Ferdinand von Saar
Schloß Kostenitz
1. Kapitel
eingestellt: 17.7.2007
In der Nähe eines Grenzgebirges, dessen westliche Ausläufer sich dicht bewaldet ins flache Land erstrecken, liegt auf mäßiger Höhe ein weitausblickendes Schloß, das sich im Laufe der letzten Jahrzehnte nicht allzu freundlich von dem Hintergrunde dunkler Tannen abgehoben hatte. Denn die Mauern waren verwittert, die Fensterläden geschlossen, und um das schweigende Portal wehte der stille Hauch der Verödung. Unten
aber dehnte sich die Ebene aus, damals wie heute, ein sonniges Bild regen, werkthätigen Lebens. Hart am Fuße des Abhanges ein stattlicher Marktflecken, in dessen Umkreise der schwarze Diamant, die Steinkohle, geschürft und auf unübersehbaren Feldern, von nur schmalen Strichen Kornes eingerahmt, die gelb blühende Oelpflanze und die zuckerspendende Rübe gebaut wurde. Dazwischen, weithin zerstreut, einzelne Schachte und Fabrikgebäude, gegen deren geschwärzte
Mauern und qualmende Schlote sich hier und dort ein hellschimmerndes Landhaus um so lieblicher ausnahm. Von dort herauf erklang tagsüber, bald lauter, bald gedämpfter, das Gepolter der Maschinen, das Brausen der Dampfkessel, der gellende Schall der Werkglocken – und verzitterte in den Wipfeln des Schloßparkes, wo auf dem verschlammenden, von Wasserrosen überdeckten Teiche ein einsamer Schwan die stillen Kreise zog. –
Im Frühling des
Jahres 1849 jedoch hatte dieser verlassene Herrensitz einen noch ganz freundlichen Anblick dargeboten. Auch war gerade in jener Zeit eine Anzahl von Arbeitern erschienen, um das Schloß, welches von seinem damaligen Besitzer, dem Freiherrn von Günthersheim, bis jetzt nur im Sommer benützt worden war, zu dauerndem Aufenthalte in Stand zu setzen. Und bald konnte man auch in der Umgegend die Kunde vernehmen, daß der Freiherr des hohen Staatsamtes, das er bekleidete, enthoben
worden sei und sich nunmehr mit seiner Gemahlin für immer hieher zurückzuziehen gedenke. In der That kam eines Abends – zu Anfang des Juni – auf der staubigen Landstraße ein mächtiger, mit Postpferden bespannter Reisewagen in Sicht, welchen in früherer Zeit schwarzbefrackte Honoratioren und weißgekleidete Mädchen mit Blumensträußen in den Händen würden erwartet haben; der aber jetzt, wo die verbrausten Stürme des
Revolutionsjahres noch überall zerstörte und unklare Verhältnisse zurück gelassen hatten, bloß der Gegenstand einer halb flüchtigen, halb befangenen Neugier war. So geschah es, daß der Freiherr, als er mit seiner Gemahlin, einer noch jungen, leicht verschleierten Dame, unter dem Portal aus dem Wagen stieg, bloß von seinem Verwalter und einigen Nebenbediensteten empfangen wurde. Später jedoch kam es in der Gaststube des Goldenen Löwen, wo sich
die hervorragendsten Bürger und Ansassen des Ortes allabendlich einzufinden pflegten, zu einer lebhaften Debatte über die Frage, ob man dem Schloßherrn, wie wohl derselbe nunmehr alle feudalen Hoheitsrechte eingebüßt habe, nicht doch eine Ovation hätte darbringen sollen. Denn es unterlag keinem Zweifel, daß er nur seinen liberalen Anschauungen, die er bekanntermaßen schon im Vormärz bethätigt hatte, bei dem abermaligen Umschwung der Dinge zum
Opfer gefallen sei. Und in dieser Hinsicht verdiene er jedenfalls die hochachtende Anerkennung, das verständnißvolle Bedauern aufgeklärter und nach wie vor freiheitlich gesinnter Männer. Eine direkte Kundgebung, das müsse man nachträglich erkennen, wäre allerdings bei dem reaktionären Drucke, der gegenwärtig selbst auf dem platten Lande geübt werde und sich durch verschärfte Polizeimaßregeln jeder Art bemerkbar mache, nicht wohl
thunlich gewesen; keineswegs aber könne es verargt, oder gar verwehrt werden, daß man von Seiten der Bürgerschaft dem Gutsbesitzer, zu welchem man seit Jahren in einem weitverzweigten Pachtverhältnisse gestanden und noch stehe, einen Höflichkeitsbesuch abstatte. Dabei wäre man ja recht wohl im Stande, die eigentliche Absicht sub rosa kundzugeben, und somit sei auch dann jede Versäumniß – wenn eine solche vorliege – wieder gut gemacht. Diese
Anschauung, obgleich einige Aengstliche und Gleichgültige dagegen sprachen, wurde endlich mit Stimmenmehrheit zum Beschlusse erhoben, worauf man daran ging, die Mitglieder der beabsichtigten Deputation und deren Führer zu wählen.
Als dem Freiherrn am nächsten Vormittage das Erscheinen der Abgeordneten gemeldet wurde, war er eben beschäftigt, in seinem Arbeitszimmer – einem hochgelegenen Gemache mit weiter Fernsicht – einige nothwendige
Einrichtungen zu treffen, und schien von der ihm zugedachten Ehre keineswegs freudig überrascht zu sein; denn ein Schatten von Mißmuth überflog sein Antlitz. Da es aber nicht anging, die Leute, welche sich draußen durch anspruchvolles Räuspern und Scharren mit den Füßen bemerkbar machten, unter irgend einem Vorwande abzuweisen, so ließ er sie, indem er eine wohlwollende Miene annahm, ohne weiteres eintreten.
Er ging ihnen einige
Schritte entgegen, hörte die Rede des Sprechers, der ein kleiner, beleibter Mann war, in vorgebeugter Haltung an, erröthete flüchtig bei einigen bedeutungsvollen Stellen und dankte schließlich mit etwas leiser, aber klarer und eindringlicher Stimme für die wohlwollenden Gesinnungen seiner Mitbürger. Sie zu rechtfertigen, vermöge er leider nicht mehr; überhaupt bleibe jetzt dem Einzelnen sowohl wie der Gesammtheit nichts Anderes übrig, als sich in
schweigender Ergebung zu fassen. Hierauf reichte er dem Führer die Hand zum Abschiede und geleitete die unter Bücklingen sich Entfernenden bis zur Thür. Allein geblieben, trat er langsam an ein Fenster und blickte gedankenvoll in den leuchtenden Tag hinaus. Der unvermuthete, wenn auch an sich ganz bedeutungslose Zwischenfall hatte doch, indem er Erinnerungen weckte, lebhaft auf ihn gewirkt. Und wie da draußen am Horizont weiße, schimmernde Wolkenmassen langsam
emportauchten: so tauchte im Geiste des verabschiedeten Staatsmannes die Vergangenheit auf...
Der Freiherr von Günthersheim war nicht von altem Adel. Sein Großvater, einem bürgerlichen Geschlechte entstammend, war unter der Regierung Maria Theresias mit bescheidenen Anfängen in Staatsdienste getreten und hatte sich im Verlauf der Jahre dem Kanzler Kaunitz derart verwendbar erwiesen, daß er während der Josephinischen Aera zu immer höheren
Aemtern emporstieg. Sein Sohn betrat unter dem folgenden Herrscher die gleiche Laufbahn und wurde später ob seiner Verdienste zur Zeit der französischen Invasion vom Kaiser Franz in den Freiherrnstand erhoben, welcher Auszeichnung er durch den Erwerb einer Herrschaft in Böhmen, die er von einem tief verschuldeten Cavalier unter sehr günstigen Bedingungen übernahm, auch eine reale Grundlage zu verleihen wußte. Dem Enkel war somit vorweg eine glänzende Zukunft
eröffnet. Ursprünglich zur diplomatischen Carrière bestimmt, wurde er als noch ganz junger Mann während des Wiener Kongresses in der Staatskanzlei verwendet, wo er durch seine Fähigkeiten und seine ganz erstaunliche Arbeitskraft die Aufmerksamkeit Metternichs erregte. Der Fürst zog ihn nunmehr näher an sich heran, konnte ihn jedoch von der Richtigkeit des Regierungssystems, das jetzt in Österreich mehr und mehr Platz griff, nicht überzeugen; ihre
Anschauungen gingen immer weiter auseinander, bis endlich der Freiherr, bereits selbst in höherem Amte, zu jenen Persönlichkeiten gehörte, welche im Rathe der Krone fortschrittliche Ideen entwickelten und neue Institutionen ins Leben zu rufen trachteten. So war er denn auch einer von Denen, welche, trotz Rang und Würden, die so plötzlich ausgebrochene Märzrevolution als erlösenden und verheißungsvollen Umschwung begrüßten. In jener vielbewegten
Zeit mit einer leitenden Machtstellung betraut, mußte er gleichwohl in Folge der zunehmenden revolutionären Ausschreitungen Verfügungen erlassen, welche ihn in den Augen der Volksführer freiheitsfeindlich erschienen ließen und ihn eines Tages in die Lage brachten, sich vor einem erregten Pöbelschwarme, der sein Wohnhaus umwogte und drohend eindringen wollte, mit seiner fast zu Tode geängstigten jungen Frau in dem engen Zwischenraume einer Doppelthür
verborgen zu halten. Dennoch harrte er auf seinem Posten aus und trachtete im Verein mit einigen Gleichgesinnten, den Kaiser, der sich inzwischen nach Innsbruck begeben hatte, zur Rückkehr nach Wien zu bestimmen, von welchem Schritte er Klärung der Verhältnisse und endliche Beruhigung erwartete. Als aber trotzdem die Greuel der Oktobertage folgten und der Hof nunmehr nach Olmütz zu fliehen gezwungen war: da konnte er zu seinem tiefen Schmerze nicht umhin, Denjenigen
beizustimmen, die schon in den ersten glorreichen Freiheitstagen das Verderben und den Zerfall der Monarchie erblickt hatten. Er selbst mußte jetzt – mit welchen Gefühlen! – die einziehenden Truppen Windischgrätz und des Banus als Retter und Erretter begrüßen; mußte erkennen, daß die Regierung keine anderen Maßregeln ergreifen konnte, als jene, die nun ein hochmüthig zufahrender, gewaltsamer Staatsmann an die Hand gab, und welchen der
Freiherr selbst sofort zum Opfer gefallen war ...
Noch immer stand dieser in Gedanken am Fenster. Endlich machte er eine Handbewegung, als wollte er sagen: »vorüber!« Dann griff er nach seinem Hute und begab sich über die breite, von seinen Schritten leicht hallende Steintreppe in den Park hinab.
Still und sonnig lag das Parterre mit seinen bunten Blumenbeeten vor ihm ausgebreitet. Er durchschritt es und bog in einen breiten Baumgang ein, der, sanft ansteigend, immer tiefer in die
Schatten einer künstlich geschaffenen romantischen Wildniß hineinführte. Ringsumher zeigten sich, in höchst mannigfaltiger Abwechslung, bemooste Felsenpartien, kleine Teiche und Wasserfälle, Grotten, Eremitagen, lauschige Boskets mit eröffneten Fernsichten: Alles schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts angelegt und durch ein zierliches Labyrinth von auf- und abführenden Pfaden mit einander verbunden.
Jetzt hielt der Freiherr still. Er
hatte eine freiere Hochfläche erreicht und stand vor einer großen Wiese, die sich, von Eichen und alten Buchen umsäumt, in leuchtender Einsamkeit ausdehnte. Am anderen Ende ragte, dicht vor einem kleinen Birkenwäldchen, ein sehr geräumiger, etwas verwittert aussehender Pavillon auf, das Tirolerhaus genannt. Ein hölzerner, gedeckter Gang umlief von außen das erste Stockwerk; die Thür im Erdgeschoße stand offen, und auf einer daneben angebrachten
Bank saß die Gattin des Freiherrn, das Haupt durch einen breitrandigen Florentiner Strohhut gegen die Strahlen der Sonne geschützt. Ein aufgeschlagenes Buch lag in ihrem Schooße; sie selbst aber blickte träumerisch vor sich hin. So tief schien sie in sich versunken, daß sie den Nahenden lange nicht bemerkte, der nun quer über das schwellende Grün der Wiese auf sie zuschritt.
Endlich hatte sie sein Erscheinen wahrgenommen, erhob sich und
ging ihm mit etwas langsamen, aber höchst geschmeidigen Gliederbewegungen entgegen. Ihr schlanker Wuchs, noch mehr aber ihre ganz ungewöhnliche Schönheit ließen sie um Vieles jünger erscheinen, als sie in der That war. Erst bei näherer Betrachtung erkannte man die völlig ausgereifte Gestalt und jene leicht überschwellenden Formen, wie sie kinderlosen Frauen eigen zu sein Pflegen.
Jetzt stand sie vor ihm und schlang die weißen
Arme, die aus langgeschlitzten Hängeärmeln hervor schimmerten, leicht um seinen Hals.
»Du kommst spät,« sagte sie, ihre großen Augen, die blau wie Kornblumen waren, zu ihm aufschlagend. »Ich habe Dich schon lange erwartet.«
Er erwiderte fürs Erste nichts, und blickte nur in dieses Antlitz, das bei aller rosigen Helle einen zart bräunlichen Hautton aufwies und von einem solchen Zauber war, daß
man es, auch nur einmal gesehen, nie wieder vergessen konnte. Und er! Wie oft hatte er sich schon in den unergründlichen Reiz dieser weichen und doch mit feinster Bestimmtheit geschnittenen Züge versenkt! Wie oft den sanften Bug der Nase, den unbeschreiblichen Liebreiz der Lippenbildung bewundert – und wie wurde er stets aufs neue davon überrascht und entzückt! Endlich sagte er: »Ich bin zurückgehalten worden; es war eine Deputation bei mir.«
Sie ließ die Arme sinken. »Eine Deputation?« fragte sie betroffen.
»Erschrick nicht,« entgegnete er, indem er zärtlich mit seiner schon etwas welken Hand über eine der dunklen Haarwellen strich, die zu beiden Seiten ihres Hutes hervorquollen. »Es ist von gar keiner Bedeutung. Man hat mir von Seiten der Ortsgemeinde eine Huldigung dargebracht, von der ich allerdings lieber verschont geblieben wäre. Da sie aber
jetzt, wie alles Andere, bereits hinter mir liegt, so will ich sie gewissermaßen als Abschluß meines öffentlichen Wirkens betrachten – und nichts soll fürder unseren lieben Schloßfrieden stören.«
»So hoffe ich!« sagte sie, sich an ihn schmiegend. »Und doch,« fuhr sie nachdenklich fort, »fürchte ich auch, daß Dir dieser Frieden, diese Ruhe bald zur Last werden dürfte. Du bist so an
Thätigkeit gewöhnt – «
»Ja,« antwortete er, während er seinen Arm leicht um ihre Mitte legte und sie langsam nach der Bank zurück leitete, auf die sich nun Beide niederließen, »ja, ich bin an Thätigkeit gewöhnt – aber ich bin auch erschöpft. Wer, wie ich, das Werk seines Lebens zusammenbrechen sah, der fühlt, daß er zu Ende ist und nicht etwa wieder von vorne anfangen – oder gar
nach einer anderen Richtung hin wirksam sein kann. So ist man auch nur meinem eigenen Wunsche zuvorgekommen, als man mich, freilich ziemlich ungnädig, in den Ruhestand versetzte, und wenn mich heute noch ein bitteres Gefühl beschleicht, so ist es nur die Folge der Ueberzeugung, daß der Staat auf Bahnen zurückgeworfen wurde, die nie und nimmer zum Heile führen können. Wie unsicher, wie drohend erscheinen die Verhältnisse! Des Aufstandes in Ungarn ist man noch
nicht Herr geworden, – Konflikte mit Deutschland hinsichtlich der Machtfrage scheinen sich vorzubereiten. Österreichs Zukunft ist es, was mich mit tiefer Sorge erfüllt. Könnte ich darüber beruhigt sein, so würde ich mich glücklich preisen, endlich mir selbst – und meinem geliebten Weibe leben zu können.«
Er hatte bei diesen Worten ihre Hand erfaßt, um sie an die Lippen zu führen; sie aber bot ihm den Mund zu
einem vollen, langen Kusse.
So ungleich auch das Paar erscheinen mochte: der Austausch dieser ehelichen Zärtlichkeit hatte nichts befremdliches. Denn der betagte Mann, der die blühende Frau umschlang, gehörte zu jenen seltenen Menschen, welche ohne Nachtheil alt werden können. War auch sein Haar ergraut, sein Scheitel gelichtet: seine schlanke, vornehme Gestalt war aufrecht und beweglich geblieben, und der geistige Adel seiner Stirn, der klare Blick
seiner Augen wurden durch den fein sinnlichen Zug, der die Lippen umspielte, keineswegs geschädigt, sondern nur noch eindringlicher hervorgehoben. War er doch, als er zu Anfang der Vierziger Jahre einem öffentlichen Verwaltungsamte vorstand, im Volksmunde stets der »schöne Präsident« genannt worden. Und damals geschah es auch, daß er sich, nahezu ein Fünfziger, in die Tochter eines seiner ihm unterstehenden Räthe beim ersten Anblick
leidenschaftlich verliebt, daß er um sie geworben – und ein freudiges Jawort erhalten hatte. Er war viel zu klug, um nicht einzusehen, daß dabei sein Rang und seine Glücksgüter sehr bedeutend in die Waagschale gefallen waren; aber er hatte trotzdem die überzeugende Empfindung, daß er seine kaum zwanzigjährige Braut auch durch die Vorzüge seiner Persönlichkeit fesselte und ihr durch die unverbrauchte Kraft seines im Innersten jugendlich
gebliebenen Wesens fast jene Liebe einflößte, die er selbst für sie empfand. Ja, er wurde beglückt – aber auch er beglückte. Daran konnte, durfte er nicht zweifeln im Laufe einer nunmehr fast zehnjährigen Ehe. Aber wird dieser beseligende Zustand Dauer haben können? Auch jetzt noch, da er nun in der That die Schwelle des Greisenalters beschritten hatte? Und später....?
Diese Gedanken mochten es sein, die jetzt seine Stirn
umwölkten und ihn mit gedämpfter Stimme sagen ließen: »Ja, ich werde hier glücklich sein, Clotilde. Aber auch Du?«
Sie sah ihn überrascht an. »Ich!? Wie kannst Du nur daran zweifeln? Du weißt doch, wie sehr ich unser schönes Kostenitz liebe. Und jetzt, da wir uns ganz hier einleben können – was stets das Ziel meiner geheimen Wünsche war – jetzt sollte ich nicht glücklich sein
können?«
Er sah, daß sie ihn nicht verstand. »Ich meinte es auch nicht so,« sagte er leise. »Ich zweifelte nur, ob Du Dich auch ferner an meiner Seite hier glücklich fühlen wirst.«
Sie verfärbte sich leicht. »An Deiner Seite?« rief sie. »Wie kommst Du zu dieser Frage, Alfons?«
Er senkte das Haupt. »Weil ich älter
und älter werde – und Du noch im vollen Zenith Deines Lebens stehst.«
Nun hatte sie ihn begriffen. Sie sprang auf, legte die Hände auf seine Schultern und blickte ihm erschreckt und vorwurfsvoll ins Antlitz. »Alfons, was willst Du damit sagen? Was giebt Dir ein Recht, so zu sprechen?«
»Meine innerste Empfindung,« antwortete er demüthig, indem er ihre beiden Hände ergriff und sie sanft an die Lippen drückte. »Verzeih mir, Clotilde! Es war gewiß thöricht, daß
ich dieser Empfindung Ausdruck gegeben – aber ich konnte nicht anders.«
Sie stand vor ihm und sah ihm tief in die Augen. Mein Gott, ich fasse es nicht. Hast Du denn Etwas an mir wahrgenommen, daß Dich zu solchen Besorgnissen –«
»O nichts! Nichts!« unterbrach er sie hastig. »Du bist ein Engel an Güte und Zärtlichkeit!«
»O dann,« rief sie, »dann
begreife ich nicht, wie Du Dich mit solchen Gedanken quälen kannst! Alfons!« fuhr sie fort, indem sie jetzt, eh er es noch verhindern konnte, rasch an ihm niederglitt, knieend seine Hand ergriff und wiederholt an die Lippen drückte, »Alfons! Muß ich Dir denn erst versichern, daß es kein glücklicheres Weib geben kann, als ich es bin? Fühlst Du denn nicht, wie innig ich Dir angehöre? Und nun gar hier, ferne von den verwirrenden Eindrücken der
Welt, in die ich mich, das weißt Du, niemals so recht habe finden können. O hier kann sich ja unser beider Glück nur erhöhen, und wenn Dir, wie gesagt, die Unthätigkeit nicht zur Last wird, dann wird auch nichts den Himmel unserer Tage trüben!«
Der Hut war ihr in den Nacken gesunken und ihr schönes Haupt kam ganz und voll zum Vorschein. Er streichelte mit Kosen die dunkle Haarfülle, die ihre zarte, schimmernde Stirn
umfloß. »Kann es denn ein besseres Thun geben, als still in Deiner Nähe zu athmen?« sagte er lächelnd, während er sie mit sanfter Gewalt wieder auf die Bank empor zog. »Uebrigens ganz und gar müßig werde ich trotzdem nicht sein. Denn ich habe vor, die Geschichte der Jahre zu schreiben, die ich im Staatsdienste zugebracht. Sie wird vielleicht einem späteren Geschlechte zu Gute kommen.«
»Das ist ja
herrlich!« rief Clotilde vergnügt aus. »Werde doch auch ich meine Beschäftigungen – oder Liebhabereien wieder aufnehmen, die mir so lange verwehrt und verkümmert waren. Schon habe ich meine eingetrockneten Aquarell-Farben hervorgesucht – und gleich morgen gehe ich an die Landschaft, die ich bereits vor einem Jahre begonnen. Und wie will ich mich wieder auf meinem Clavier üben! Jeden Abend sollst Du eine Sonate oder eine Symphonie zu hören
bekommen.«
Er lächelte ihr mit stiller Beistimmung zu.
»Und wenn Tante Lotti kommt, dann sind wir auch nicht mehr so ganz allein. Dann haben wir einen guten Hausgeist, der sich um Alles kümmern wird, was Deine Frau vernachlässigt. Es ist Dir doch recht,« setzte sie nach einer Pause hinzu, »daß ich sie gebeten habe, unser beständiger Gast zu sein?«
»Gewiß. Die
Aermste verdient unsere ganze Theilnahme, und wir erfüllen nur eine Pflicht, wenn wir ihr nach all dem Unglück, das sie getroffen, bei uns ein Asyl anbieten.«
»Sie ist so gut!« fuhr Clotilde fort. »Und dabei so umsichtig, so tüchtig! Wie bewundernswerth hat sie nach dem frühen Tode ihres Mannes ihren Sohn erzogen. Und welche Seelenstärke hat sie bewiesen, als sie den hoffnungsvollen Jüngling in ihren Armen verbluten
sah.«
»Ja, dieser Kampf an der Taborbrücke,« sagte der Freiherr nachdenklich, »war das Verhängniß der Revolution. Ich hatte den armen August gewarnt, aber er konnte – oder wollte nicht mehr zurück.«
Sie sah, daß sich die Stirn des Gatten umwölkte, und suchte seine Gedanken abzulenken. »Willst Du Dir nicht das Haus ansehen?« fragte sie. »Ich habe mich dann schon wieder
vollständig eingerichtet. Komm, ich werde Dich führen!«
Sie stand auf und er folgte ihr, indem er seinen Arm leicht unter den ihren schob. Sie traten in den kleinen Flur und stiegen die knarrende Holztreppe hinan, die nach einem nicht ungeräumigen, wenn auch niederen Gemach führte. Es war in ländlichem Geschmack mit Möbeln aus Naturholz eingerichtet; an den Wänden hingen, dunkel eingerahmt und schon ziemlich verblaßt, Tiroler
Gebirgsveduten: in der Mitte aber, über einer sauber geschnitzten, mit harten Kissen belegten Sitztruhe, prangte in sorgfältig colorirtem Steindruck das Bildniß Andreas Hofers. Die ganze Ausstattung rührte noch von der Mutter des früheren Schloßbesitzers her, welche einige Jugendjahre in Tirol zugebracht und zur Erinnerung an diesen Aufenthalt das kleine Gebäude hatte herstellen und mit Vorliebe betreuen lassen. Sie pflegte, wie behauptet wurde, während
ihrer letzten Lebensjahre fast die ganze Tageszeit hier zuzubringen, und ein anstoßendes Zimmerchen zeugte von ihren sonstigen Gewohnheiten und Liebhabereien. Dort war Alles im zierlichen Styl des Empire eingerichtet. Vor einem winzigen Canapé stand ein putziges Spieltischchen aus Ebenholz, an welchem die alte Dame Patience legte oder mit ihrer Vorleserin eine Partie LHombre machte. Ein kleines, brüchiges Spinett hatte seinen Platz dicht am Fenster; auf der anderen Seite befand
sich eine offene Handbibliothek, welche eine ganze Serie älterer Dichter, wie Klopstock, Uz, Hagedorn, Gellert, enthielt; Alles in wohlerhaltenen altmodischen Einbänden von braunem Leder. Auch die Werke Jean Pauls fanden sich vor, sammt einem Exemplar der ersten Ausgabe des Werther; einige Dramen Schillers und Tiedges Urania. Auf dem geräumigen Tische des Eintrittszimmers lagen ebenfalls Bücher, die sich durch frische und moderne Einbände als Lektüre der jetzigen
Herrin zu erkennen gaben.
»Da siehst Du nun Alles beisammen,« sagte Clotilde, nachdem sie eingetreten waren, »was ich außer Dir zu meinem Glück brauche. Hier meine geliebten Bücher, vor allen mein Lenau – sie nahm den Band wie liebkosend auf – und dort meine Staffelei. Selbst das Klimperkästchen da drinnen ist mir unschätzbar; denn ein paar Kleinigkeiten von Mozart lassen sich immerhin darauf spielen.«
Er war an die zierliche Staffelei getreten, an welcher die von Clotilde erwähnte Landschaft zu erblicken war. Sie stellte ein lauschiges, wipfelumschattetes Felsenthal vor; von der Höhe stäubte ein Wasserfall nieder. Im Vordergrunde waren einige Frauengestalten in idealer Gewandung angedeutet.
»Daran erkennt man doch gleich die Schülerin Markos,« sagte der Freiherr, das Bild betrachtend.
Es war so. Clotilde
hatte als ganz junges Mädchen von diesem Meister, welcher, wie in jenen Tagen viele seiner Kunstgenossen, zu solchem Nebenverdienst greifen mußte, Unterricht erhalten. Man konnte sie begabt nennen; aber über den Dilettantismus erhob sie sich nicht; wie denn überhaupt ihre ganze Bildung, den Zeitverhältnissen entsprechend, der Gründlichkeit entbehrte. Nur die zugänglichste Oberfläche des Wissens hatte sie in sich aufgenommen mit dem feinen Instinkte der
damaligen Frauen, welche an geistiger Empfänglichkeit die Männer fast durchgehend überragten. So gingen denn die Kenntnisse Clotildens nicht sehr weit über das hinaus, was ihr durch die gleichzeitige schöne Literatur vermittelt wurde, und auch da war es eigentlich nur das schwermüthig sentimentale Element, welches sich in den Dichtungen Lenaus, oder das Zarte und Sinnige, wie es sich in den Studien Adalbert Stifters aussprach, was sie unmittelbar anzog; der tiefe
Gehalt unserer Classiker war ihr mehr oder minder verschlossen geblieben. Hingegen zeigte sie sich musikalisch ungemein stark veranlagt und auch umfassend ausgebildet. War doch in ihrem Vaterhause, mehr als heutzutage üblich, die Kammermusik gepflegt worden, und Clotilde selbst hatte stets am Clavier an diesen liebevollen Uebungen teilgenommen. Vor allem waren es die unerschöpflichen Tonschätze Beethovens, an welchem man sich immer wieder entzückte, und so besaß sie
für diesen Meister nicht bloß die begeistertste Verehrung, sondern auch das tiefste Verständniß.
»Hier werde ich nun wieder meine Vormittage zubringen,« sagte sie jetzt. »Wie dankbar bin ich der guten Gräfin, deren Geist mich in diesen Räumen umschwebt, daß sie das reizende Häuschen entstehen ließ!«
»Nun, nun,« erwiderte der Freiherr scherzhaft, indem er sich unter dem tapferen Sandwirthe niederließ, »ich werde noch ganz eifersüchtig werden auf dieses Buen Retiro, welches überdies so einsam gelegen ist, daß Du mir ganz leicht eines Tages geraubt werden kannst.«
»O ich fürchte mich nicht!« lachte sie. »Du weißt, wie ängstlich ich bin; aber hier fühle ich mich so sicher wie in Deinen Armen.«
Sie hatte sich zu ihm gesetzt, und beide blickten nun schweigend durch eine offenstehende Flügelthür in das leuchtende Grün hinein, das draußen über dem Geländer des Ganges zum Vorschein kam. Eine Biene surrte ins Zimmer herein und umkreiste langsam einen Strauß von Wiesenblumen, der, offenbar von Clotilde gepflückt, in einer altmodischen Vase vor ihnen stand.
Plötzlich erklang in der Ferne der schrille Ton einer Glocke.
»Wie rasch die Zeit vergeht!« rief Clotilde. »Man läutet schon zu Tisch.«
»Offen gestanden, mir nicht ganz unerwünscht,« sagte der Freiherr, indem er sich erhob. »Ich spüre bereits die Wirkungen der Landluft.«
So verließen sie denn das kleine Haus und schritten gemächlich, die schattigsten Laubgänge wählend, dem Schlosse zu.
»Wenn es Dir recht ist,« sagte Clotilde, indem sie sich zutraulich an seinen Arm hängte, »so machen wir Nachmittags gleich unseren ersten Gang in den Wald. Wie lange schon haben wir ihn nicht mehr betreten! Willst Du?«
»Gewiß,« erwiderte er; »Alles was Du willst.«
Bald darauf betraten sie das Eßzimmer im Erdgeschoße. Es war ein kühler, weit gewölbter Raum, wo sich das Paar allerdings etwas vereinsamt ausnahm. Ein würdig aussehender Kammerdiener reichte mit ceremoniellem Ernst die Speisen dar.
Nachdem der Freiherr die gewohnte Siesta gehalten, brachen sie nach dem Walde auf, der hinter dem Schlosse lag. Ein kleines Hinterpförtchen in der Umfassungsmauer des Parkes, das der Freiherr aufschloß, führte zuerst auf ein Feld hinaus, wo die Aehren, von rothem Mohn durchleuchtet, bereits eine gelbliche Färbung angenommen hatten. Sie durchschritten es auf einem schmalen Pfade, dann traten sie in das duftige Bereich des Nadelholzes. Langsam bewegten sie sich im Anstiege fort, bis sie endlich eine Waldblöße erreicht hatten, wo eine alte, breitästige Föhre aufragte. Eine Ruhebank stand davor, und an dem röthlich grauen Stamm war ein Bild zu sehen: das schöne, leidvolle Antlitz einer mater dolorosa. Clotilde selbst hatte es vor einigen Jahren nach einem älteren Meister copirt und an ihrem Lieblingsbaume angebracht. Trotz einer schützenden Ueberdachung hatten die Gouachefarben bereits gelitten, und Clotilde nahm sich vor, das nächste Mal ihren Malkasten mitzunehmen und den Schaden auszubessern.
Die Sonne stand schon tief, als sie wieder in das Schloß zurückkehrten. Nach einer kurzen Trennung fanden sie sich wieder im Salon zusammen. Draußen hatten sich die Fluren bereits in Dämmerung gehüllt, die der Schimmer des zunehmenden Mondes leicht durchbrach. Bald wurden die Lampen gebracht und man nahm den Thee, worauf sich Clotilde am Clavier niederließ und die Mondschein-Sonate zu spielen begann. Zauberhaft quollen die Töne unter ihren Händen auf und drangen durch die offene Altanthür in die schweigende Landschaft hinaus, welche jetzt von dem sanften Silbergestirn immer leuchtender erhellt wurde. Und als dann später die beiden Gatten auf dem Altan standen und in die azurene Nacht emporblickten: da wölbte sich der Himmel mit seinen unzähligen Sternen wirklich über zwei glücklichen Menschen.