, um sich Respekt zu verschaffen! Tapfer kann jeder sein, er kann es, sage ich, wenn er sich Mühe gibt, aber wie viele muß er sich geben; er muß es immerfort beweisen. Bei einem geborenen Offizier erwartet mans von selbst, er kann sehr viel leichter auftreten. Wär mal wirklich einer feig, er könnte sich nicht halten. Aber erst gar die Subordination! Laßt einen Bürgerlichen die Fuchtelklinge applizieren, was für Gesichter schneiden die Kerle. Sie fragen sich verdutzt, wie kommt denn der dazu? Von einem Junker nehmen sies hin, als verstände es sich von selbst. – Meine Herren, ich habe rationell gesprochen. Was ist aber alle Vernunft gegen das Gefühl des Rechts! So war es in der preußischen Armee, als sie ein Muster war in Europa, so muß es wieder werden, wenn sie wieder ein Muster sein soll. Der eingeborene Adel gibt den Stamm des Offizierkorps. Wie leicht ist da die Erziehung, es liegt schon in den Gliedern, in den Gelenken, wo die Eltern bis zu den Großeltern Kapitäns, Obristen, Generale gewesen. Dazu aus fremden Familien hier und da einer einrangiert; das gibt frisches Blut, die Offiziersfamilien amalgamieren sich bald, und das gibt den esprit de corps. Endlich bleiben ja den Bürgersöhnen die Artillerie und die Husarenregimenter, und ich begreife nicht, was sie mehr haben wollen. Das kann auch gar nicht Exzellenz Steins Meinung sein. Zu Franzosen will er uns nicht machen, und den dreißigjährigen Krieg auch nicht zurückbeschwören. Da allerdings konnten Gevatter Schneider und Handschuhmacher Generale werden; und was für Generale! Die sich ihre Wunden bezahlen ließen, noch anders als die französischen Kanaillen; aber ich wüßte nicht, daß etwas sonderlich Remarkables aus ihnen sich hervorgetan. Die militärischen Kapazitäten waren alle von alter Familie: die Mannsfeld, Tilly, Wallenstein, die Gustav Adolf, Torstenson, Horn, Piccolomini, Bernhard von Weimar, Pappenheim.«
Wer sprach von den drei Zuhörern den Namen Derlinger aus, vielleicht alle drei zugleich, als des Kranken Kammerdiener ein aufgeschlagenes Buch dem Fremden überbrachte. Seine Exzellenz ließ bitten, die angezeichnete Stelle vorzulesen. Es war Humes Geschichte von England, die Stelle lauteten »Bürger und Landedelleute, die nie den Pflug verlassen, wurden die besten Offiziere, und es fügte sich, daß die tüchtigsten und allerfähigsten Generale auf seiten des Parlaments in die Höhe schossen. Auf der königlichen Seite drückten die Hofleute und der hohe Adel das Wachstum des Genius unter den subalternen Offizieren nieder, und jedermann dort, wie es unter regelmäßig hergerichteter Regierung zu sein pflegt, blieb auf die Stellung beschränkt, wo die Geburt ihn hingestellt.«
»Mich dünkt, man hat Hume niemals revolutionärer Grundsätze beschuldigt,« sagte Walter.
»Sorgen ohne Not, Streit um des Kaisers Bart,« sprach der Reichsgraf, dem Major zum Abschied die Hand reichend. »Unsere Plane und Projekte sind eine Aussicht in ein unbekanntes Land. Wer weiß, wer das sieht, wessen Augen geschlossen sind, wenn – wenn – drum gönnen Sie, lieber Freund, einem Bürgerlichen auch ein Portepee. Es wächst sich das mit der Zeit alles aus. Mein Ahnherr war ein Hundejunge.«
Der Gutsherr, in Gedanken versenkt, mochte nicht ganz gefolgt sein: »Es wächst sich schon alles aus,« wiederholte er. »Nur in die schwere Kavallerie keine Bürgerliche! Bei der Infanterie – davon, daß die Garde unbefleckt bleiben muß, braucht nicht gesorgt zu werden – da möchte hie und da eine Ausnahme zu machen sein. Auch meinethalben bei den Kosaken und Ulanen, wenn wir diese Pickenreiter in die Linie aufnehmen sollten, es sind nur Husaren anderer Art, und wegen der Lanzen an das Rittertum zu denken, wie einige, ist lächerlich, rein lächerlich. Die Picke ist die Waffe der Nomadenhorden, bei denen es kein Adel gibt. Wie gesagt, wenn man denn den Herren Idealisten nachgeben muß, nur nicht in die schwere Kavallerie, nicht in Kürassiere und Dragoner.«
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