Frei Lesen: Walhall - Germanische Götter- und Heldensagen, Drittes Buch

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Felix Dahn

Walhall - Germanische Götter- und Heldensagen, Drittes Buch

III. Die Erneuerung.

eingestellt: 10.7.2007





Die alte Welt und der alte Himmel sind in Feuer und Rauch untergegangen.



Aber den Gedanken der völligen Vernichtung vermag das religiöse Bewusstsein nicht zu ertragen; es findet darin keine Versöhnung; deshalb hat es - und zwar nicht erst etwa aus christlichem Einfluss! - an den fünften Aufzug des grossen Trauerspiels, an die Weltvernichtung, ein idyllisch-paradiesisches Nachspiel gefügt, von fast lyrisch-musikalisch empfundener, harmonischer Verklärung.



Aus der Asche nämlich, in welche die alte schuldbewusste Welt versunken, hebt sich, verjüngt und makelfrei, eine neue Welt, eine zweite Erde und ein junger Himmel. Die jüngere Edda berichtet: die Erde taucht aus der See auf, grün und schön, und Korn wächst darauf ungesät1).



Bewohnt wird die Erde von einem Menschengeschlecht ätherischer Natur - "denn Morgentau ist all ihr Mahl". - An einem Ort, in Hodd-Mimirs2) Holz, hatten sich während Surturs Lohe zwei Menschen verborgen, Lif und Lifthrasil3); von ihnen stammt ein neu Geschlecht.



Im Himmel leben nicht mehr die alten Götter, sondern deren Söhne4), welche als unbefleckt von Schuld5) zu denken sind; Widar und Wali, die beiden Rächer Odins und Baldurs, leben noch; weder See noch Surtur hat ihnen geschadet; sie wohnen auf dem Idafeld, wo vorher Asgard war.



Auch stellen sich ein die Söhne Thors: Modi und Magni (Mut und Kraft), sie haben des Vaters Hammer gerettet und geerbt und bringen ihn mit.



Danach kommen die Söhne Odins: Baldur, der Fleckenlose, und dessen Bruder, der blinde Hödur6), der ihn ohne Verschulden getötet hatte; sie kehren wieder aus dem Reiche Hels; und in seligem Frieden, ohne Schuld und Leidenschaft, leben sie fortan in der erneuten7) Walhall, dem Idafeld.



Da sitzen sie alle beisammen und besprechen sich und gedenken ihrer Geheimnisse und reden von den Geschichten, die ehedem sich ereignet, von der Midgardschlange und von dem Fenriswolf; da werden sich - und das ist ein reizender Zug - auch jene goldenen Tafeln (Bretter, Scheiben) im Grase wiederfinden, mit welchen dereinst, d. h. vor ihren Schuldigwerden, die Asen heiter gespielt hatten.



Es leuchtet ein, dass sich hier die Sage eines alten Lieblingsbehelfes bedient; die Söhne der Götter sind die Vertreter der Götter, ja gewissermassen diese selbst; deren Wiederholung, nur frei von den Flecken, welche auf die Väter die Sagendichtung allmählich gehäuft hatte; das drückt sich am naivsten - und wahrhaft liebenswürdig naiv! - aus bei der Sonne, von der es heisst: "Und das wird dich wunderbar dünken, dass die Sonne, ehe der Wolf sie würgte, eine Tochter geboren hatte, nicht minder schön als sie selber; diese Maid wird nun glänzend nach der Götter Fall die Bahn der Mutter wandeln."



Rührend ist die Treue, mit welcher der Hammer Thors von der Einbildungskraft der Sage gerettet wird; die geliebte Nationalwaffe mag der Germane auch in dem neuen Paradiesesleben nicht missen, obwohl es keine Riesen mehr zu zerschmettern gibt; so mag der Hammer in den Händen der Erben friedlichen Weihezwecken (Brautweihe, Hausweihe u. a.) dienen.



Ferner heisst es von Hönir, der einst als Geisel den Wanen gegeben war: "Dann kann Hönir den Loszweig kiesen", d. h. wählen, ob er zurückkehren oder bleiben will; Wanen scheinen hiernach nicht mehr zu sein, nur Asen (wenigstens werden Freyr und Freya nie mehr genannt). Man hat dies so erklären wollen; die Wanen seien Götter der Sinnlichkeit (?!) gewesen und erst nach verlorner Unschuld der Götter in Krieg, dann in Bündnis mit diesen in Berührung getreten, also in der geläuterten Welt nicht mehr am Ort; aber eine andre Eddastelle sagt von Niördr: "Am Ende der Zeiten soll er kehren zu den weisen Wanen"; bedeutet dies die Zeit nach der Surturlohe (und nicht, was sehr wohl denkbar wäre, den Zeitpunkt bei Beginn des letzten Kampfes, um bei seinen Wanen zu fechten und zu fallen), so wären hierdurch doch Wanen als fortbestehend anerkannt.



Die Wahrheit aber ist: ein widerspruchfreies Ganzes ist kein Sagenkreis, auch nicht der der Germanen. Dazu kommt, dass gerade über den Zustand nach der Erneuerung nur sehr wenig ausgeführte Vorstellungen umgingen, und endlich, dass uns sogar diese wenigen durchaus nicht vollständig überliefert sind; denn dass vollends nur so viel, als die (von Zusätzen gereinigte) Völuspá in acht kurzen Strophen davon erzählt, überhaupt alles gewesen, was davon gesungen und gesagt ward (wobei nur Baldur, Hödur, Hönir und der neue Götterkönig erwähnt werden), ist doch wahrlich kaum anzunehmen8).



Auch diese Götter können eines Götterkönigs nicht entraten. So heisst es denn, nachdem die neue Welt aufgetaucht ist: "Da kommt der Mächtige, das Recht aufrecht zu halten9), der Starke von oben, der alles beherrscht.



Urteile spricht er, die Streitsachen legt er bei, heilige Ordnungen setzt er, die da bleiben sollen."



Dieser ungenannte oberste Gott ist nun aber durchaus nicht, wie man wohl meint, der (aus christlichem Einfluss herübergenommene) neue Christengott10), sondern nur der von dem religiösen Gefühl dringend, ja unerlässlich geforderte oberste Heiden-Gott; ein Name, eine bestimmtere Zeichnung desselben fehlte gewiss der diese Sage bildenden religiösen Anschauung. Man muss doch wohl den erneuten Odin in ihm finden, dabei jedoch dem alten Odin nicht nur seine mannigfaltige Schuld, auch die Leidenschaften, Eigenschaften, ja sogar Vorzüge, d. h. die Kriegsfreude, abstreifen, aus welchen jene Verschuldung mit (dichterischer) Notwendigkeit hervorgewachsen war. Ein solcher Odin aber, ohne Kriegsbegeisterung, ohne überlegen planende List, ist eben gar nicht mehr das Vorbild, das wir als Odin, trotz seiner Fehler, lieben gelernt hatten. Es ist ein ziemlich farb- und inhaltloser "oberster, weiser, gerechter, starker Gott," ohne besondere Bezeichnung (abgesehen von diesen Eigenschaften), ohne weitere Ausmalung seiner Züge, und so ist es fast gleichgültig, ob man in demselben einen neuen, erst jetzt gewordenen Gott, oder einen erneuten Odin annimmt, der mit dem wirklichen so gut wie nichts mehr gemein hat. Aber immerhin wird man doch den erneuten Odin, nicht etwa Baldur, der schon vorher erledigt ist, in dem neuen Welt- und Himmelsherrscher erblicken müssen; die Sagenbildung über die neue Welt geschah doch in Anknüpfung an die alten Gestalten, und es widerstreitet dem Wesensgesetz ihres Schaffens, völlig abstrakt einen neuen Obergott "im allgemeinen" aufzustellen11).



Eine Stelle der jüngeren Edda fasst den neuen Götterkönig unzweifelhaft als Odin, den sie "Allvater" nennt, aber zugleich mit feststehenden Beinamen Odins bezeichnet und schmückt. "Er lebt durch alle Zeiten, beherrscht sein ganzes Reich, und waltet aller Dinge, grosser und kleiner. Er schuf Himmel und Erde und die Luft und alles, was darinnen ist; und das ist das Wichtigste, dass er den Menschen schuf und ihm den Geist gab, der leben soll und nie vergehen, wenn auch der Leib in der Erde fault oder zu Asche verbrannt wird. Auch sollen alle Menschen, die gut geartet sind, leben und mit ihm sein an dem Ort, der Gimhle12) heisst; aber böse Menschen fahren zu Hel und danach gen Niflhel; das ist unten in der neunten Welt."



In mancher dieser Wendungen der jüngeren Edda fühlt man sich stark versucht, christlichen Einfluss zu vermuten; so, wie es hier dargestellt wird, war Odin nicht "Schöpfer" (das war er gar nicht für die alte, und doch ist er es nur sehr uneigentlich für die neue Welt!) und "Alleinherrscher". Dazu kommen folgende doch sehr christlich gefärbte Züge; die besondere Hervorhebung der "Schöpfung des Menschen", die Verleihung des "unsterblichen Geistes", während "das Fleisch" verfault, der Himmel für die Guten, der Strafort (auch nachdem "Gimhle" entstand) für die Bösen; nach Hel fuhren den Heiden auch die Guten, die den Strohtod gestorben, und nach der Völuspá müsste man Hel und die Straforte samt den Bösen untergegangen ansehen, als "Gimhle" erstand.

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