Frei Lesen: Die Acht Oktavhefte

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Franz Kafka

Die Acht Oktavhefte

eingestellt: 8.6.2007





Jeder Mensch trägt ein Zimmer in sich. Diese Tatsache kann man sogar durch das Gehör nachprüfen. Wenn einer schnell geht und man hinhorcht, etwa in der Nacht, wenn alles ringsherum still ist, so hört man zum Beispiel das Scheppern eines nicht genug befestigten Wandspiegels.



Er steht mit eingedrückter Brust, vorragenden Schultern, hängenden Armen, kaum zu erhebenden Beinen, auf eine Stelle starrendem Blick. Ein Heizer. Er nimmt Kohle auf die Schaufel und stößt sie in das Ofenloch voll Flammen. Ein Kind hat sich durchgestohlen durch die zwanzig Fabrikshöfe und zupft ihn am Schurz. »Vater«, sagt es, »ich bringe dir die Suppe.«



Ist hier wärmer als unten auf der winterlichen Erde? Weiß ragt es rings, mein Kübel das einzig Dunkle. War ich früher hoch, bin ich jetzt tief, der Blick zu den Bergen renkt mir den Hals aus. Weißgefrorene Eisfläche, strichweise durchschnitten von den Bahnen verschwundener Schlittschuhläufer. Auf dem hohen, keinen Zoll breit einsinkenden Schnee, folge ich der Fußspur der kleinen arktischen Hunde. Mein Reiten hat den Sinn verloren, ich bin abgestiegen und trage den Kübel auf der Achsel.



V. W.
Meinen innigsten Dank für das Beethovenbuch. Den Schopenhauer beginne ich heute. Was für eine Leistung, dieses Buch. Möchten Sie doch mit Ihrer allerzartesten Hand, mit Ihrem allerstärksten Blick für die wahrhafte Realität, mit dem gezügelten und mächtigen Grundfeuer Ihres dichterischen Wesens, mit Ihrem phantastisch weiten Wissen noch weiter solche Denkmäler aufrichten – zu meiner unaussprechlichen Freude.



Alt, in großer Leibesfülle, unter leichten Herzbeschwerden, lag ich nach dem Mittagessen, einen Fuß am Boden, auf dem Ruhebett und las ein geschichtliches Werk. Die Magd kam und meldete, zwei Finger an den zugespitzten Lippen, einen Gast.



»Wer ist es?« fragte ich, ärgerlich darüber, zu einer Zeit, da ich den Nachmittagskaffee erwartete, einen Gast empfangen zu sollen. »Ein Chineser«, sagte die Magd und unterdrückte, krampfhaft sich drehend, ein Lachen, das der Gast vor der Türe nicht hören sollte.



»Ein Chinese? Zu mir? Ist er in Chinesenkleidung?« Die Magd nickte, noch immer mit dem Lachreiz kämpfend. »Nenn ihm meinen Namen, frag, ob er wirklich mich besuchen will, der ich unbekannt im Nachbarhaus, wie sehr erst unbekannt in China bin.«



Die Magd schlich zu mir und flüsterte: »Er hat nur eine Visitkarte, darauf steht, daß er vorgelassen zu werden bittet. Deutsch kann er nicht, er redet eine unverständliche Sprache, die Karte ihm wegzunehmen fürchtete ich mich.«



»Er soll kommen!« rief ich, warf in der Erregtheit, in die ich durch mein Herzleiden oft geriet, das Buch zu Boden und verfluchte die Ungeschicklichkeit der Magd. Aufstehend und meine Riesengestalt reckend, mit der ich in dem niedrigen Zimmer jeden Besucher erschrecken mußte, ging ich zur Tür. Tatsächlich hatte mich der Chinese kaum erblickt, als er gleich wieder hinaushuschte. Ich langte nur in den Gang und zog den Mann vorsichtig an seinem Seidengürtel zu mir herein. Es war offenbar ein Gelehrter, klein, schwach, mit Hornbrille, schütterem grauschwarzem steifem Ziegenbart. Ein freundliches Männchen, hielt den Kopf geneigt und lächelte mit halbgeschlossenen Augen.



Der Advokat Dr. Bucephalus ließ eines Morgens seine Wirtschafterin zu seinem Bett kommen und sagte ihr: »Heute beginnt die große Verhandlung im Prozeß meines Bruders Bucephalus gegen die Firma Trollhätta. Ich führe die Klage, und da die Verhandlung zumindest einige Tage dauern wird, und zwar ohne eigentliche Unterbrechung, werde ich in den nächsten Tagen überhaupt nicht nach Hause kommen. Sobald die Verhandlung beendet sein oder Aussicht auf Beendigung vorhanden sein wird, werde ich Ihnen telephonieren. Mehr kann ich jetzt nicht sagen, auch nicht die geringste Frage beantworten, da ich natürlich auf Erhaltung meiner vollen Stimmkraft bedacht sein muß. Deshalb bringen Sie mir auch zum Frühstück zwei rohe Eier und Tee mit Honig.« Und sich langsam in die Polster zurücklehnend, die Hand über den Augen, verstummte er.



Die plappermäulige, aber vor ihrem Herrn in Furcht ersterbende Wirtschafterin war sehr betroffen. So plötzlich kam eine so außerordentliche Anordnung. Noch abends hatte der Herr mit ihr gesprochen, aber keine Andeutung darüber gemacht, was bevorstand. Die Verhandlung konnte doch nicht in der Nacht angesetzt worden sein. Und gibt es Verhandlungen, die tagelang ununterbrochen dauern? Und warum nannte der Herr die Prozeßparteien, was er doch ihr gegenüber sonst niemals tat? Und was für einen ungeheuern Prozeß konnte der Bruder des Herrn, der kleine Gemüsehändler Adolf Bucephalus haben, mit dem übrigens der Herr schon seit langem auf keinem guten Fuß zu stehen schien? Und wie paßte es zu den unausdenkbaren Anstrengungen, die dem Herrn bevorstanden, daß er jetzt so müde in seinem Bette lag und sein, wenn das Frühlicht nicht täuschte, irgendwie verfallenes Gesicht mit der Hand bedeckte? Und nur Tee und Eier sollten gebracht werden, nicht auch wie sonst ein wenig Wein und Schinken, um die Lebensgeister völlig aufzuwecken? Mit solchen Gedanken kehrte die Wirtschafterin in die Küche zurück, setzte sich nur für ein Weilchen auf ihren Lieblingsplatz beim Fenster, zu den Blumen und dem Kanarienvogel, blickte auf die gegenüberliegende Hofseite, wo hinter einem Fenstergitter zwei Kinder halbnackt im Spiel miteinander kämpften, wandte sich dann seufzend ab, goß den Tee ein, holte zwei Eier aus der Speisekammer, ordnete alles auf einem Tablett, konnte es sich nicht versagen, die Weinflasche als wohltätige Verlockung auch mitzunehmen und ging mit dem allem ins Schlafzimmer.



Es war leer. Wie, der Herr war doch nicht schon weg? In einer Minute konnte er sich doch nicht angezogen haben? Aber die Wäsche und die Kleider waren auch nicht mehr zu sehn. Was hat denn der Herr um Himmels willen? Ins Vorzimmer! Auch Mantel, Hut und Stock sind fort. Zum Fenster! Beim Leibhaftigen, da tritt der Herr aus dem Tor, den Hut im Nacken, den Mantel offen, die Aktenmappe an sich gedrückt, den Stock in eine Manteltasche gehängt.



Sie kennen das Trocadero in Paris? In diesem Gebäude, von dessen Ausdehnung Sie sich nach bloßen Abbildungen keine auch nur annähernde Vorstellung machen können, findet soeben die Hauptverhandlung in einem großen Prozeß statt. Sie denken vielleicht nach, wie es möglich ist, ein solches Gebäude in diesem fürchterlichen Winter genügend zu heizen. Es wird nicht geheizt. In einem solchen Fall gleich an die Heizung denken, das kann man nur in dem niedlichen Landstädtchen, in dem Sie Ihr Leben verbringen. Das Trocadero wird nicht geheizt, aber dadurch wird der Fortgang des Prozesses nicht gehindert, im Gegenteil, mitten in dieser von allen Seiten herauf und herab strahlenden Kälte wird in ganz ebenbürtigem Tempo kreuz und quer, der Länge und der Breite nach, prozessiert.



Gestern kam eine Ohnmacht zu mir. Sie wohnt im Nachbarhaus, ich habe sie dort schon öfters abends im niedrigen Tor gebückt verschwinden sehn. Eine große Dame mit lang fließendem Kleid und breitem, mit Federn geschmücktem Hut. Eiligst kam sie rauschend durch meine Tür, wie ein Arzt, der fürchtet, zu spät zum auslöschenden Kranken gekommen zu sein. »Anton«, rief sie mit hohler und doch sich rühmender Stimme, »ich komme, ich bin da!«



In den Sessel, auf den ich zeigte, ließ sie sich fallen.



»Hoch wohnst du, hoch wohnst du«, sagte sie stöhnend.



Tief in meinem Lehnstuhl nickte ich. Zahllos hüpften vor meinen Augen die Treppenstufen auf, die zu meinen Zimmern führten, eine hinter der andern, unermüdliche kleine Wellen.



»Warum so kalt?« fragte sie, zog ihre langen alten Fechterhandschuhe aus, warf sie auf den Tisch und sah mich, den Kopf geneigt, augenzwinkernd an.



Mir war, als sei ich ein Spatz, übe auf der Treppe meine Sprünge und sie zerzause mein weiches flockiges graues Gefieder.

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