Franz Kafka
Die Acht Oktavhefte
eingestellt: 8.6.2007
Jeder Mensch trägt ein Zimmer in sich. Diese Tatsache kann man sogar durch das Gehör nachprüfen. Wenn einer schnell geht und man hinhorcht, etwa in der Nacht, wenn alles ringsherum still ist, so hört man zum Beispiel das Scheppern eines nicht genug befestigten Wandspiegels.
Er steht mit eingedrückter Brust, vorragenden Schultern, hängenden Armen, kaum zu erhebenden Beinen, auf eine Stelle starrendem Blick. Ein Heizer. Er nimmt Kohle auf die Schaufel und stößt sie in das Ofenloch voll Flammen. Ein Kind hat sich durchgestohlen durch die zwanzig Fabrikshöfe und zupft ihn am Schurz. »Vater«, sagt es, »ich bringe dir die Suppe.«
Ist hier wärmer als unten auf der winterlichen Erde? Weiß ragt es rings, mein Kübel das einzig Dunkle. War ich früher hoch, bin ich jetzt tief, der Blick zu den Bergen renkt mir den Hals aus. Weißgefrorene Eisfläche, strichweise durchschnitten von den Bahnen verschwundener Schlittschuhläufer. Auf dem hohen, keinen Zoll breit einsinkenden Schnee, folge ich der Fußspur der kleinen arktischen Hunde. Mein Reiten hat den Sinn verloren, ich bin abgestiegen und trage den Kübel auf der Achsel.
V. W.
Meinen innigsten Dank für das Beethovenbuch. Den Schopenhauer beginne ich heute. Was für eine Leistung, dieses Buch. Möchten Sie doch mit Ihrer allerzartesten Hand, mit Ihrem allerstärksten Blick für die wahrhafte Realität, mit dem gezügelten und mächtigen Grundfeuer Ihres dichterischen Wesens, mit Ihrem phantastisch weiten Wissen noch weiter solche Denkmäler aufrichten – zu meiner unaussprechlichen Freude.
Alt, in großer Leibesfülle, unter leichten Herzbeschwerden, lag ich nach dem Mittagessen, einen Fuß am Boden, auf dem Ruhebett und las ein geschichtliches Werk. Die Magd kam und meldete, zwei Finger an den zugespitzten Lippen, einen Gast.
»Wer ist es?« fragte ich, ärgerlich darüber, zu einer Zeit, da ich den Nachmittagskaffee erwartete, einen Gast empfangen zu sollen. »Ein Chineser«, sagte die Magd und unterdrückte, krampfhaft sich drehend, ein Lachen, das der Gast vor der Türe nicht hören sollte.
»Ein Chinese? Zu mir? Ist er in Chinesenkleidung?« Die Magd nickte, noch immer mit dem Lachreiz kämpfend. »Nenn ihm meinen Namen, frag, ob er wirklich mich besuchen will, der ich unbekannt im Nachbarhaus, wie sehr erst unbekannt in China bin.«
Die Magd schlich zu mir und flüsterte: »Er hat nur eine Visitkarte, darauf steht, daß er vorgelassen zu werden bittet. Deutsch kann er nicht, er redet eine unverständliche Sprache, die Karte ihm wegzunehmen fürchtete ich mich.«
»Er soll kommen!« rief ich, warf in der Erregtheit, in die ich durch mein Herzleiden oft geriet, das Buch zu Boden und verfluchte die Ungeschicklichkeit der Magd. Aufstehend und meine Riesengestalt reckend, mit der ich in dem niedrigen Zimmer jeden Besucher erschrecken mußte, ging ich zur Tür. Tatsächlich hatte mich der Chinese kaum erblickt, als er gleich wieder hinaushuschte. Ich langte nur in den Gang und zog den Mann vorsichtig an seinem Seidengürtel zu mir herein. Es war offenbar ein Gelehrter, klein, schwach, mit Hornbrille, schütterem grauschwarzem steifem Ziegenbart. Ein freundliches Männchen, hielt den Kopf geneigt und lächelte mit halbgeschlossenen Augen.
Der Advokat Dr. Bucephalus ließ eines Morgens seine Wirtschafterin zu seinem Bett kommen und sagte ihr: »Heute beginnt die große Verhandlung im Prozeß meines Bruders Bucephalus gegen die Firma Trollhätta. Ich führe die Klage, und da die Verhandlung zumindest einige Tage dauern wird, und zwar ohne eigentliche Unterbrechung, werde ich in den nächsten Tagen überhaupt nicht nach Hause kommen. Sobald die Verhandlung beendet sein oder Aussicht auf Beendigung vorhanden sein wird, werde ich Ihnen telephonieren. Mehr kann ich jetzt nicht sagen, auch nicht die geringste Frage beantworten, da ich natürlich auf Erhaltung meiner vollen Stimmkraft bedacht sein muß. Deshalb bringen Sie mir auch zum Frühstück zwei rohe Eier und Tee mit Honig.« Und sich langsam in die Polster zurücklehnend, die Hand über den Augen, verstummte er.
Die plappermäulige, aber vor ihrem Herrn in Furcht ersterbende Wirtschafterin war sehr betroffen. So plötzlich kam eine so außerordentliche Anordnung. Noch abends hatte der Herr mit ihr gesprochen, aber keine Andeutung darüber gemacht, was bevorstand. Die Verhandlung konnte doch nicht in der Nacht angesetzt worden sein. Und gibt es Verhandlungen, die tagelang ununterbrochen dauern? Und warum nannte der Herr die Prozeßparteien, was er doch ihr gegenüber sonst niemals tat? Und was für einen ungeheuern Prozeß konnte der Bruder des Herrn, der kleine Gemüsehändler Adolf Bucephalus haben, mit dem übrigens der Herr schon seit langem auf keinem guten Fuß zu stehen schien? Und wie paßte es zu den unausdenkbaren Anstrengungen, die dem Herrn bevorstanden, daß er jetzt so müde in seinem Bette lag und sein, wenn das Frühlicht nicht täuschte, irgendwie verfallenes Gesicht mit der Hand bedeckte? Und nur Tee und Eier sollten gebracht werden, nicht auch wie sonst ein wenig Wein und Schinken, um die Lebensgeister völlig aufzuwecken? Mit solchen Gedanken kehrte die Wirtschafterin in die Küche zurück, setzte sich nur für ein Weilchen auf ihren Lieblingsplatz beim Fenster, zu den Blumen und dem Kanarienvogel, blickte auf die gegenüberliegende Hofseite, wo hinter einem Fenstergitter zwei Kinder halbnackt im Spiel miteinander kämpften, wandte sich dann seufzend ab, goß den Tee ein, holte zwei Eier aus der Speisekammer, ordnete alles auf einem Tablett, konnte es sich nicht versagen, die Weinflasche als wohltätige Verlockung auch mitzunehmen und ging mit dem allem ins Schlafzimmer.
Es war leer. Wie, der Herr war doch nicht schon weg? In einer Minute konnte er sich doch nicht angezogen haben? Aber die Wäsche und die Kleider waren auch nicht mehr zu sehn. Was hat denn der Herr um Himmels willen? Ins Vorzimmer! Auch Mantel, Hut und Stock sind fort. Zum Fenster! Beim Leibhaftigen, da tritt der Herr aus dem Tor, den Hut im Nacken, den Mantel offen, die Aktenmappe an sich gedrückt, den Stock in eine Manteltasche gehängt.
Sie kennen das Trocadero in Paris? In diesem Gebäude, von dessen Ausdehnung Sie sich nach bloßen Abbildungen keine auch nur annähernde Vorstellung machen können, findet soeben die Hauptverhandlung in einem großen Prozeß statt. Sie denken vielleicht nach, wie es möglich ist, ein solches Gebäude in diesem fürchterlichen Winter genügend zu heizen. Es wird nicht geheizt. In einem solchen Fall gleich an die Heizung denken, das kann man nur in dem niedlichen Landstädtchen, in dem Sie Ihr Leben verbringen. Das Trocadero wird nicht geheizt, aber dadurch wird der Fortgang des Prozesses nicht gehindert, im Gegenteil, mitten in dieser von allen Seiten herauf und herab strahlenden Kälte wird in ganz ebenbürtigem Tempo kreuz und quer, der Länge und der Breite nach, prozessiert.
Gestern kam eine Ohnmacht zu mir. Sie wohnt im Nachbarhaus, ich habe sie dort schon öfters abends im niedrigen Tor gebückt verschwinden sehn. Eine große Dame mit lang fließendem Kleid und breitem, mit Federn geschmücktem Hut. Eiligst kam sie rauschend durch meine Tür, wie ein Arzt, der fürchtet, zu spät zum auslöschenden Kranken gekommen zu sein. »Anton«, rief sie mit hohler und doch sich rühmender Stimme, »ich komme, ich bin da!«
In den Sessel, auf den ich zeigte, ließ sie sich fallen.
»Hoch wohnst du, hoch wohnst du«, sagte sie stöhnend.
Tief in meinem Lehnstuhl nickte ich. Zahllos hüpften vor meinen Augen die Treppenstufen auf, die zu meinen Zimmern führten, eine hinter der andern, unermüdliche kleine Wellen.
»Warum so kalt?« fragte sie, zog ihre langen alten Fechterhandschuhe aus, warf sie auf den Tisch und sah mich, den Kopf geneigt, augenzwinkernd an.
Mir war, als sei ich ein Spatz, übe auf der Treppe meine Sprünge und sie zerzause mein weiches flockiges graues Gefieder.
»Es tut mir von Herzen leid, daß du dich nach mir verzehrst. Oft schon sah ich aufrichtig traurig in dein abgehärmtes Gesicht, wenn du im Hof standst und zu meinem Fenster aufblicktest. Nun, ich bin dir nicht ungünstig gesinnt und hast du auch mein Herz noch nicht, so kannst du es doch erobern.«
In was für Gleichgültigkeit Menschen kommen können, in wie tiefe Überzeugung, für immer die rechte Spur verloren zu haben.
Ein Irrtum. Es war nicht meine Türe oben auf dem langen Gang, die ich geöffnet hatte. »Ein Irrtum«, sagte ich und wollte wieder hinausgehen. Da sah ich den Inwohner, einen mageren bartlosen Mann, mit festgeschlossenem Munde an einem Tischchen sitzen, auf dem nur eine Petroleumlampe stand.
In unserem Haus, diesem ungeheuren Vorstadthaus, einer von unzerstörbaren mittelalterlichen Ruinen durchwachsenen Mietskaserne, wurde heute am nebligen eisigen Wintermorgen folgender Aufruf verbreitet:
An alle meine Hausgenossen:
Ich besitze fünf Kindergewehre. Sie hängen in meinem Kasten, an jedem Haken eines. Das erste gehört mir, zu den andern kann sich melden, wer will. Melden sich mehr als vier, so müssen die überzähligen ihre eigenen Gewehre mitbringen und in meinem Kasten deponieren. Denn Einheitlichkeit muß sein, ohne Einheitlichkeit kommen wir nicht vorwärts. Übrigens habe ich nur Gewehre, die zu sonstiger Verwendung ganz unbrauchbar sind, der Mechanismus ist verdorben, der Pfropfen abgerissen, nur die Hähne knacken noch. Es wird also nicht schwer sein, nötigenfalls noch weitere solche Gewehre zu beschaffen. Aber im Grunde sind mir für die erste Zeit auch Leute ohne Gewehre recht. Wir, die wir Gewehre haben, werden im entscheidenden Augenblick die Unbewaffneten in die Mitte nehmen. Eine Kampfesweise, die sich bei den ersten amerikanischen Farmern gegenüber den Indianern bewährt hat, warum sollte sie sich nicht auch hier bewähren, da doch die Verhältnisse ähnlich sind. Man kann also sogar für die Dauer auf die Gewehre verzichten und selbst die fünf Gewehre sind nicht unbedingt nötig, und nur weil sie schon einmal vorhanden sind, sollen sie auch verwendet werden. Wollen sie aber die vier andern nicht tragen, so sollen sie es bleiben lassen. Dann werde also ich allein als Führer eines tragen. Aber wir sollen keinen Führer haben und so werde auch ich mein Gewehr zerbrechen oder weglegen.
Das war der erste Aufruf. In unserem Haus hat man keine Zeit und keine Lust, Aufrufe zu lesen oder gar zu überdenken. Bald schwammen die kleinen Papiere in dem Schmutzstrom, der, vom Dachboden ausgehend, von allen Korridoren genährt, die Treppe hinabspült und dort mit dem Gegenstrom kämpft, der von unten hinaufschwillt. Aber nach einer Woche kam ein zweiter Aufruf:
Hausgenossen!
Es hat sich bisher niemand bei mir gemeldet. Ich war, soweit ich nicht meinen Lebensunterhalt verdienen muß, fortwährend zu Hause und für die Zeit meiner Abwesenheit, während welcher meine Zimmertür stets offen war, lag auf meinem Tisch ein Blatt, auf dem sich jeder, der wollte, einschreiben konnte. Niemand hats getan.
Manchmal glaube ich, alle meine vergangenen und künftigen Sünden durch die Schmerzen meiner Knochen abzubüßen, wenn ich abends oder gar morgens nach einer Nachtschicht aus der Maschinenfabrik nach Hause komme. Ich bin nicht kräftig genug zu dieser Arbeit, das weiß ich schon seit langem und doch ändere ich nichts.
In unserm Hause, diesem ungeheuren Vorstadthause, einer von mittelalterlichen Ruinen durchwachsenen Mietskaserne, wohnt auf dem gleichen Gang wie ich, bei einer Arbeiterfamilie, ein Amtsschreiber. Sie nennen ihn zwar Beamter, aber er kann doch nur ein kleiner Schreiber sein, der mitten in dem Nest des fremden Ehepaars und seiner sechs Kinder auf einem Strohsack am Boden die Nächte verbringt. Und wenn es also ein kleiner Schreiber ist, was kümmert er mich. Selbst in diesem Haus, in dem sich doch das Elend versammelt, das die Stadt auskocht, gibt es gewiß über hundert Leute...
Auf dem gleichen Gang wie ich wohnt ein Flickschneider. Trotz aller Vorsicht verbrauche ich die Kleider zu bald, letzthin mußte ich wieder einen Rock zum Schneider tragen. Es war ein schöner, warmer Sommerabend. Der Schneider hat für sich, die Frau und sechs Kinder nur ein Zimmer, das gleichzeitig Küche ist. Überdies aber hat er noch einen Mieter bei sich, einen Schreiber von der Steuerbehörde. Dieser Zimmerbelag geht doch ein wenig über das Übliche hinaus, das ja in unserem Hause schon arg genug ist. Immerhin, man läßt jedem das Seine, der Schneider hat gewiß für seine Sparsamkeit unwiderlegliche Gründe und keinem Fremden fällt es ein, eine Besprechung dieser Gründe einzuleiten.
19. Februar 1917.
Heute gelesen Hermann und Dorothea, einiges aus Richters Lebenserinnerungen, Bilder von ihm gesehn und schließlich eine Szene aus Hauptmanns Griselda gelesen. Bin für den Augenblick der nächsten Stunde ein anderer Mensch. Alle Aussichten zwar nebelhaft wie immer, aber veränderte Nebelbilder. In den schweren Stiefeln, die ich heute zum erstenmal angezogen habe (sie waren ursprünglich für den Militärdienst bestimmt), steckt ein anderer Mensch.
Ich wohne bei Herrn Krummholz, das Zimmer teile ich mit einem Schreiber von der Steuerbehörde. Außerdem schlafen in dem Zimmer in gemeinsamem Bett zwei Töchter des Krummholz, ein sechs- und ein siebenjähriges Mädchen. Seit dem ersten Tage, an welchem der Schreiber einzog – ich selbst wohne schon jahrelang bei Krummholz – hatte ich einen zunächst ganz unbestimmten Verdacht gegen ihn. Ein Mann unter Mittelgröße, schwach, wohl mit nicht ganz fester Lunge, grauen, ihn umschlotternden Kleidern, faltigem Gesicht unbestimmbaren Alters, graublonden, länglichen, über die Ohren gekämmten Haaren, einer weit auf der Nase vorgerückten Brille, und einem kleinen, gleichfalls ergrauenden Ziegenbart.
Es war kein heiteres Leben, das ich damals beim Bahnbau am mittlern Kongo führte.
Ich saß in meiner Holzhütte auf der überdeckten Veranda. Anstatt einer Längswand war ein außerordentlich feinmaschiges Moskitonetz ausgespannt, das ich von einem der Arbeiterführer, dem Häuptling eines Stammes, durch dessen Gebiet unsere Bahn gehn sollte, erstanden hatte. Ein Hanfnetz, so fest und zart zugleich, wie man es in Europa gar nicht herstellen könnte. Es war mein Stolz und ich wurde viel darum beneidet. Ohne dieses Netz wäre es gar nicht möglich gewesen, friedlich am Abend auf der Veranda zu sitzen, das Licht aufzudrehn, wie ich es jetzt tat, eine alte europäische Zeitung zum Studium vorzunehmen und mächtig dazu die Pfeife zu rauchen.
Ich habe – wer kann noch so frei von seinen Fähigkeiten sprechen – das Handgelenk eines alten glücklichen unermüdlichen Anglers.
Ich sitze zum Beispiel zu Hause, ehe ich angeln gehe, und drehe scharf zusehend die rechte Hand, einmal hin und einmal her. Das genügt, um mir in Anblick und Gefühl das Ergebnis des künftigen Angelns oft bis in Einzelheiten zu offenbaren. Ein Ahnungsvermögen dieses gelenkigen Gelenkes, das ich in Ruhezeiten, um es Kraft sammeln zu lassen, in ein Goldarmband einschließe. Ich sehe das Wasser meines Fischplatzes in der besonderen Strömung der besonderen Stunde, ein Querschnitt des Flusses zeigt sich mir, eindeutig an Zahl und Art dringen an zehn, zwanzig, ja hundert verschiedenen Stellen Fische gegen diese Schnittfläche vor, nun weiß ich, wie die Angel zu führen ist, manche durchstoßen ungefährdet mit dem Kopf die Fläche, da lasse ich die Angel vor ihnen schwanken und schon hängen sie, die Kürze dieses Schicksalsaugenblicks entzückt mich selbst am häuslichen Tisch, andere Fische dringen bis an den Bauch vor, nun ist hohe Zeit, manche ereile ich noch, andere aber entwischen der gefährlichen Fläche selbst mit dem Schwanz und sind für diesmal mir verloren, nur für diesmal, einem wahren Angler entgeht kein Fisch.
Das zweite Oktavheft
(Im Anschluß an ›Eine Kreuzung‹)
Ein kleiner Junge hatte als einziges Erbstück nach seinem Vater eine Katze und ist durch sie Bürgermeister von London geworden. Was werde ich durch mein Tier werden, mein Erbstück? Wo dehnt sich die riesige Stadt?
Die geschriebene und überlieferte Weltgeschichte versagt oft vollständig, das menschliche Ahnungsvermögen aber führt zwar oft irre, führt aber, verläßt einen nicht. So ist zum Beispiel die Überlieferung von den sieben Weltwundern immer von dem Gerücht umgeben gewesen, daß noch ein achtes Weltwunder bestanden habe und es wurden auch über dieses achte Wunder verschiedene einander vielleicht widersprechende Mitteilungen gemacht, deren Unsicherheit man durch das Dunkel der alten Zeiten erklärte.
Sie werden, meine Damen und Herren, so etwa lautete die Ansprache des europäisch gekleideten Arabers an die Reisegesellschaft, welche kaum zuhörte, sondern förmlich geduckt, das unglaubliche Bauwerk, das sich vor ihnen auf kahlem Steinboden erhob, betrachtete, Sie werden an dieser Stelle gewiß zugeben, daß meine Firma alle andern Reiseagenturen, selbst die mit Recht altberühmten, bei weitem übertrifft. Während diese Konkurrenten nach alter billiger Gewohnheit ihre Klienten nur zu den sieben Weltwundern der Geschichtsbücher führen, zeigt unsere Firma das achte Weltwunder.
Nein, nein,
Manche sagen, er sei ein Heuchler, manche wieder, es habe nur den Anschein. Meine Eltern kennen seinen Vater; als dieser am letzten Sonntag bei uns zu Besuch war, fragte ich geradezu nach dem Sohn. Nun ist der alte Herr sehr schlau, man kommt ihm schwer bei und mir fehlt jede Geschicklichkeit zu solchen Angriffen. Das Gespräch war lebhaft, kaum aber hatte ich meine Frage eingeworfen, wurde es still. Mein Vater begann nervös mit seinem Bart zu spielen, meine Mutter stand auf, um nach dem Tee zu sehn, der alte Herr aber blickte mich aus seinen blauen Augen lächelnd an und hatte sein faltiges bleiches Gesicht mit den starken weißen Haaren zur Seite geneigt. »Ja der Junge«, sagte er und wandte seinen Blick zur Tischlampe, die an diesem frühen Winterabend schon brannte. »Haben Sie schon einmal mit ihm gesprochen?« fragte er dann. »Nein«, sagte ich, »aber ich habe schon viel von ihm gehört und ich würde sehr gern mit ihm sprechen, wenn er mich einmal empfangen wollte.«
»Was denn? Was denn?« rief ich, noch vom Schlaf im Bett niedergehalten und streckte die Arme in die Höhe. Dann stand ich auf, der Gegenwart noch lange nicht bewußt, hatte das Gefühl, als müßte ich einige Leute, die mich hinderten, zur Seite schieben, tat auch die nötigen Handbewegungen und kam so endlich zum offenen Fenster.
Hilflos, eine Scheune im Frühjahr, ein Schwindsüchtiger im Frühjahr.
Manchmal geschieht es, die Gründe dessen sind oft kaum zu ahnen, daß der größte Stierkämpfer zu seinem Kampfplatz die verfallene Arena eines abseits gelegenen Städtchens wählt, dessen Namen bisher das Madrider Publikum kaum gekannt hat. Eine Arena, vernachlässigt seit Jahrhunderten, hier wuchernd von Rasen, Spielplatz der Kinder, dort glühend mit kahlen Steinen, Ruheplatz der Schlangen und Eidechsen. Oben an den Rändern längst abgetragen, Steinbruch für alle Häuser in der Runde, jetzt nur ein kleiner Kessel, der kaum fünfhundert Menschen faßt. Keine Nebengebäude, keine Ställe vor allem, aber das Schlimmste, die Eisenbahn ist noch nicht bis hierher ausgebaut, drei Stunden Wagenfahrt, sieben Stunden Fußweg von der nächsten Station.
Meine zwei Hände begannen einen Kampf. Das Buch, in dem ich gelesen hatte, klappten sie zu und schoben es beiseite, damit es nicht störe. Mir salutierten sie und ernannten mich zum Schiedsrichter. Und schon hatten sie die Finger ineinander verschränkt und schon jagten sie am Tischrand hin, bald nach rechts, bald nach links, je nach dem Überdruck der einen oder der andern. Ich ließ keinen Blick von ihnen. Sind es meine Hände, muß ich ein gerechter Richter sein, sonst halse ich mir selbst die Leiden eines falschen Schiedsspruchs auf. Aber mein Amt ist nicht leicht, im Dunkel zwischen den Handtellern werden verschiedene Kniffe angewendet, die ich nicht unbeachtet lassen darf, ich drücke deshalb das Kinn an den Tisch und nun entgeht mir nichts. Mein Leben lang habe ich die Rechte, ohne es gegen die Linke böse zu meinen, bevorzugt. Hätte doch die Linke einmal etwas gesagt, ich hätte, nachgiebig und rechtlich wie ich bin, gleich den Mißbrauch eingestellt. Aber sie muckste nicht, hing an mir hinunter und während etwa die Rechte auf der Gasse meinen Hut schwang, tastete die Linke ängstlich meinen Schenkel ab. Das war eine schlechte Vorbereitung zum Kampf, der jetzt vor sich geht. Wie willst Du auf die Dauer, linkes Handgelenk, gegen dieses gewaltige rechte Dich stemmen? Wie Deinen mädchenhaften Finger in der Klemme der fünf andern behaupten? Das scheint mir kein Kampf mehr, sondern natürliches Ende der Linken. Schon ist sie in die äußerste linke Ecke des Tisches gedrängt, und an ihr regelmäßig auf und nieder schwingend wie ein Maschinenkolben die Rechte. Bekäme ich angesichts dieser Not nicht den erlösenden Gedanken, daß es meine eigenen Hände sind, die hier im Kampf stehn und daß ich sie mit einem leichten Ruck voneinander wegziehn kann und damit Kampf und Not beenden – bekäme ich diesen Gedanken nicht, die Linke wäre aus dem Gelenk gebrochen, vom Tisch geschleudert worden und dann vielleicht die Rechte in der Zügellosigkeit des Siegers wie der fünfköpfige Höllenhund mir selbst ins aufmerksame Gesicht gefahren. Statt dessen liegen die zwei jetzt übereinander, die Rechte streichelt den Rücken der Linken und ich unehrlicher Schiedsrichter nicke dazu.
Endlich gelang es unsern Truppen, beim Südtor in die Stadt einzubrechen. Meine Abteilung lagerte in einem Vorstadtgarten unter halb verbrannten Kirschbäumen und wartete auf Befehle. Als wir aber den hohen Ton der Trompeten vom Südtor hörten, konnte uns nichts mehr halten. Mit den Waffen, die jeder zunächst faßte, ohne Ordnung, den Arm um den Kameraden geschlungen, »Kahira Kahira« unsern Feldruf heulend, trabten wir in langen Reihen durch die Sümpfe zur Stadt. Am Südtor fanden wir schon nur Leichen und gelben Rauch, der über dem Boden schwelte und alles verdeckte. Aber wir wollten nicht nur Nachzügler sein und wendeten uns gleich in enge Nebengassen, die bisher vom Kampf verschont geblieben waren. Die erste Haustür zerbarst unter meiner Hacke, so wild drängten wir in den Flur ein, daß wir uns zuerst umeinanderdrehten. Ein Alter kam uns aus einem langen leeren Gang entgegen. Sonderbarer Alter – er hatte Flügel. Breit ausgespannte Flügel, am Außenrand höher als er selbst. »Er hat Flügel«, rief ich meinem Kameraden zu, und wir vordern wichen etwas zurück, soweit es die hinten Nachdrängenden erlaubten. »Ihr wundert euch«, sagte der Alte, »wir alle haben Flügel, aber sie haben uns nichts genützt und könnten wir sie uns abreißen, wir täten es.« »Warum seid ihr nicht fortgeflogen?« fragte ich. »Aus unserer Stadt hätten wir fortfliegen sollen? Die Heimat verlassen? Die Toten und die Götter?«
Das dritte Oktavheft
18. Oktober 1917. Furcht vor der Nacht. Furcht vor der Nicht-Nacht.
19. Oktober. Sinnlosigkeit (zu starkes Wort) der Trennung des Eigenen und Fremden im geistigen Kampf.
Alle Wissenschaft ist Methodik im Hinblick auf das Absolute. Deshalb ist keine Angst vor dem eindeutig Methodischen nötig. Es ist Hülse, aber nicht mehr als alles außer dem Einen.
Alle kämpfen wir einen Kampf. (Wenn ich angegriffen von der letzten Frage nach Waffen hinter mich greife, kann ich nicht unter den Waffen wählen, und selbst wenn ich wählen könnte, müßte ich ›fremde‹ fassen, denn wir haben alle nur einen Waffenvorrat.) Ich kann keinen eigenen führen; glaube ich einmal selbständig zu sein, sehe ich einmal niemanden um mich, so ergibt sich bald, daß ich infolge der mir nicht gleich oder überhaupt nicht zugänglichen allgemeinen Konstellation diesen Posten übernehmen mußte. Dies schließt natürlich nicht aus, daß es Vorreiter, Nachzügler, Franktireure und alle Gewohnheiten und Sonderbarkeiten der Kriegführung gibt, aber es gibt keinen selbständig Kriegführenden. (Demütigung) der Eitelkeit? Ja, aber auch notwendige und wahrheitsgemäße Ermutigung.
Ich irre ab.
Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt stolpern zu machen, als begangen zu werden.
Immer erst aufatmen von Eitelkeits- und Selbstgefälligkeitsausbrüchen. Die Orgie beim Lesen der Erzählung im ›Juden‹. Wie ein Eichhörnchen im Käfig. Glückseligkeit der Bewegung, Verzweiflung der Enge, Verrücktheit der Ausdauer, Elendgefühl vor der Ruhe des Außerhalb. Alles dieses sowohl gleichzeitig als abwechselnd, noch im Kot des Endes.
Ein Sonnenstreifen Glückseligkeit.
Schwäche des Gedächtnisses für die Einzelheiten und den Gang der eigenen Welterfassung – ein sehr schlechtes Zeichen. Nur Bruchstücke eines Ganzen. Wie willst du an die größte Aufgabe auch nur rühren, wie willst du ihre Nähe nur wittern, ihr Dasein nur träumen, ihren Traum nur erbitten, die Buchstaben der Bitte zu lernen wagen, wenn du dich nicht so zusammenfassen kannst, daß du, wenn es zur Entscheidung kommt, dein Ganzes in einer Hand so zusammenhältst wie einen Stein zum Werfen, ein Messer zum Schlachten. Andrerseits: man muß nicht in die Hände spucken, ehe man sie faltet.
Ist es möglich, etwas Untröstliches zu denken? Oder vielmehr etwas Untröstliches ohne den Hauch des Trostes? Ein Ausweg läge darin, daß das Erkennen als solches Trost ist. Man könnte also wohl denken: Du mußt dich beseitigen, und könnte sich doch ohne Fälschung dieser Erkenntnis aufrecht erhalten, am Bewußtsein, es erkannt zu haben. Das heißt dann wirklich, an den eigenen Haaren sich aus dem Sumpf gezogen haben. Was in der körperlichen Welt lächerlich ist, ist in der geistigen möglich. Dort gilt kein Schwerkraftgesetz, (die Engel fliegen nicht, sie haben nicht irgendeine Schwerkraft aufgehoben, nur wir Beobachter der irdischen Welt wissen es nicht besser zu denken), was allerdings für uns nicht vorstellbar ist, oder erst auf einer hohen Stufe. Wie kläglich ist meine Selbsterkenntnis, verglichen etwa mit meiner Kenntnis meines Zimmers. (Abend.) Warum? Es gibt keine Beobachtung der innern Welt, so wie es eine der äußern gibt. Zumindest deskriptive Psychologie ist wahrscheinlich in der Gänze ein Anthropomorphismus, ein Annagen der Grenzen. Die innere Welt läßt sich nur leben, nicht beschreiben. – Psychologie ist die Beschreibung der Spiegelung der irdischen Welt in der himmlischen Fläche oder richtiger: Die Beschreibung einer Spiegelung, wie wir, Vollgesogene der Erde, sie uns denken, denn eine Spiegelung erfolgt gar nicht, nur wir sehen Erde, wohin wir uns auch wenden.
Psychologie ist Ungeduld.
Alle menschlichen Fehler sind Ungeduld, ein vorzeitiges Abbrechen des Methodischen, ein scheinbares Einpfählen der scheinbaren Sache.
Das Unglück Don Quixotes ist nicht seine Phantasie, sondern Sancho Pansa.
20. Oktober. Im Bett.
Es gibt zwei menschliche Hauptsünden, aus welchen sich alle andern ableiten: Ungeduld und Lässigkeit. Wegen der Ungeduld sind sie aus dem Paradiese vertrieben worden, wegen der Lässigkeit kehren sie nicht zurück. Vielleicht aber gibt es nur eine Hauptsünde: die Ungeduld. Wegen der Ungeduld sind sie vertrieben worden, wegen der Ungeduld kehren sie nicht zurück.
Wir sind, mit dem irdisch befleckten Auge gesehn, in der Situation von Eisenbahnreisenden, die in einem langen Tunnel verunglückt sind, und zwar an einer Stelle, wo man das Licht des Anfangs nicht mehr sieht, das Licht des Endes aber nur so winzig, daß der Blick es immerfort suchen muß und immerfort verliert, wobei Anfang und Ende nicht einmal sicher sind. Rings um uns aber haben wir in der Verwirrung der Sinne oder in der Höchstempfindlichkeit der Sinne lauter Ungeheuer und ein je nach der Laune und Verwundung des Einzelnen entzückendes oder ermüdendes kaleidoskopisches Spiel.
Was soll ich tun? oder: Wozu soll ich es tun? sind keine Fragen dieser Gegenden.
Viele Schatten der Abgeschiedenen beschäftigen sich nur damit, die Fluten des Totenflusses zu belecken, weil er von uns herkommt und noch den salzigen Geschmack unserer Meere hat. Vor Ekel sträubt sich dann der Fluß, nimmt eine rückläufige Strömung und schwemmt die Toten ins Leben zurück. Sie aber sind glücklich, singen Danklieder und streicheln den Empörten. Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.
Der entscheidende Augenblick der menschlichen Entwicklung ist immerwährend. Darum sind die revolutionären geistigen Bewegungen, welche alles Frühere für nichtig erklären, im Recht, denn es ist noch nichts geschehen.
Die Menschengeschichte ist die Sekunde zwischen zwei Schritten eines Wanderers.
Abend Spaziergang nach Oberklee.
Von außen wird man die Welt mit Theorien immer siegreich eindrücken und gleich mit in die Grube fallen, aber nur von innen sich und sie still und wahr erhalten.
Eines der wirksamsten Verführungsmittel des Bösen ist die Aufforderung zum Kampf. Er ist wie der Kampf mit Frauen, der im Bett endet.
Die wahren Seitensprünge des Ehemanns, die, richtig verstanden, niemals lustig sind.
21. Oktober. Im Sonnenschein.
Das Stillewerden und Wenigerwerden der Stimmen der Welt.
Eine alltägliche Verwirrung
Ein alltäglicher Vorfall: sein Ertragen eine alltägliche Verwirrung. A hat mit B aus H ein wichtiges Geschäft abzuschließen. Er geht zur Vorbesprechung nach H, legt den Hin- und Herweg in je zehn Minuten zurück und rühmt sich zu Hause dieser besonderen Schnelligkeit. Am nächsten Tag geht er wieder nach H, diesmal zum endgültigen Geschäftsabschluß. Da dieser voraussichtlich mehrere Stunden erfordern wird, geht A sehr früh morgens fort. Obwohl aber alle Nebenumstände, wenigstens nach As Meinung, völlig die gleichen sind wie am Vortag, braucht er diesmal zum Weg nach H zehn Stunden. Als er dort ermüdet abends ankommt, sagt man ihm, daß B, ärgerlich wegen As Ausbleiben, vor einer halben Stunde zu A in sein Dorf gegangen sei und sie sich eigentlich unterwegs hätten treffen müssen. Man rät A zu warten. A aber, in Angst wegen des Geschäftes, macht sich sofort auf und eilt nach Hause.
Diesmal legt er den Weg, ohne besonders darauf zu achten, geradezu in einem Augenblick zurück. Zu Hause erfährt er, B sei doch schon gleich früh gekommen – gleich nach dem Weggang As; ja, er habe A im Haustor getroffen, ihn an das Geschäft erinnert, Aber A habe gesagt, er hätte jetzt keine Zeit, er müsse jetzt eilig fort.
Trotz diesem unverständlichen Verhalten As sei aber B doch hier geblieben, um auf A zu warten. Er habe zwar schon oft gefragt, ob A nicht schon wieder zurück sei, befinde sich aber noch oben in As Zimmer. Glücklich darüber, B jetzt noch zu sprechen und ihm alles erklären zu können, läuft A die Treppe hinauf. Schon ist er fast oben, da stolpert er, erleidet eine Sehnenzerrung und fast ohnmächtig vor Schmerz, unfähig sogar zu schreien, nur winselnd im Dunkel hört er, wie B – undeutlich ob in großer Ferne oder knapp neben ihm – wütend die Treppe hinunterstampft und endgültig verschwindet.
Das Teuflische nimmt manchmal das Aussehn des Guten an oder verkörpert sich sogar vollständig in ihm. Bleibt es mir verborgen, unterliege ich natürlich, denn dieses Gute ist verlockender als das wahre. Wie aber wenn es mir nicht verborgen bleibt? Wenn ich auf einer Treibjagd von Teufeln ins Gute gejagt werde? Wenn ich als Gegenstand des Ekels von an mir herumtastenden Nadelspitzen zum Guten gewälzt, gestochen, gedrängt werde? Wenn die sichtbaren Krallen des Guten nach mir greifen? Ich weiche einen Schritt zurück und rücke weich und traurig ins Böse, das hinter mir die ganze Zeit über auf meine Entscheidung gewartet hat.
(Ein Leben.) Eine stinkende Hündin, reichliche Kindergebärerin, stellenweise schon faulend, die aber in meiner Kindheit mir alles war, die in Treue unaufhörlich mir folgt, die ich zu schlagen mich nicht überwinden kann, vor der ich schrittweise rückwärts weiche und die mich doch, wenn ich mich nicht anders entscheide, in den schon sichtbaren Mauerwinkel drängen wird, um dort auf mir und mit mir gänzlich zu verwesen, bis zum Ende – ehrt es mich? –, das Eiter- und Wurmfleisch ihrer Zunge an meiner Hand.
Es gibt Überraschungen des Bösen. Plötzlich wendet es sich um und sagt: »Du hast mich mißverstanden«, und es ist vielleicht wirklich so. Das Böse verwandelt sich in deine Lippen, läßt sich von deinen Zähnen benagen und mit den neuen Lippen – keine frühern schmiegten sich dir noch folgsamer ans Gebiß – sprichst du zu deinem eigenen Staunen das gute Wort aus.
Die Wahrheit über Sancho Pansa
Sancho Pansa, der sich übrigens dessen nie gerühmt hat, gelang es im Laufe der Jahre, durch Beistellung einer Menge Ritter- und Räuberromane in den Abend- und Nachtstunden seinen Teufel, dem er später den Namen Don Quixote gab, derart von sich abzulenken, daß dieser dann haltlos die verrücktesten Taten aufführte, die aber mangels eines vorbestimmten Gegenstandes, der eben Sancho Pansa hatte sein sollen, niemandem schadeten. Sancho Pansa, ein freier Mann, folgte gleichmütig, vielleicht aus einem gewissen Verantwortlichkeitsgefühl, dem Don Quixote auf seinen Zügen und hatte davon eine große und nützliche Unterhaltung bis an sein Ende.
22. Oktober. Fünf Uhr nachts.
Eine der wichtigsten donquixotschen Taten, aufdringlicher als der Kampf mit der Windmühle, ist: der Selbstmord. Der tote Don Quixote will den toten Don Quixote töten; um zu töten, braucht er aber eine lebendige Stelle, diese sucht er nun mit seinem Schwerte ebenso unaufhörlich wie vergeblich. Unter dieser Beschäftigung rollen die zwei Toten als unauflöslicher und förmlich springlebendiger Purzelbaum durch die Zeiten.
Vormittag im Bett.
A. ist sehr aufgeblasen, er glaubt, im Guten weit vorgeschritten zu sein, da er, offenbar als ein immer verlockender Gegenstand, immer mehr Versuchungen aus ihm bisher ganz unbekannten Richtungen sich ausgesetzt fühlt. Die richtige Erklärung ist aber die, daß ein großer Teufel in ihm Platz genommen hat und die Unzahl der kleineren herbeikommt, um dem Großen zu dienen.
Abend zum Wald, zunehmender Mond; verwirrter Tag hinter mir. (Maxens Karte.) Magenunwohlsein.
Verschiedenheit der Anschauungen, die man etwa von einem Apfel haben kann: die Anschauung des kleinen Jungen, der den Hals strecken muß, um noch knapp den Apfel auf der Tischplatte zu sehn, und die Anschauung des Hausherrn, der den Apfel nimmt und frei dem Tischgenossen reicht.
23. Oktober. Früh im Bett.
Das Schweigen der Sirenen
Beweis dessen, daß auch unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung dienen können:
Um sich vor den Sirenen zu bewahren, stopfte sich Odysseus Wachs in die Ohren und ließ sich am Mast festschmieden. Ähnliches hätten natürlich seit jeher alle Reisenden tun können, außer denen, welche die Sirenen schon aus der Ferne verlockten, aber es war in der ganzen Welt bekannt, daß dies unmöglich helfen konnte. Der Sang der Sirenen durchdrang alles, und die Leidenschaft der Verführten hätte mehr als Ketten und Mast gesprengt. Daran aber dachte Odysseus nicht, obwohl er davon vielleicht gehört hatte. Er vertraute vollständig der Handvoll Wachs und dem Gebinde Ketten und in unschuldiger Freude über seine Mittelchen fuhr er den Sirenen entgegen.
Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiß nicht. Dem Gefühl, aus eigener Kraft sie besiegt zu haben, der daraus folgenden alles fortreißenden Überhebung kann nichts Irdisches widerstehen. Und tatsächlich sangen, als Odysseus kam, die gewaltigen Sängerinnen nicht, sei es, daß sie glaubten, diesem Gegner könne nur noch das Schweigen beikommen, sei es, daß der Anblick der Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten dachte, sie allen Gesang vergessen ließ. Odysseus aber, um es so auszudrücken, hörte ihr Schweigen nicht, er glaubte, sie sängen, und nur er sei behütet, es zu hören. Flüchtig sah er zuerst die Wendungen ihrer Hälse, das tiefe Atmen, die tränenvollen Augen, den halb geöffneten Mund, glaubte aber, dies gehöre zu den Arien, die ungehört um ihn verklangen. Bald aber glitt alles an seinen in die Ferne gerichteten Blicken ab, die Sirenen verschwanden förmlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen.
Sie aber – schöner als jemals – streckten und drehten sich, ließen das schaurige Haar offen im Winde wehen und spannten die Krallen frei auf den Felsen. Sie wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie so lange als möglich erhaschen.
Hätten die Sirenen Bewußtsein, sie wären damals vernichtet worden. So aber blieben sie, nur Odysseus ist ihnen entgangen. Es wird übrigens noch ein Anhang hierzu überliefert. Odysseus, sagt man, war so listenreich, war ein solcher Fuchs, daß selbst die Schicksalsgöttin nicht in sein Innerstes dringen konnte. Vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, daß die Sirenen schwiegen, und hat ihnen und den Göttern den obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten.
Nachmittag vor dem Begräbnis einer im Brunnen ertrunkenen Epileptischen.
Erkenne dich selbst, bedeutet nicht: Beobachte dich. Beobachte dich ist das Wort der Schlange. Es bedeutet: Mache dich zum Herrn deiner Handlungen. Nun bist du es aber schon, bist Herr deiner Handlungen. Das Wort bedeutet also: Verkenne dich! Zerstöre dich! also etwas Böses – und nur wenn man sich sehr tief hinabbeugt, hört man auch sein Gutes, welches lautet: »Um dich zu dem zu machen, der du bist.«
25. Oktober. Traurig, nervös, körperlich unwohl, Angst vor Prag, im Bett.
Es war einmal eine Gemeinschaft von Schurken, das heißt, es waren keine Schurken, sondern gewöhnliche Menschen. Sie hielten immer zusammen. Wenn zum Beispiel einer von ihnen jemanden, einen Fremden, außerhalb ihrer Gemeinschaft Stehenden, auf etwas schurkenmäßige Weise unglücklich gemacht hatte, – das heißt wieder nichts Schurkenmäßiges, sondern so wie es gewöhnlich, wie es üblich ist, – und er dann vor der Gemeinschaft beichtete, untersuchten sie es, beurteilten es, legten Bußen auf, verziehen und dergleichen. Es war nicht schlecht gemeint, die Interessen der einzelnen und der Gemeinschaft wurden streng gewahrt und dem Beichtenden wurde das Komplement gereicht, dessen Grundfarbe er gezeigt hatte: »Wie? Darum machst du dir Kummer? Du hast doch das Selbstverständliche getan, so gehandelt, wie du mußtest. Alles andere wäre unbegreiflich. Du bist nur überreizt. Werde doch wieder verständig.« So hielten sie immer zusammen, auch nach ihrem Tode gaben sie die Gemeinschaft nicht auf, sondern stiegen im Reigen zum Himmel. Im Ganzen war es ein Anblick reinster Kinderunschuld, wie sie flogen. Da aber vor dem Himmel alles in seine Elemente zerschlagen wird, stürzten sie ab, wahre Felsblöcke.
Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch zu sterben. Dieses Leben scheint unerträglich, ein anderes unerreichbar. Man schämt sich nicht mehr, sterben zu wollen; man bittet, aus der alten Zelle, die man haßt, in eine neue gebracht zu werden, die man erst hassen lernen wird. Ein Rest von Glauben wirkt dabei mit, während des Transportes werde zufällig der Herr durch den Gang kommen, den Gefangenen ansehen und sagen: »Diesen sollt ihr nicht wieder einsperren. Er kommt zu mir.«
3. November. Weg nach Oberklee. Abend im Zimmer Ottla und T. schreiben.
Gingest du über eine Ebene, hättest den guten Willen zu gehen und machtest doch Rückschritte, dann wäre es eine verzweifelte Sache; da du aber einen steilen Abhang hinaufkletterst, so steil etwa, wie du selbst von unten gesehen bist, können die Rückschritte auch nur durch die Bodenbeschaffenheit verursacht sein, und du mußt nicht verzweifeln.
6. November. Wie ein Weg im Herbst: Kaum ist er rein gekehrt, bedeckt er sich wieder mit den trockenen Blättern. Ein Käfig ging einen Vogel suchen.
7. November. (Früh im Bett, nach einem ›verhutzten Abend‹.)
Darauf kommt es an, wenn einem ein Schwert in die Seele schneidet: ruhig blicken, kein Blut verlieren, die Kälte des Schwertes mit der Kälte des Steines aufnehmen. Durch den Stich, nach dem Stich unverwundbar werden.
An diesem Ort war ich noch niemals: Anders geht der Atem, blendender als die Sonne strahlt neben ihr ein Stern.
9. November. Nach Oberklee.
Wenn es möglich gewesen wäre, den Turm von Babel zu erbauen, ohne ihn zu erklettern, es wäre erlaubt worden.
10. November. Bett.
Laß dich vom Bösen nicht glauben machen, du könntest vor ihm Geheimnisse haben.
Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer; das wiederholt sich immer wieder; schließlich kann man es vorausberechnen, und es wird ein Teil der Zeremonie.
Aufregungen (Blüher, Tagger)
12. November. Lange im Bett, Abwehr.
So fest wie die Hand den Stein hält. Sie hält ihn aber fest, nur um ihn desto weiter zu verwerfen. Aber auch in jene Weite führt der Weg.
Du bist die Aufgabe. Kein Schüler weit und breit.
Vom wahren Gegner fährt grenzenloser Mut in dich.
Das Glück begreifen, daß der Boden, auf dem du stehst, nicht größer sein kann, als die zwei Füße ihn bedecken.
Wie kann man sich über die Welt freuen, außer wenn man zu ihr flüchtet?
18. November.
Verstecke sind unzählige, Rettung nur eine, aber Möglichkeiten der Rettung wieder so viele wie Verstecke.
Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern.
Das Negative zu tun, ist uns noch auferlegt; das Positive ist uns schon gegeben.
Ein Bauernwagen mit drei Männern fuhr im Dunkel eine Anhöhe langsam hinauf. Ein Fremder kam ihnen entgegen und rief sie an. Nach kurzem Hin und Wieder ergab sich, daß der Fremde bat, mitgenommen zu werden. Man machte ihm einen Platz zurecht und zog ihn hinauf. Erst während der Weiterfahrt fragte man ihn: »Ihr kommt aus der Gegenrichtung und fahrt nun wieder zurück?« – »Ja«, sagte der Fremde. »Ich ging zuerst in euerer Richtung, dann aber machte ich wieder kehrt, weil es früher dunkel geworden war, als ich erwartete.«
Du beklagst dich über die Stille, über die Aussichtslosigkeit der Stille, die Mauer des Guten.
Der Dornbusch ist der alte Weg-Versperrer. Er muß Feuer fangen, wenn du weiter willst.
21. November. Die Untauglichkeit des Objekts kann die Untauglichkeit des Mittels verkennen lassen.
Wenn man einmal das Böse bei sich aufgenommen hat, verlangt es nicht mehr, daß man ihm glaube.
Die Hintergedanken, mit denen du das Böse in dir aufnimmst, sind nicht die deinen, sondern die des Bösen.
Das Tier entwindet dem Herrn die Peitsche und peitscht sich selbst, um Herr zu werden, und weiß nicht, daß das nur eine Phantasie ist, erzeugt durch einen neuen Knoten im Peitschenriemen des Herrn.
Böse ist das, was ablenkt.
Das Böse weiß vom Guten, aber das Gute vom Bösen nicht.
Selbsterkenntnis hat nur das Böse.
Ein Mittel des Bösen ist das Zwiegespräch.
Der Gründer brachte vom Gesetzgeber die Gesetze, die Gläubigen sollen dem Gesetzgeber die Gesetze verkünden.
Ist die Tatsache der Religionen ein Beweis für die Unmöglichkeit des Einzelnen, dauernd gut zu sein? Der Gründer reißt sich vom Guten los, verkörpert sich. Tut er es um der andern willen oder weil er glaubt, nur mit den andern bleiben zu können, was er war, weil er die ›Welt‹ zerstören muß, um sie nicht lieben zu müssen?
Das Gute ist in gewissem Sinne trostlos.
Wer glaubt, kann keine Wunder erleben. Bei Tag sieht man keine Sterne.
Wer Wunder tut, sagt: Ich kann die Erde nicht lassen.
Den Glauben richtig verteilen zwischen den eigenen Worten und den eigenen Überzeugungen. Eine Überzeugung, nicht in dem Augenblick, in dem man von ihr erfährt, verzischen lassen. Die Verantwortung, welche die Überzeugung auflegt, nicht auf die Worte abwälzen. Überzeugungen nicht durch Worte stehlen lassen, Übereinstimmung der Worte und Überzeugungen ist noch nicht entscheidend, auch guter Glaube nicht. Solche Worte können solche Überzeugungen noch immer je nach den Umständen einrammen oder ausgraben.
Aussprache bedeutet nicht grundsätzlich eine Schwächung der Überzeugung – darüber wäre auch nicht zu klagen, aber eine Schwäche der Überzeugung.
Nach Selbstbeherrschung strebe ich nicht. Selbstbeherrschung heißt: an einer zufälligen Stelle der unendlichen Ausstrahlungen meiner geistigen Existenz wirken wollen. Muß ich aber solche Kreise um mich ziehen, dann tue ich es besser untätig im bloßen Anstaunen des ungeheuerlichen Komplexes und nehme nur die Stärkung, die e contrario dieser Anblick gibt, mit nach Hause.
Die Krähen behaupten, eine einzige Krähe könnte den Himmel zerstören. Das ist zweifellos, beweist aber nichts gegen den Himmel, denn Himmel bedeuten eben: Unmöglichkeit von Krähen.
Die Märtyrer unterschätzen den Leib nicht, sie lassen ihn auf dem Kreuz erhöhen. Darin sind sie mit ihren Gegnern einig.
Sein Ermatten ist das des Gladiators nach dem Kampf, seine Arbeit war das Weißtünchen eines Winkels in einer Beamtenstube.
24. November. Das menschliche Urteil über menschliche Handlungen ist wahr und nichtig, nämlich zuerst wahr und dann nichtig.
Durch die Tür rechts dringen die Mitmenschen in ein Zimmer, in dem Familienrat gehalten wird, hören das letzte Wort des letzten Redners, nehmen es, strömen mit ihm durch die Tür links in die Welt und rufen ihr Urteil aus. Wahr ist das Urteil über das Wort, nichtig das Urteil an sich. Hätten sie endgültig wahr urteilen wollen, hätten sie für immer im Zimmer bleiben müssen, wären ein Teil des Familienrates geworden und dadurch allerdings wieder unfähig geworden zu urteilen.
Wirklich urteilen kann nur die Partei, als Partei aber kann sie nicht urteilen. Demnach gibt es in der Welt keine Urteilsmöglichkeit, sondern nur deren Schimmer.
Es gibt kein Haben, nur ein Sein, nur ein nach letztem Atem, nach Ersticken verlangendes Sein.
Früher begriff ich nicht, warum ich auf meine Frage keine Antwort bekam, heute begreife ich nicht, wie ich glauben konnte, fragen zu können. Aber ich glaubte ja gar nicht, ich fragte nur. Seine Antwort auf die Behauptung, er besitze vielleicht, sei aber nicht, war nur Zittern und Herzklopfen.
Zölibat und Selbstmord stehn auf ähnlicher Erkenntnisstufe, Selbstmord und Märtyrertod keineswegs, vielleicht Ehe und Märtyrertod.
Einer staunte darüber, wie leicht er den Weg der Ewigkeit ging; er raste ihn nämlich abwärts.
Die Guten gehn im gleichen Schritt. Ohne von ihnen zu wissen, tanzen die andern um sie die Tänze der Zeit.
Dem Bösen kann man nicht in Raten zahlen – und versucht es unaufhörlich.
Es wäre denkbar, daß Alexander der Große trotz den kriegerischen Erfolgen seiner Jugend, trotz dem ausgezeichneten Heer, das er ausgebildet hatte, trotz den auf Veränderung der Welt gerichteten Kräften, die er in sich fühlte, am Hellespont stehen geblieben und ihn nie überschritten hätte, und zwar nicht aus Furcht, nicht aus Unentschlossenheit, nicht aus Willensschwäche, sondern aus Erdenschwere.
Der Verzückte und der Ertrinkende, beide heben die Arme. Der erste bezeugt Eintracht, der zweite Widerstreit mit den Elementen.
Ich kenne den Inhalt nicht,
ich habe den Schlüssel nicht,
ich glaube Gerüchten nicht,
alles verständlich,
denn ich bin es selbst.
25. November.
Der Weg ist unendlich, da ist nichts abzuziehen, nichts zuzugeben und doch hält jeder noch seine eigene kindliche Elle daran. »Gewiß, auch diese Elle Wegs mußt du noch gehen, es wird dir nicht vergessen werden.«
Nur unser Zeitbegriff läßt uns das Jüngste Gericht so nennen, eigentlich ist es ein Standrecht.
26. November. Eitelkeit macht häßlich, müßte sich also eigentlich ertöten, statt dessen verletzt sie sich nur, wird ›verletzte Eitelkeit‹
Das Mißverhältnis der Welt scheint tröstlicherweise nur ein zahlenmäßiges zu sein.
Nachmittag. Den ekel- und haßerfüllten Kopf auf die Brust senken. Gewiß, aber wie, wenn dich jemand am Hals würgt?
27. November. Zeitungen lesen.
30. November. Der Messias wird kommen, sobald der zügelloseste Individualismus des Glaubens möglich ist –, niemand diese Möglichkeit vernichtet, niemand die Vernichtung duldet, also die Gräber sich öffnen. Das ist vielleicht auch die christliche Lehre, sowohl in der tatsächlichen Aufzeigung des Beispieles, dem nachgefolgt werden soll, eines individualistischen Beispieles, als auch in der symbolischen Aufzeigung der Auferstehung des Mittlers im einzelnen Menschen.
Glauben heißt: das Unzerstörbare in sich befreien, oder richtiger: sich befreien, oder richtiger: unzerstörbar sein, oder richtiger: sein.
Müßiggang ist aller Laster Anfang, aller Tugenden Krönung.
Noch spielen die Jagdhunde im Hof, aber das Wild entgeht ihnen nicht, so sehr es jetzt schon durch die Wälder jagt.
Lächerlich hast du dich aufgeschirrt für diese Welt.
Je mehr Pferde du anspannst, desto rascher gehts – nämlich nicht das Ausreißen des Blocks aus dem Fundament, was unmöglich ist, aber das Zerreißen der Riemen und damit die leere fröhliche Fahrt.
Die verschiedenen Formen der Hoffnungslosigkeit auf den verschiedenen Stationen des Wegs.
Das Wort ›sein‹ bedeutet im Deutschen beides: Dasein und Ihmgehören.
2. Dezember.
Es wurde ihnen die Wahl ges teilt, Könige oder der Könige Kuriere zu werden. Nach Art der Kinder wollten alle Kuriere sein. Deshalb gibt es lauter Kuriere, sie jagen durch die Welt und rufen, da es keine Könige gibt, einander selbst die sinnlos gewordenen Meldungen zu. Gerne würden sie ihrem elenden Leben ein Ende machen, aber sie wagen es nicht wegen des Diensteides.
4. Dezember. Stürmische Nacht, vormittag Telegramm von Max, Waffenstillstand mit Rußland.
Der Messias wird erst kommen, wenn er nicht mehr nötig sein wird, er wird erst einen Tag nach seiner Ankunft kommen, er wird nicht am letzten Tag kommen, sondern am allerletzten.
An Fortschritt glauben heißt nicht glauben, daß ein Fortschritt schon geschehen ist. Das wäre kein Glauben.
A. ist ein Virtuose und der Himmel ist sein Zeuge.
6. Dezember. Schweineschlachten.
Dreierlei:
Sich als etwas Fremdes ansehn, den Anblick vergessen, den Blick behalten.
Oder nur zweierlei, denn das Dritte schließt das Zweite ein.
Das Böse ist der Sternhimmel des Guten.
7. Dezember.
Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich, wobei sowohl das Unzerstörbare als auch das Vertrauen ihm dauernd verborgen bleiben können. Eine der Ausdrucksmöglichkeiten dieses Verborgenbleibens ist der Glaube an einen persönlichen Gott.
Der Himmel ist stumm, nur dem Stummen Widerhall.
Es bedurfte der Vermittlung der Schlange: das Böse kann den Menschen verfuhren, aber nicht Mensch werden.
8. Dezember. Bett, Verstopfung, Rückenschmerz, gereizter Abend, Katze im Zimmer, Zerworfenheit.
Im Kampf zwischen dir und der Welt sekundiere der Welt.
Man darf niemanden betrügen, auch nicht die Welt um ihren Sieg.
Es gibt nichts anderes als eine geistige Welt; was wir sinnliche Welt nennen, ist das Böse in der geistigen, und was wir böse nennen, ist nur eine Notwendigkeit eines Augenblicks unserer ewigen Entwicklung.
Mit stärkstem Licht kann man die Welt auflösen. Vor schwachen Augen wird sie fest, vor noch schwächeren bekommt sie Fäuste, vor noch schwächeren wird sie schamhaft und zerschmettert den, der sie anzuschauen wagt.
Alles ist Betrug: das Mindestmaß der Täuschungen suchen, im üblichen bleiben, das Höchstmaß suchen. Im ersten Fall betrügt man das Gute, indem man sich dessen Erwerbung zu leicht machen will, das Böse, indem man ihm allzu ungünstige Kampfbedingungen setzt. Im zweiten Fall betrügt man das Gute, indem man also nicht einmal im Irdischen nach ihm strebt. Im dritten Fall betrügt man das Gute, indem man sich möglichst weit von ihm entfernt, das Böse, indem man hofft, durch seine Höchststeigerung es machtlos zu machen. Vorzuziehen wäre also hiernach der zweite Fall, denn das Gute betrügt man immer, das Böse in diesem Fall, wenigstens dem Anschein nach, nicht.
Es gibt Fragen, über die wir nicht hinwegkommen könnten, wenn wir nicht von Natur aus von ihnen befreit wären.
Die Sprache kann für alles außerhalb der sinnlichen Welt nur andeutungsweise, aber niemals auch nur annähernd vergleichsweise gebraucht werden, da sie, entsprechend der sinnlichen Welt, nur vom Besitz und seinen Beziehungen handelt.
Man lügt möglichst wenig, nur wenn man möglichst wenig lügt, nicht wenn man möglichst wenig Gelegenheit dazu hat.
Wenn ich dem Kind sage: »Wische deinen Mund ab, dann bekommst du den Kuchen«, so heißt das nicht, daß durch das Mundabwischen der Kuchen verdient wird, denn Mundabwischen und Wert des Kuchens sind unvergleichlich, auch wird dadurch nicht das Mundabwischen zur Voraussetzung des Kuchenessens gemacht, denn abgesehen von der Geringfügigkeit solcher Bedingung bekäme das Kind den Kuchen auf jeden Fall, da er ein notwendiger Bestandteil seines Mittagessens ist, – die Bemerkung bedeutet also keine Erschwerung, sondern eine Erleichterung des Übergangs, das Mundabwischen ist ein winziger Vorteil, der dem großen des Kuchenessens vorhergeht.
9. Dezember. Kirchweihtanz gestern.
Eine durch Schritte nicht tief ausgehöhlte Treppenstufe ist, von sich selber aus gesehen, nur etwas öde zusammengefügtes Hölzernes.
Der Beobachter der Seele kann in die Seele nicht eindringen, wohl aber gibt es einen Randstrich, an dem er sich mit ihr berührt. Die Erkenntnis dieser Berührung ist, daß auch die Seele von sich selbst nicht weiß. Sie muß also unbekannt bleiben. Das wäre nur dann traurig, wenn es etwas anderes außer der Seele gäbe, aber es gibt nichts anderes.
Wer der Welt entsagt, muß alle Menschen lieben, denn er entsagt auch ihrer Welt. Er beginnt daher, das wahre menschliche Wesen zu ahnen, das nicht anders als geliebt werden kann, vorausgesetzt, daß man ihm ebenbürtig ist.
Wer innerhalb der Welt seinen Nächsten liebt, tut nicht mehr und nicht weniger Unrecht, als wer innerhalb der Welt sich selbst liebt. Es bliebe nur die Frage, ob das erstere möglich ist.
Die Tatsache, daß es nichts anderes gibt als eine geistige Welt, nimmt uns die Hoffnung und gibt uns die Gewißheit.
11. Dezember. Gestern Oberinspektor. Heute ›der Jude‹. Stein: Die Bibel ist ein Heiligtum, die Welt ein Scheißtum.
Unsere Kunst ist ein von der Wahrheit Geblendet-Sein: Das Licht auf dem zurückweichenden Fratzengesicht ist wahr, sonst nichts.
Nicht jeder kann die Wahrheit sehn, aber sein.
Die Vertreibung aus dem Paradies ist in ihrem Hauptteil ewig: Es ist also zwar die Vertreibung aus dem Paradies endgültig, das Leben in der Welt unausweichlich, die Ewigkeit des Vorganges aber (oder zeitlich ausgedrückt: die ewige Wiederholung des Vorgangs) macht es trotzdem möglich, daß wir nicht nur dauernd im Paradiese bleiben könnten, sondern tatsächlich dort dauernd sind, gleichgültig ob wir es hier wissen oder nicht.
Jedem Augenblick entspricht auch etwas Außerzeitliches. Dem Diesseits kann nicht ein Jenseits folgen, denn das Jenseits ist ewig, kann also mit dem Diesseits nicht in zeitlicher Berührung stehn.
13. Dezember. Herzen begonnen, von ›Schöner Rarität‹ und Zeitungen zerstreut.
Wer sucht, findet nicht, aber wer nicht sucht, wird gefunden.
14. Gestern, heute schlimmste Tage. Beigetragen haben: Herzen, ein Brief an Dr. Weiß, anderes Undeutbares. Ekelhaftes Essen: gestern Schweinsfuß, heute Schwanz. Weg nach Michelob durch den Park.
Er ist ein freier und gesicherter Bürger der Erde, denn er ist an eine Kette gelegt, die lang genug ist, um ihm alle irdischen Räume frei zu geben, und doch nur so lang, daß nichts ihn über die Grenzen der Erde reißen kann. Gleichzeitig aber ist er auch ein freier und gesicherter Bürger des Himmels, denn er ist auch an eine ähnlich berechnete Himmelskette gelegt. Will er nun auf die Erde, drosselt ihn das Halsband des Himmels, will er in den Himmel, jenes der Erde. Und trotzdem hat er alle Möglichkeiten und fühlt es; ja, er weigert sich sogar, das Ganze auf einen Fehler bei der ersten Fesselung zurückzuführen.
15. Dezember. Brief von Dr. Körner, Václav Mehl, von Mutter.
Hier wird es nicht entschieden werden, aber die Kraft zur Entscheidung kann nur hier erprobt werden.
17. Dezember. Leere Tage. Briefe an Körner, Pfohl, Pøibram, Kaiser, Eltern.
Der Neger, der von der Weltausstellung nach Hause gebracht wird, und, irrsinnig geworden von Heimweh, mitten in seinem Dorf unter dem Wehklagen des Stammes mit ernstestem Gesicht als Überlieferung und Pflicht die Späße aufführt, welche das europäische Publikum als Sitten und Gebräuche Afrikas entzückten.
Selbstvergessenheit und Selbstaufhebung der Kunst: Was Flucht ist, wird vorgeblich Spaziergang oder gar Angriff.
Gogh Briefe.
Er läuft den Tatsachen nach wie ein Anfänger im Schlittschuhlaufen, der überdies irgendwo übt, wo es verboten ist.
19. Dezember. Gestern Ankündigung von Fs Besuch, heute allein in meinem Zimmer, drüben raucht der Ofen, nach Zarch mit Nathan Stein gegangen, wie er der Bäuerin erzählt, daß die Welt ein Theater ist.
Was ist fröhlicher als der Glaube an einen Hausgott!
Es ist ein Unten-durch unter der wahren Erkenntnis und ein kindlich-glückliches Aufstehn!
Theoretisch gibt es eine vollkommene Glücksmöglichkeit: An das Unzerstörbare in sich glauben und nicht zu ihm streben.
21. Dezember. Telegramm an F.
Das erste Haustier Adams nach der Vertreibung aus dem Paradies war die Schlange.
22. Dezember. Hexenschuß, Rechnen in der Nacht.
23. Dezember. Glückliche und zum Teil matte Fahrt. Viel gehört.
Schlecht geschlafen, anstrengender Tag.
Das Unzerstörbare ist eines; jeder einzelne Mensch ist es und gleichzeitig ist es allen gemeinsam, daher die beispiellos untrennbare Verbindung der Menschen.
Im Paradies, wie immer: Das, was die Sünde verursacht und das, was sie erkennt, ist eines. Das gute Gewissen ist das Böse, das so siegreich ist, daß es nicht einmal mehr jenen Sprung von links nach rechts für nötig hält.
Die Sorgen, mit deren Last sich der Bevorzugte gegenüber dem Unterdrückten entschuldigt, sind eben die Sorgen um Erhaltung der Bevorzugung.
Es gibt im gleichen Menschen Erkenntnisse, die bei völliger Verschiedenheit doch das gleiche Objekt haben, so daß wieder nur auf verschiedene Subjekte im gleichen Menschen rückgeschlossen werden muß.
25., 26., 27. Dezember. Abreise F. Weinen. Alles schwer, unrecht und doch richtig.
Er frißt den Abfall vom eigenen Tisch; dadurch wird er zwar ein Weilchen lang satter als alle, verlernt aber, oben vom Tisch zu essen; dadurch hört dann aber auch der Abfall auf.
30. Dezember. Nicht wesentlich enttäuscht.
Wenn das, was im Paradies zerstört worden sein soll, zerstörbar war, dann war es nicht entscheidend; war es aber unzerstörbar, dann leben wir in einem falschen Glauben.
2. Januar. Der Lehrer hat die wahre, der Schüler die fortwährende Zweifellosigkeit.
Prüfe dich an der Menschheit. Den Zweifelnden macht sie zweifeln, den Glaubenden glauben.
Morgen fährt Baum weg.
Dieses Gefühl: ›hier ankere ich nicht‹ – und gleich die wogende, tragende Flut um sich fühlen!
Ein Umschwung. Lauernd, ängstlich, hoffend umschleicht die Antwort die Frage, sucht verzweifelt in ihrem unzugänglichen Gesicht, folgt ihr auf den sinnlosesten, das heißt von der Antwort möglichst wegstrebenden Wegen.
Verkehr mit Menschen verführt zur Selbstbeobachtung.
Der Geist wird erst frei, wenn er aufhört, Halt zu sein.
Unter dem Vorwand, auf die Jagd zu gehn, entfernt er sich vom Hause, unter dem Vorwand, das Haus im Auge behalten zu wollen, erklettert er die beschwerlichsten Höhen, wüßten wir nicht, daß er auf die Jagd geht, hielten wir ihn zurück.
13. Januar. Oskar weg mit Ottla, Weg nach Eischwitz.
Die sinnliche Liebe täuscht über die himmlische hinweg; allein könnte sie es nicht, aber da sie das Element der himmlischen Liebe unbewußt in sich hat, kann sie es.
14. Januar. Trüb, schwach, ungeduldig.
Es gibt nur zweierlei: Wahrheit und Lüge.
Wahrheit ist unteilbar, kann sich also selbst nicht erkennen; wer sie erkennen will, muß Lüge sein.
15. Januar. Ungeduldig. Besserung, Nachtspaziergang nach Oberklee.
Niemand kann verlangen, was ihm im letzten Grunde schadet. Hat es beim einzelnen Menschen doch diesen Anschein – und den hat es vielleicht immer –, so erklärt sich dies dadurch, daß jemand im Menschen etwas verlangt, was diesem Jemand zwar nützt, aber einem zweiten Jemand, der halb zur Beurteilung des Falles herangezogen wird, schwer schadet. Hätte sich der Mensch gleich anfangs, nicht erst bei der Beurteilung auf Seite des zweiten Jemand gestellt, wäre der erste Jemand erloschen und mit ihm das Verlangen.
16. Januar. Aus eigenem Willen, wie eine Faust drehte er sich und vermied die Welt.
Kein Tropfen überfließt und für keinen Tropfen ist mehr Platz.
Daß unsere Aufgabe genau so groß ist wie unser Leben, gibt ihr einen Schein von Unendlichkeit.
Warum klagen wir wegen des Sündenfalles? Nicht seinetwegen sind wir aus dem Paradies vertrieben worden, sondern wegen des Baumes des Lebens, damit wir nicht von ihm essen.
17. Januar.
Prometheus
Von Prometheus berichten vier Sagen: Nach der ersten wurde er, weil er die Götter an die Menschen verraten hatte, am Kaukasus festgeschmiedet, und die Götter schickten Adler, die von seiner immer wachsenden Leber fraßen.
Nach der zweiten drückte sich Prometheus im Schmerz vor den zuhackenden Schnäbeln immer tiefer in den Felsen, bis er mit ihm eins wurde.
Nach der dritten wurde in den Jahrtausenden sein Verrat vergessen, die Götter vergaßen, die Adler, er selbst. Nach der vierten wurde man des grundlos Gewordenen müde. Die Götter wurden müde, die Adler wurden müde, die Wunde schloß sich müde.
Blieb das unerklärliche Felsgebirge. – Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären. Da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen enden.
Das Gesetz der Quadrille ist klar, alle Tänzer kennen es, es gilt für alle Zeiten. Aber irgendeine der Zufälligkeiten des Lebens, die nie geschehen durften, aber immer wieder geschehn, bringt dich allein zwischen die Reihen. Vielleicht verwirren sich dadurch auch die Reihen selbst, aber das weißt du nicht, du weißt nur von deinem Unglück.
17. Januar. Weg nach Oberklee. Einschränkung.
Im Teufel noch den Teufel achten.
18. Januar. Die Klage: Wenn ich ewig sein werde, wie werde ich morgen sein?
Wir sind von Gott beiderseitig getrennt: Der Sündenfall trennt uns von ihm, der Baum des Lebens trennt ihn von uns.
Wir sind nicht nur deshalb sündig, weil wir vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, sondern auch deshalb, weil wir vom Baum des Lebens noch nicht gegessen haben. Sündig ist der Stand, in dem wir uns befinden, unabhängig von Schuld.
Baum des Lebens – Herr des Lebens.
Wir wurden aus dem Paradies vertrieben, aber zerstört wurde es nicht. Die Vertreibung aus dem Paradies war in einem Sinne ein Glück, denn wären wir nicht vertrieben worden, hätte das Paradies zerstört werden müssen.
Wir wurden geschaffen, um im Paradies zu leben, das Paradies war bestimmt, uns zu dienen. Unsere Bestimmung ist geändert worden; daß dies auch mit der Bestimmung des Paradieses geschehen wäre, wird nicht gesagt.
Bis fast zum Ende des Berichtes vom Sündenfall bleibt es möglich, daß auch der Garten Eden mit den Menschen verflucht wird. – Nur die Menschen sind verflucht, der Garten Eden nicht.
Gott sagte, daß Adam am Tage, da er vom Baume der Erkenntnis essen werde, sterben müsse. Nach Gott sollte die augenblickliche Folge des Essens vom Baume der Erkenntnis der Tod sein, nach der Schlange (wenigstens konnte man sie dahin verstehn) die göttliche Gleichwerdung. Beides war in ähnlicher Weise unrichtig. Die Menschen starben nicht, sondern wurden sterblich, sie wurden nicht Gott gleich, aber erhielten eine unentbehrliche Fähigkeit, es zu werden. Beides war auch in ähnlicher Weise richtig. Nicht der Mensch starb, aber der paradiesische Mensch, sie wurden nicht Gott, aber das göttliche Erkennen.
Der trostlose Gesichtskreis des Bösen: schon im Erkennen des Guten und Bösen glaubt er die Gottgleichheit zu sehn. Die Verfluchung scheint an seinem Wesen nichts zu verschlimmern: mit dem Bauche wird er die Länge des Weges ausmessen.
Das Böse ist eine Ausstrahlung des menschlichen Bewußtseins in bestimmten Übergangsstellungen. Nicht eigentlich die sinnliche Welt ist Schein, sondern ihr Böses, das allerdings für unsere Augen die sinnliche Welt bildet.
22. Januar. Versuch nach Michelob zu gehn. Kot.
Seit dem Sündenfall sind wir in der Fähigkeit zur Erkenntnis des Guten und Bösen im Wesentlichen gleich; trotzdem suchen wir gerade hier unsere besonderen Vorzüge. Aber erst jenseits dieser Erkenntnis beginnen die wahren Verschiedenheiten. Der gegenteilige Schein wird durch folgendes hervorgerufen: Niemand kann sich mit der Erkenntnis allein begnügen, sondern muß sich bestreben, ihr gemäß zu handeln. Dazu aber ist ihm die Kraft nicht mitgegeben, er muß daher sich zerstören, selbst auf die Gefahr hin, sogar dadurch die notwendige Kraft nicht zu erhalten, aber es bleibt ihm nichts anderes übrig, als dieser letzte Versuch. (Das ist auch der Sinn der Todesdrohung beim Verbot des Essens vom Baume der Erkenntnis; vielleicht ist das auch der ursprüngliche Sinn des natürlichen Todes.) Vor diesem Versuch nun fürchtet er sich; lieber will er die Erkenntnis des Guten und Bösen rückgängig machen (die Bezeichnung ›Sündenfall‹ geht auf diese Angst zurück); aber das Geschehene kann nicht rückgängig gemacht, sondern nur getrübt werden. Zu diesem Zweck entstehen die Motivationen. Die ganze Welt ist ihrer voll, ja die ganze sichtbare Welt ist vielleicht nichts anderes als eine Motivation des einen Augenblick lang ruhenwollenden Menschen. Ein Versuch, die Tatsache der Erkenntnis zu fälschen, die Erkenntnis erst zum Ziel zu machen.
Aber unter allem Rauche ist das Feuer und der, dessen Füße brennen, wird nicht dadurch erhalten bleiben, daß er überall nur dunklen Rauch sieht.
Staunend sahen wir das große Pferd. Es durchbrach das Dach unserer Stube. Der bewölkte Himmel zog sich schwach entlang des gewaltigen Umrisses und rauschend flog die Mähne im Wind.
Der Standpunkt der Kunst und des Lebens ist auch im Künstler selbst ein verschiedener.
Die Kunst fliegt um die Wahrheit, aber mit der entschiedenen Absicht, sich nicht zu verbrennen. Ihre Fähigkeit besteht darin, in der dunklen Leere einen Ort zu finden, wo der Strahl des Lichts, ohne daß dies vorher zu erkennen gewesen wäre, kräftig aufgefangen werden kann.
Ein Glaube wie ein Fallbeil, so schwer, so leicht.
Der Tod ist vor uns, etwa wie im Schulzimmer an der Wand ein Bild der Alexanderschlacht. Es kommt darauf an, durch unsere Taten noch in diesem Leben das Bild zu verdunkeln oder gar auszulöschen.
Morgendämmerung 25. Januar.
Der Selbstmörder ist der Gefangene, welcher im Gefängnishof einen Galgen aufrichten sieht, irrtümlich glaubt, es sei der für ihn bestimmte, in der Nacht aus seiner Zelle ausbricht, hinuntergeht und sich selbst aufhängt.
Erkenntnis haben wir. Wer sich besonders um sie bemüht, ist verdächtig, sich gegen sie zu bemühn.
Vor dem Betreten des Allerheiligsten mußt du die Schuhe ausziehen, aber nicht nur die Schuhe, sondern alles, Reisekleid und Gepäck, und darunter die Nacktheit und alles, was unter der Nacktheit ist, und alles, was sich unter dieser verbirgt, und dann den Kern und den Kern des Kerns, dann das übrige und dann den Rest und dann noch den Schein des unvergänglichen Feuers. Erst das Feuer selbst wird vom Allerheiligsten aufgesogen und läßt sich von ihm aufsaugen, keines von beiden kann dem widerstehen.
Nicht Selbstabschüttelung, sondern Selbstaufzehrung.
Für den Sündenfall gab es drei Strafmöglichkeiten: die mildeste war die tatsächliche, die Austreibung aus dem Paradies, die zweite: Zerstörung des Paradieses, die dritte – und diese wäre die schrecklichste Strafe gewesen –: Absperrung des ewigen Lebens und unveränderte Belassung alles andern.
28. Januar. Eitelkeit, Selbstvergessenheit einige Tage.
Zwei Möglichkeiten: sich unendlich klein machen oder es sein. Das zweite ist Vollendung, also Untätigkeit, das erste Beginn, also Tat.
Zur Vermeidung eines Wortirrtums: Was tätig zerstört werden soll, muß vorher ganz fest gehalten worden sein; was zerbröckelt, zerbröckelt, kann aber nicht zerstört werden.
A. konnte weder mit G. einträchtig leben, noch sich (scheiden) lassen, deshalb erschoß er sich, er glaubte, auf diese Weise das Unvereinbare vereinigen zu können, nämlich mit: sich selbst ›in die Laube gehn‹.
›Wenn ----, mußt du sterben‹, bedeutet: Die Erkenntnis ist beides, Stufe zum ewigen Leben und Hindernis vor ihm. Wirst du nach gewonnener Erkenntnis zum ewigen Leben gelangen wollen – und du wirst nicht anders können als es wollen, denn Erkenntnis ist dieser Wille –, so wirst du dich, das Hindernis, zerstören müssen, um die Stufe, das ist die Zerstörung, zu bauen. Die Vertreibung aus dem Paradies war daher keine Tat, sondern ein Geschehen.
Das vierte Oktavheft
Durch Auferlegung einer allzu großen oder vielmehr aller Verantwortung erdrückst du dich. Die erste Götzenanbetung war gewiß Angst vor den Dingen, aber damit zusammenhängend Angst vor der Notwendigkeit der Dinge. So ungeheuer erschien diese Verantwortung, daß man sie nicht einmal einem einzigen Außermenschlichen aufzuerlegen wagte, denn auch durch Vermittlung eines Wesens wäre die menschliche Verantwortung befleckt gewesen, deshalb gab man jedem Ding die Verantwortung für sich selbst, mehr noch, man gab diesen Dingen auch noch eine verhältnismäßige Verantwortung für den Menschen. Man konnte sich nicht genug tun in der Schaffung von Gegengewichten, diese naive Welt war die komplizierteste, die es jemals gab, ihre Naivität lebte sich ausschließlich in der brutalen Konsequenz aus.
Wird dir alle Verantwortung auferlegt, so kannst du den Augenblick benützen und der Verantwortung erliegen wollen, versuche es aber, dann merkst du, daß dir nichts auferlegt wurde, sondern daß du diese Verantwortung selbst bist.
Atlas konnte die Meinung haben, er dürfe, wenn er wolle, die Erde fallen lassen und sich wegschleichen; mehr als diese Meinung aber war ihm nicht erlaubt.
Die scheinbare Stille, mit welcher die Tage, die Jahreszeiten, die Generationen, die Jahrhunderte aufeinanderfolgen, ist ein Aufhorchen; so traben Pferde vor dem Wagen.
31. Januar. Gartenarbeit, Aussichtslosigkeit.
Ein Kampf, in dem auf keine Weise und in keinem Stadium Rückendeckung zu bekommen ist. Und trotzdem man es weiß, vergißt man es immer wieder. Und selbst wenn man es nicht vergißt, sucht man doch die Deckung, nur um sich beim Suchen auszuruhn, und trotzdem man weiß, daß es sich rächt.
1. Februar. Lenz Briefe.
Zum letztenmal Psychologie!
Zwei Aufgaben des Lebensanfangs: Deinen Kreis immer mehr einschränken und immer wieder nachprüfen, ob du dich nicht irgendwo außerhalb deines Kreises versteckt hältst.
2. Februar. Brief von Wolff.
Das Böse ist manchmal in der Hand wie ein Werkzeug, erkannt oder unerkannt läßt es sich, wenn man den Willen hat, ohne Widerspruch zur Seite legen.
Die Freuden dieses Lebens sind nicht die seinen, sondern unsere Angst vor dem Aufsteigen in ein höheres Leben; die Qualen dieses Lebens sind nicht die seinen, sondern unsere Selbstqual wegen jener Angst.
4. Februar. Langes Liegen, Schlaflosigkeit, Bewußtwerden des Kampfes.
In einer Welt der Lüge wird die Lüge nicht einmal durch ihren Gegensatz aus der Welt geschafft, sondern nur durch eine Welt der Wahrheit.
Das Leiden ist das positive Element dieser Welt, ja es ist die einzige Verbindung zwischen dieser Welt und dem Positiven. Nur hier ist Leiden Leiden. Nicht so, als ob die, welche hier leiden, anderswo wegen dieses Leidens erhöht werden sollen, sondern so, daß das, was in dieser Welt leiden heißt, in einer andern Welt, unverändert und nur befreit von seinem Gegensatz, Seligkeit ist.
5. Februar. Guter Morgen, unmöglich an alles sich zu erinnern.
Zerstören dieser Welt wäre nur dann die Aufgabe, wenn sie erstens böse wäre, das heißt widersprechend unserem Sinn, und zweitens, wenn wir imstande wären, sie zu zerstören. Das erste erscheint uns so, des zweiten sind wir nicht fähig. Zerstören können wir diese Welt nicht, denn wir haben sie nicht als etwas Selbständiges aufgebaut, sondern haben uns in sie verirrt, noch mehr: diese Welt ist unsere Verirrung, als solche ist sie aber selbst ein Unzerstörbares, oder vielmehr etwas, das nur durch seine Zu-Ende-Führung, nicht durch Verzicht zerstört werden kann, wobei allerdings auch das Zuendeführen nur eine Folge von Zerstörungen sein kann, aber innerhalb dieser Welt.
Es gibt für uns zweierlei Wahrheit, so wie sie dargestellt wird durch den Baum der Erkenntnis und den Baum des Lebens. Die Wahrheit des Tätigen und die Wahrheit des Ruhenden. In der ersten teilt sich das Gute vom Bösen, die zweite ist nichts anderes als das Gute selbst, sie weiß weder vom Guten noch vom Bösen. Die erste Wahrheit ist uns wirklich gegeben, die zweite ahnungsweise. Das ist der traurige Anblick. Der fröhliche ist, daß die erste Wahrheit dem Augenblick, die zweite der Ewigkeit gehört, deshalb verlischt auch die erste Wahrheit im Licht der zweiten.
6. Februar. In Flöhau gewesen.
Die Vorstellung von der unendlichen Weite und Fülle des Kosmos ist das Ergebnis der zum Äußersten getriebenen Mischung von mühevoller Schöpfung und freier Selbstbesinnung.
7. Februar. Soldat mit Steinen, Insel Rügen.
Müdigkeit bedeutet nicht notwendig Glaubensschwäche oder doch? Müdigkeit bedeutet jedenfalls Ungenügsamkeit. Es ist mir zu eng in allem, was Ich bedeutet, selbst die Ewigkeit, die ich bin, ist mir zu eng. Lese ich aber zum Beispiel ein gutes Buch, etwa eine Reisebeschreibung, erweckt es mich, befriedigt es mich, genügt es mir. Beweis dafür, daß ich vorher dieses Buch in meine Ewigkeit nicht mit einschloß oder nicht zur Ahnung jener Ewigkeit vorgedrungen war, die auch dieses Buch notwendigerweise umschließt. – Von einer gewissen Stufe der Erkenntnis an muß Müdigkeit, Ungenügsamkeit, Beengung, Selbstverachtung verschwinden, nämlich dort, wo ich das, was mich früher als ein Fremdes erfrischte, befriedigte, befreite, erhob, als mein eigenes Wesen zu erkennen die Kraft habe.
Aber wie, wenn es nur als ein vermeintlich Fremdes diese Wirkung hatte und du mit der neuen Erkenntnis nicht nur in dieser Hinsicht nichts gewinnst, sondern auch noch den alten Trost verlierst? Gewiß hatte es nur als Fremdes diese Wirkung, aber nicht nur diese, sondern weiterwirkend hat es mich auch zu dieser höhern Stufe erhoben. Es hat nicht aufgehört, fremd zu sein, sondern nur überdies angefangen, Ich zu sein. – Aber die Fremde, die du bist, ist nicht mehr fremd. Damit leugnest du die Weltschöpfung und widerlegst dich selbst.
Ich sollte Ewigkeit begrüßen und bin, wenn ich sie finde, traurig. Ich sollte durch Ewigkeit mich vollkommen fühlen und fühle mich hinabgedrückt?
Du sagst: ich sollte – fühlen; damit drückst du ein Gebot aus, das in dir ist?
So meine ich es.
Nun ist es aber nicht möglich, daß nur ein Gebot in dich gelegt ist, in der Weise, daß du dieses Gebot nur hörst und sonst nichts geschieht. Ist es ein fortwährendes oder nur ein zeitweiliges Gebot?
Das kann ich nicht entscheiden, doch glaube ich, daß es ein fortwährendes Gebot ist, ich aber nur zeitweilig es höre.
Woraus schließest du das?
Daraus, daß ich es gewissermaßen höre, auch wenn ich es nicht höre, in der Weise, daß es nicht selbst hörbar wird, aber die Gegenstimme dämpft oder allmählich verbittert, die Gegenstimme nämlich, welche mir die Ewigkeit verleidet.
Und hörst du ähnlich auch die Gegenstimme dann, wenn das Gebot zur Ewigkeit spricht?
Wohl auch, ja manchmal glaube ich, ich höre gar nichts anderes als die Gegenstimme, alles andere sei nur Traum und ich ließe den Traum in den Tag hineinreden.
Warum vergleichst du das innere Gebot mit einem Traum? Scheint es wie dieser sinnlos, ohne Zusammenhang, unvermeidlich, einmalig, grundlos beglückend oder ängstigend, nicht zur Gänze mitteilbar und zur Mitteilung drängend?
Alles das; – sinnlos, denn nur wenn ich ihr nicht folge, kann ich hier bestehen; ohne Zusammenhang, ich weiß nicht, wer es gebietet und worauf er abzielt; unvermeidlich, es trifft mich unvorbereitet und mit der gleichen Überraschung wie das Träumen den Schlafenden, der doch, da er sich schlafen legte, auf Träume gefaßt sein mußte. Es ist einmalig oder scheint wenigstens so, denn ich kann es nicht befolgen, es vermischt sich nicht mit dem Wirklichen und behält dadurch seine unberührte Einmaligkeit; es beglückt und ängstigt grundlos, allerdings viel seltener das erste als das zweite; es ist nicht mitteilbar, weil es nicht faßbar ist und es drängt zur Mitteilung aus demselben Grunde.
Christus, Augenblick.
8. Februar. Bald aufgestanden, Arbeitsmöglichkeit.
9. Februar. Die Windstille an manchen Tagen, der Lärm der Ankommenden, wie die unsrigen aus den Häusern hervorlaufen, sie zu begrüßen, hie und da Fahnen ausgehängt werden, man in die Keller eilt, Wein zu holen, aus einem Fenster eine Rose aufs Pflaster fällt, niemand Geduld kennt, die Boote von hundert Armen gleich festgehalten ans Land stoßen, die fremden Männer sich umblicken und in das volle Licht des Platzes emporsteigen.
Warum ist das Leichte so schwer? An Verführungen hatte ich –.
Laß die Aufzählung. Das Leichte ist schwer. Es ist so leicht und so schwer. Wie ein Jagdspiel, bei dem der einzige Ruheplatz ein Baum jenseits des Weltmeeres ist.
Aber warum sind sie von dort ausgewandert? – An der Küste ist die Brandung am stärksten, so eng ist ihr Gebiet und so unüberwindlich.
Nichtfragen hätte dich zurückgebracht, Fragen treibt dich noch ein Weltmeer weiter. – Nicht sie sind ausgewandert, sondern du.
Immer wieder wird mich die Enge bedrücken.
Ewigkeit ist aber nicht das Stillstehn der Zeitlichkeit.
Was an der Vorstellung des Ewigen bedrückend ist: die uns unbegreifliche Rechtfertigung, welche die Zeit in der Ewigkeit erfahren muß und die daraus folgende Rechtfertigung unserer selbst, so wie wir sind.
Wieviel bedrückender als die unerbittlichste Überzeugung von unserem gegenwärtigen sündhaften Stand ist selbst die schwächste Überzeugung von der einstigen, ewigen Rechtfertigung unserer Zeitlichkeit. Nur die Kraft im Ertragen dieser zweiten Überzeugung, welche in ihrer Reinheit die erste voll umfaßt, ist das Maß des Glaubens.
Manche nehmen an, daß neben dem großen Urbetrug noch in jedem Fall eigens für sie ein kleiner besonderer Betrug veranstaltet wird, daß also, wenn ein Liebesspiel auf der Bühne aufgeführt wird, die Schauspielerin außer dem verlogenen Lächeln für ihren Geliebten auch noch ein besonders hinterhältiges Lächeln für den ganz bestimmten Zuschauer auf der letzten Galerie hat. Das heißt zu weit gehen.
10. Februar. Sonntag. Lärm. Friede Ukraine.
Es verschwinden die Nebel der Feldherren und Künstler, der Liebhaber und Reichen, der Politiker und Turner, der Seefahrer und...
Freiheit und Gebundenheit ist im wesentlichen Sinn eines. In welchem wesentlichen Sinn? Nicht in dem Sinn, daß der Sklave die Freiheit nicht verliert, also in gewisser Hinsicht freier ist als der Freie.
Die Kette der Generationen ist nicht die Kette deines Wesens und doch sind Beziehungen vorhanden. – Welche? – Die Generationen sterben wie die Augenblicke deines Lebens. – Worin liegt der Unterschied?
Es ist der alte Scherz: Wir halten die Welt und klagen, daß sie uns hält.
Du leugnest in gewissem Sinn das Vorhandensein dieser Welt. Du erklärst das Dasein als ein Ausruhn, ein Ausruhn in der Bewegung.
11. Februar. Friede Rußland.
Sein Haus bleibt in der allgemeinen Feuersbrunst verschont, nicht deshalb, weil er fromm ist, sondern weil er darauf abzielt, daß sein Haus verschont bleibt.
Der Betrachtende ist in gewissem Sinne der Mitlebende, er hängt sich an das Lebende, er sucht mit dem Wind Schritt zu halten. Das will ich nicht sein.
Leben heißt: in der Mitte des Lebens sein; mit dem Blick das Leben sehn, in dem ich es erschaffen habe.
Die Welt kann nur von der Stelle aus für gut angesehen werden, von der aus sie geschaffen wurde, denn nur dort wurde gesagt: Und siehe, sie war gut – und nur von dort aus kann sie verurteilt und zerstört werden.
Immer bereit, sein Haus ist tragbar, er lebt immer in seiner Heimat.
Das entscheidend Charakteristische dieser Welt ist ihre Vergänglichkeit. In diesem Sinn haben Jahrhunderte nichts vor dem augenblicklichen Augenblick voraus. Die Kontinuität der Vergänglichkeit kann also keinen Trost geben; daß neues Leben aus den Ruinen blüht, beweist weniger die Ausdauer des Lebens als des Todes. Will ich nun diese Welt bekämpfen, muß ich sie in ihrem entscheidend Charakteristischen bekämpfen, also in ihrer Vergänglichkeit. Kann ich das in diesem Leben, und zwar wirklich, nicht nur durch Hoffnung und Glauben?
Du willst also die Welt bekämpfen, und zwar mit Waffen, die wirklicher sind als Hoffnung und Glaube. Solche Waffen gibt es wahrscheinlich, aber sie sind nur unter bestimmten Voraussetzungen erkennbar und brauchbar; ich will zuerst sehn, ob du diese Voraussetzungen hast.
Sieh nach, aber wenn ich sie nicht habe, kann ich sie vielleicht erwerben.
Gewiß, aber dabei könnte ich dir nicht helfen. Du kannst mir also nur helfen, wenn ich die Voraussetzungen schon erworben habe.
Ja, genauer gesagt kann ich dir überhaupt nicht helfen, denn wenn du die Voraussetzungen hättest, hättest du schon alles. Wenn es so steht, warum wolltest du mich also erst prüfen?
Nicht um dir zu zeigen, was dir fehlt, sondern, daß dir etwas fehlt. Einen gewissen Nutzen hätte ich dir damit vielleicht bringen können, denn du weißt zwar, daß dir etwas fehlt, aber du glaubst es nicht.
Du bietest mir also auf meine ursprüngliche Frage nur den Beweis dafür an, daß ich die Frage stellen mußte.
Ich biete doch etwas mehr, etwas, was du entsprechend deinem Stande jetzt überhaupt nicht präzisieren kannst. Ich biete den Beweis dafür, daß du eigentlich die ursprüngliche Frage anders hättest stellen müssen.
Das bedeutet also: Du willst oder kannst mir nicht antworten. »Dir nicht antworten« – so ist es. Und diesen Glauben – den kannst du geben.
19. Februar. Von Prag zurück. Ottla in Zarch.
Es blendete uns die Mondnacht. Vögel schrien von Baum zu Baum. In den Feldern sauste es.
Wir krochen durch den Staub, ein Schlangenpaar.
Intuition und Erlebnis.
Ist ›Erlebnis‹ das Ruhen im Absoluten, kann ›Intuition‹ nur der Umweg über die Welt zum Absoluten sein. Alles will doch zum Ziel und Ziel ist nur eines. Der Ausgleich wäre allerdings möglich, daß die Zerlegung nur eine solche in der Zeit ist, also nur eine zwar in jedem Augenblick, tatsächlich sich aber gar nicht vollziehende Zerlegung.
Es kann ein Wissen vom Teuflischen geben, aber keinen Glauben daran, denn mehr Teuflisches, als da ist, gibt es nicht.
Die Sünde kommt immer offen und ist mit den Sinnen gleich zu fassen. Sie geht auf ihren Wurzeln und muß nicht ausgerissen werden.
Wer nur für die Zukunft sorgt, ist weniger vorsorglich, als wer nur für den Augenblick sorgt, denn er sorgt nicht einmal für den Augenblick, sondern nur für dessen Dauer.
Alle Leiden um uns müssen auch wir leiden. Christus hat für die Menschheit gelitten, aber die Menschheit muß für Christus leiden. Wir alle haben nicht einen Leib, aber ein Wachstum, und das führt uns durch alle Schmerzen, ob in dieser oder jener Form. So wie das Kind durch alle Lebensstadien bis zum Greis und zum Tod sich entwickelt (und jedes Stadium im Grunde dem früheren, im Verlangen oder in Furcht, unerreichbar scheint), ebenso entwickeln wir uns (nicht weniger tief mit der Menschheit verbunden als mit uns selbst) durch alle Leiden dieser Welt. Für Gerechtigkeit ist in diesem Zusammenhang kein Platz, aber auch nicht für Furcht vor den Leiden oder für die Auslegung des Leidens als eines Verdienstes.
22. Februar.
Die Kontemplation und die Tätigkeit haben ihre Scheinwahrheit; aber erst die von der Kontemplation ausgesendete oder vielmehr die zu ihr zurückkehrende Tätigkeit ist die Wahrheit.
Du kannst dich zurückhalten von den Leiden der Welt, das ist dir freigestellt und entspricht deiner Natur, aber vielleicht ist gerade dieses Zurückhalten das einzige Leid, das du vermeiden könntest.
Dein Wille ist frei, heißt: er war frei, als er die Wüste wollte, er ist frei, da er den Weg zu ihrer Durchquerung wählen kann, er ist frei, da er die Gangart wählen kann, er ist aber auch unfrei, da du durch die Wüste gehen mußt, unfrei, da jeder Weg labyrinthisch jedes Fußbreit Wüste berührt.
Ein Mensch hat freien Willen, und zwar dreierlei: Erstens war er frei, als er dieses Leben wollte; jetzt kann er es allerdings nicht mehr rückgängig machen, denn er ist nicht mehr jener, der es damals wollte, es wäre denn insoweit, als er seinen damaligen Willen ausführt, indem er lebt.
Zweitens ist er frei, indem er die Gangart und den Weg dieses Lebens wählen kann.
Drittens ist er frei, indem er als derjenige, der einmal wieder sein wird, den Willen hat, sich unter jeder Bedingung durch das Leben gehen und auf diese Weise zu sich kommen zu lassen, und zwar auf einem zwar wählbaren, aber jedenfalls derartig labyrinthischen Weg, daß er kein Fleckchen dieses Lebens unberührt läßt. Das ist das Dreierlei des freien Willens, es ist aber auch, da es gleichzeitig ist, ein Einerlei und ist im Grunde so sehr Einerlei, daß es keinen Platz hat für einen Willen, weder für einen freien noch unfreien.
23. Februar. Ungeschriebener Brief.
Die Frau, noch schärfer ausgedrückt vielleicht, die Ehe ist der Repräsentant des Lebens, mit dem du dich auseinandersetzen sollst.
Das Verführungsmittel dieser Welt sowie das Zeichen der Bürgschaft dafür, daß diese Welt nur ein Übergang ist, ist das gleiche. Mit Recht, denn nur so kann uns diese Welt verführen und es entspricht der Wahrheit. Das Schlimmste ist aber, daß wir nach geglückter Verführung die Bürgschaft vergessen und so eigentlich das Gute uns ins Böse, der Blick der Frau in ihr Bett gelockt hat.
24. Februar.
Die Demut gibt jedem, auch dem einsam Verzweifelnden, das stärkste Verhältnis zum Mitmenschen, und zwar sofort, allerdings nur bei völliger und dauernder Demut. Sie kann das deshalb, weil sie die wahre Gebetsprache ist, gleichzeitig Anbetung und festeste Verbindung. Das Verhältnis zum Mitmenschen ist das Verhältnis des Gebetes, das Verhältnis zu sich das Verhältnis des Strebens; aus dem Gebet wird die Kraft für das Streben geholt.
Kannst du denn etwas anderes kennen als Betrug? Wird einmal der Betrug vernichtet, darfst du ja nicht hinsehen oder wirst zur Salzsäule.
Die Erfindungen eilen uns voraus, wie die Küste dem von seiner Maschine unaufhörlich erschütterten Dampfer immer vorauseilt. Die Erfindungen leisten alles, was geleistet werden kann. Ein Unrecht, etwa zu sagen: Das Flugzeug fliegt nicht so wie der Vogel, oder: Niemals werden wir imstande sein, einen lebendigen Vogel zu schaffen. Gewiß nicht, aber der Fehler liegt im Einwand, so wie wenn vom Dampfer verlangt würde, trotz geraden Kurses immer wieder die erste Station anzufahren. – Ein Vogel kann nicht durch einen ursprünglichen Akt geschaffen werden, denn er ist schon geschaffen, entsteht auf Grund des ersten Schöpfungsaktes immer wieder, und es ist unmöglich, in diese auf Grund eines ursprünglichen unaufhörlichen Willens geschaffene und lebende und weitersprühende Reihe einzubrechen, so wie es in einer Sage heißt, daß zwar das erste Weib aus der Rippe des Mannes geschaffen wurde, daß sich das aber niemals mehr wiederholt hat, sondern daß von da ab die Männer immer die Töchter anderer zum Weib nehmen. – Die Methode und Tendenz der Schöpfung des Vogels – darauf kommt es an – und des Flugzeugs muß aber nicht verschieden sein und die Auslegung der Wilden, welche Gewehrschuß und Donner verwechseln, kann eine begrenzte Wahrheit haben.
Beweise für ein wirkliches Vorleben: Ich habe dich schon früher gesehen, die Wunder der Vorzeit und am Ende der Tage.
25. Februar. Morgenklarheit.
Es ist nicht Trägheit, böser Wille, Ungeschicklichkeit – wenn auch von alledem etwas dabei ist, weil ›das Ungeziefer aus dem Nichts geboren wird‹ – welche mir alles mißlingen oder nicht einmal mißlingen lassen: Familienleben, Freundschaft, Ehe, Beruf, Literatur, sondern es ist der Mangel des Bodens, der Luft, des Gebotes. Diese zu schaffen ist meine Aufgabe, nicht damit ich dann das Versäumte etwa nachholen kann, sondern damit ich nichts versäumt habe, denn die Aufgabe ist so gut wie eine andere. Es ist sogar die ursprünglichste Aufgabe oder zumindest ihr Abglanz, so wie man beim Ersteigen einer luftdünnen Höhe plötzlich in den Schein der fernen Sonne treten kann. Es ist das auch keine ausnahmsweise Aufgabe, sie ist gewiß schon oft gestellt worden. Ob allerdings in solchem Ausmaß, weiß ich nicht. Ich habe von den Erfordernissen des Lebens gar nichts mitgebracht, so viel ich weiß, sondern nur die allgemeine menschliche Schwäche. Mit dieser – in dieser Hinsicht ist es eine riesenhafte Kraft – habe ich das Negative meiner Zeit, die mir ja sehr nahe ist, die ich nie zu bekämpfen, sondern gewissermaßen zu vertreten das Recht habe, kräftig aufgenommen. An dem geringen Positiven sowie an dem äußersten, zum Positiven umkippenden Negativen, hatte ich keinen ererbten Anteil. Ich bin nicht von der allerdings schon schwer sinkenden Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard und habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden jüdischen Gebetmantels noch gefangen wie die Zionisten. Ich bin Ende oder Anfang.
Er fühlte es an der Schläfe, wie die Mauer die Spitze des Nagels fühlt, der in sie eingeschlagen werden soll. Er fühlte es also nicht.
Niemand schafft hier mehr als seine geistige Lebensmöglichkeit; daß es den Anschein hat, als arbeite er für seine Ernährung, Kleidung und so weiter, ist nebensächlich, es wird ihm eben mit jedem sichtbaren Bissen auch ein unsichtbarer, mit jedem sichtbaren Kleid auch ein unsichtbares Kleid und so fort gereicht. Das ist jedes Menschen Rechtfertigung. Es hat den Anschein, als unterbaue er seine Existenz mit nachträglichen Rechtfertigungen, das ist aber nur psychologische Spiegelschrift, tatsächlich errichtet er sein Leben auf seinen Rechtfertigungen. Allerdings muß jeder Mensch sein Leben rechtfertigen können (oder seinen Tod, was dasselbe ist), dieser Aufgabe kann er nicht ausweichen. Wir sehen jeden Menschen sein Leben leben (oder seinen Tod sterben). Ohne innere Rechtfertigung wäre diese Leistung nicht möglich, kein Mensch kann ein ungerechtfertigtes Leben leben. Daraus könnte man in Unterschätzung des Menschen schließen, daß jeder sein Leben mit Rechtfertigungen unterbaut.
Psychologie ist Lesen einer Spiegelschrift, also mühevoll, und was das immer stimmende Resultat betrifft, ergebnisreich, aber wirklich geschehn ist nichts.
Nach dem Tod eines Menschen tritt selbst auf Erden hinsichtlich des Toten für eine Zeitspanne eine besondere wohltuende Stille ein, ein irdisches Fieber hat aufgehört, ein Sterben sieht man nicht mehr fortgesetzt, ein Irrtum scheint beseitigt, selbst für die Lebenden eine Gelegenheit zum Atemschöpfen, weshalb man auch die Fenster des Sterbezimmers öffnet, – bis sich dann alles doch nur als Schein ergibt und der Schmerz und die Klagen beginnen.
Das Grausame des Todes liegt darin, daß er den wirklichen Schmerz des Endes bringt, aber nicht das Ende.
Das Grausamste des Todes: ein scheinbares Ende verursacht einen wirklichen Schmerz.
Die Klage am Sterbebett ist eigentlich die Klage darüber, daß hier nicht im wahren Sinn gestorben worden ist. Noch immer müssen wir uns mit diesem Sterben begnügen, noch immer spielen wir das Spiel.
26. Februar. Sonniger Morgen.
Die Menschheitsentwicklung – ein Wachsen der Sterbenskraft.
Unsere Rettung ist der Tod, aber nicht dieser.
Alle sind zu A. sehr freundlich, so etwa wie man ein ausgezeichnetes Billard selbst vor guten Spielern sorgfältig zu bewahren sucht, solange bis der große Spieler kommt, das Brett genau untersucht, keinen vorzeitigen Fehler duldet, dann aber, wenn er selbst zu spielen anfängt, sich auf die rücksichtsloseste Weise auswütet. »Dann aber kehrte er zu seiner Arbeit zurück, so wie wenn nichts geschehen wäre.« Das ist eine Bemerkung, die uns aus einer unklaren Fülle alter Erzählungen geläufig ist, obwohl sie vielleicht in keiner vorkommt.
Jedem Menschen werden hier zwei Glaubensfragen gestellt, erstens nach der Glaubenswürdigkeit dieses Lebens, zweitens nach der Glaubenswürdigkeit seines Zieles. Beide Fragen werden von jedem durch die Tatsache seines Lebens so fest und unvermittelt mit »ja« beantwortet, daß es unsicher werden könnte, ob die Fragen richtig verstanden worden sind. Jedenfalls muß man sich nun zu diesem seinen eigenen Grund-Ja erst durcharbeiten, denn noch weit unter ihrer Oberfläche sind die Antworten im Ansturm der Fragen verworren und ausweichend.
»Daß es uns an Glauben fehle, kann man nicht sagen. Allein die einfache Tatsache unseres Lebens ist in ihrem Glaubenswert gar nicht auszuschöpfen.«
»Hier wäre ein Glaubenswert? Man kann doch nicht nicht-leben.«
»Eben in diesem ›kann doch nicht‹ steckt die wahnsinnige Kraft des Glaubens; in dieser Verneinung bekommt sie Gestalt.«
Es ist nicht notwendig, daß du aus dem Hause gehst. Bleib bei deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor dir winden.
Die Nichtmitteilbarkeit des Paradoxes besteht vielleicht, äußert sich aber nicht als solche, denn Abraham selbst versteht es nicht. Nun braucht oder soll er es nicht verstehn, also auch nicht für sich deuten, wohl aber darf er es den andern gegenüber zu deuten suchen. Auch das Allgemeine ist in diesem Sinn nicht eindeutig, was sich im Iphigenie-Fall darin äußert, daß das Orakel niemals eindeutig ist.
Ruhe im Allgemeinen? Äquivokation des Allgemeinen. Einmal das Allgemeine gedeutet als das Ruhen, sonst aber als das ›allgemeine‹ Hin und Her zwischen Einzelnem und Allgemeinem. Erst die Ruhe ist das wirklich Allgemeine, aber auch das Endziel.
Es ist so, wie wenn das Hin und Her zwischen Allgemeinem und Einzelnem auf der wirklichen Bühne stattfände, dagegen das Leben im Allgemeinen nur eingezeichnet würde auf der Hintergrundkulisse.
Es gibt nicht diese Entwicklung, die in ihrer von mir nur sehr mittelbar verschuldeten Sinnlosigkeit mich ermüden würde. Die vergängliche Welt reicht für Abrahams Vorsorglichkeit nicht aus, deshalb beschließt er mit ihr in die Ewigkeit auszuwandern. Sei es aber, daß das Ausgangs-, sei es, daß das Eingangstor zu eng ist, er bringt den Möbelwagen nicht durch. Die Schuld schreibt er der Schwäche seiner kommandierenden Stimme zu. Es ist die Qual seines Lebens.
Abrahams geistige Armut und die Schwerbeweglichkeit dieser Armut ist ein Vorteil, sie erleichtert ihm die Konzentration oder vielmehr, sie ist schon Konzentration, wodurch er allerdings den Vorteil verliert, der in der Anwendung der Konzentrationskraft liegt.
Abraham ist in folgender Täuschung begriffen: Die Einförmigkeit dieser Welt kann er nicht ertragen. Nun ist aber die Welt bekanntlich ungemein mannigfaltig, was jederzeit nachzuprüfen ist, indem man eine Handvoll Welt nimmt und näher ansieht. Das weiß natürlich auch Abraham. Die Klage über die Einförmigkeit der Welt ist also eigentlich eine Klage über nicht genügend tiefe Vermischung mit der Mannigfaltigkeit der Welt. Also eigentlich ein Sprungbrett in die Welt.
Neben seiner Beweisführung geht eine Bezauberung mit. Einer Beweisführung kann man in die Zauberwelt ausweichen, einer Bezauberung in die Logik, aber beide gleichzeitig erdrücken, zumal sie etwas Drittes sind, lebender Zauber oder nicht zerstörende, sondern aufbauende Zerstörung der Welt.
Er hat zu viel Geist, er fährt mit seinem Geist wie auf einem Zauberwagen über die Erde, auch dort, wo keine Wege sind. Und kann es von sich selbst nicht erfahren, daß dort keine Wege sind. Dadurch wird seine demütige Bitte um Nachfolge zur Tyrannei und sein ehrlicher Glaube, ›auf dem Wege‹ zu sein, zum Hochmut.
Die besitzlose Arbeiterschaft
Pflichten: Kein Geld, keine Kostbarkeiten besitzen oder annehmen. Nur folgender Besitz ist erlaubt: einfachstes Kleid (im Einzelnen festzusetzen), zur Arbeit Nötiges, Bücher, Lebensmittel für den eigenen Gebrauch. Alles andere gehört den Armen.
Nur durch Arbeit den Lebensunterhalt erwerben. Vor keiner Arbeit sich scheuen, zu welcher die Kräfte ohne Schädigung der Gesundheit hinreichen. Entweder selbst die Arbeit wählen, oder, falls dies nicht möglich, sich der Anordnung des Arbeitsrates fugen, welcher sich der Regierung unterstellt.
Für keinen andern Lohn arbeiten als den Lebensunterhalt (im Einzelnen nach den Gegenden festzusetzen) für zwei Tage.
Mäßigstes Leben. Nur das unbedingt Notwendige essen, zum Beispiel als Minimallöhnung, die in gewissem Sinn auch Maximallöhnung ist: Brot, Wasser, Datteln. Essen der Ärmsten, Lager der Ärmsten.
Das Verhältnis zum Arbeitgeber als Vertrauensverhältnis behandeln, niemals Vermittlung der Gerichte verlangen. Jede übernommene Arbeit zu Ende führen, unter allen Umständen, es wären denn schwere Gesundheitsrücksichten dem entgegen.
Rechte: Maximalarbeitszeit sechs Stunden, für körperliche Arbeit vier bis fünf.
Bei Krankheit und im unfähigen Alter Aufnahme in staatliche Altersheime, Krankenhäuser.
Das Arbeitsleben als eine Angelegenheit des Gewissens und eine Angelegenheit des Glaubens an den Mitmenschen.
Mitgebrachten Besitz dem Staat schenken, zur Errichtung von Krankenhäusern, Heimen.
Vorläufig wenigstens Ausschluß von Selbständigen, Verheirateten und Frauen.
Rat (schwere Pflicht) vermittelt mit der Regierung.
Auch in kapitalistischen Betrieben, (zwei Worte unlesbar). Dort wo man helfen kann, in verlassenen Gegenden, Armenhäusern, (als) Lehrer.
Fünfhundert Männer Höchstgrenze.
Ein Probejahr.
Alles fügte sich ihm zum Bau. Fremde Arbeiter brachten die Marmorsteine, zubehauen und zueinander gehörig. Nach den abmessenden Bewegungen seiner Finger hoben sich die Steine und verschoben sich. Kein Bau entstand jemals so leicht wie dieser Tempel oder vielmehr dieser Tempel entstand nach wahrer Tempelart. Nur daß auf jedem Stein – aus welchem Bruche stammten sie? – unbeholfenes Gekritzel sinnloser Kinderhände oder vielmehr Eintragungen barbarischer Gebirgsbewohner zum Ärger oder zur Schändung oder zu völliger Zerstörung mit offenbar großartig scharfen Instrumenten für eine den Tempel überdauernde Ewigkeit eingeritzt waren.
Bachaufwärts dem wandernden Wasser entgegen. Rutengestrüpp. Des Lehrers auffahrende Stimme. Gemurmel der Kinder. Rot vergehende, sich verlassende, erschauernde Sonne. Zuschlagende Ofentür. Der Kaffee wird gekocht. Aufgelehnt am Tische sitzen wir und warten. Dünne Bäumchen stehen auf der einen Seite des Wegs. März. Was willst du mehr? Wir steigen aus den Gräbern und wollen auch durch diese Welt hinziehn, einen bestimmten Plan haben wir nicht.
Du willst fort von mir? Nun, ein Entschluß, so gut wie ein anderer. Wohin aber willst du? Wo ist das Fort-von-mir? Auf dem Mond? Nicht einmal dort ist es und so weit kommst du gar nicht. Also warum das alles? Willst du dich nicht lieber in den Winkel setzen und still sein? Wäre das nicht etwa besser? Dort in den Winkel, warm und dunkel? Du hörst nicht zu? Tastest nach der Türe. Ja, wo ist denn eine Tür? So weit ich mich erinnere, fehlt sie in diesem Raum. Wer dachte damals, als dieses hier gebaut wurde, an so weltbewegende Pläne, wie es die deinen sind? Nun, es ist nichts verloren, ein solcher Gedanke geht nicht verloren, wir werden ihn durchsprechen in der Tafelrunde, und das Gelächter sei dein Lohn.
Der blasse Mond ging auf, wir ritten durch den Wald.
Poseidon wurde überdrüssig seiner Meere. Der Dreizack entfiel ihm. Still saß er an felsiger Küste und eine von seiner Gegenwart betäubte Möwe zog schwankende Kreise um sein Haupt.
Der wild rollende Wagen.
Ach was wird uns hier bereitet!
Bett und Lager unter Bäumen,
grünes Dunkel, trocknes Laub,
wenig Sonne, feuchter Duft.
Ach was wird uns hier bereitet!
Wohin treibt uns das Verlangen?
Dies erwirken? dies verlieren?
Sinnlos trinken wir die Asche
und ersticken unsern Vater.
Wohin treibt uns das Verlangen?
Wohin treibt uns das Verlangen?
Aus dem Hause treibt es fort.
Es lockte die Flöte, es lockte der frische Bach.
Was geduldig dir erschien,
rauschte durch des Baumes Wipfel
und der Herr des Gartens sprach.
Suche ich in seinen Runen
Wechsels Schauspiel zu erforschen,
Wort und Schwäre.....
Der Graf saß beim Mittagessen, es war ein stiller sommerlicher Mittag. Die Tür öffnete sich, aber diesmal nicht für den Diener, sondern für Bruder Philotas. »Bruder«, sagte der Graf und erhob sich, »wieder seh ich dich, den ich so lange schon nicht mehr im Traume sah.« Eine Scheibe der Glastür, die auf die Terrasse führte, brach in Stücke und ein Vogel, rotbraun wie ein Rebhuhn, aber größer und langschnäblig, flog ins Zimmer. »Warte, den habe ich gleich«, sagte der Bruder, schürzte mit einer Hand die Kutte und haschte mit der andern nach dem Vogel. Gerade kam der Diener herein, mit einer Schüssel schöner Früchte, in die nun der Vogel ruhig, sie in kleinen Kreisen umfliegend, kräftig hackte.
Wie erstarrt hielt der Diener die Schüssel und sah, nicht eigentlich erstaunt, auf die Früchte, den Vogel und den weiter Jagd machenden Bruder. Die andere Tür ging auf und es kamen Dorfbewohner mit einer Petition, sie baten um Freigabe einer Waldstraße, die sie zur bessern Bewirtschaftung ihrer Felder benötigten. Aber sie kamen zu unrechter Zeit, denn der Graf war noch ein kleines Schulkind, saß auf einem Schemel und lernte. Der alte Graf war allerdings schon tot und so hätte der junge regieren sollen, aber so war es nicht, es war eine Pause in der Historie und die Deputation ging daher ins Leere. Wo wird sie enden? Wird sie zurückkommen? Wird sie rechtzeitig erkennen, wie die Dinge stehn? Der Lehrer, der auch teilnahm, tritt schon aus der Gruppe und übernimmt des kleinen Grafen Unterricht. Mit einem Stecken schiebt er alles vom Tisch hinunter, was dort war, zieht ihn mit der Fläche nach vorn als Tafel in die Höhe und schreibt darauf mit einer Kreide die Ziffer I.
Wir tranken, das Kanapee wurde uns zu eng, unaufhörlich drehten sich die Zeiger der Wanduhr in Kreisen. Der Diener sah herein, wir winkten ihm mit erhobenen Händen. Er aber war gefesselt von einer Erscheinung auf dem Sopha beim Fenster. Ein alter Mann in dünnem, schwarzem, seidig glänzendem Kleid erhob sich dort langsam, noch spielten seine Finger an den Seitenlehnen. »Vater«, rief der Sohn, »Emil«, der Alte.
Der Weg zum Nebenmenschen ist für mich sehr lang.
Prag. Die Religionen verlieren sich wie die Menschen.
Kleine Seele,
springst im Tanze,
legst in warme Luft den Kopf,
hebst die Füße aus glänzendem Grase,
das der Wind in harte Bewegung treibt.
Das fünfte Oktavheft
Ich könnte sehr zufrieden sein. Ich bin Beamter beim Magistrat. Wie schön ist es, Beamter beim Magistrat zu sein! Wenig Arbeit, genügender Gehalt, viel freie Zeit, übermäßiges Ansehen überall in der Stadt. Stelle ich mir die Situation eines Magistratsbeamten scharf vor, beneide ich ihn unweigerlich. Und nun bin ich es, bin Magistratsbeamter, – und wollte, wenn ich könnte, diese ganze Würde der Bürokatze zum Auffressen geben, die jeden Vormittag von Zimmer zu Zimmer wandert, um die Reste des Gabelfrühstücks einzusammeln.
Falls ich in nächster Zeit sterben oder gänzlich lebensunfähig werden sollte – diese Möglichkeit ist groß, da ich in den letzten zwei Nächten starken Bluthusten hatte – so darf ich sagen, daß ich mich selbst zerrissen habe. Wenn mein Vater früher in wilden, aber leeren Drohungen zu sagen pflegte: Ich zerreiße dich wie einen Fisch – tatsächlich berührte er mich nicht mit einem Finger –, so verwirklicht sich jetzt die Drohung von ihm unabhängig. Die Welt – F. ist ihr Repräsentant – und mein Ich zerreißen in unlösbarem Widerstreit meinen Körper.
Ich sollte in der großen Stadt studieren. Die Tante erwartete mich auf dem Bahnhof. Einmal als ich mit dem Vater zu Besuch in der Stadt gewesen war, hatte ich sie gesehn. Ich erkannte sie kaum.
Du Rabe, sagte ich, du alter Unglücksrabe, was tust du immerfort auf meinem Weg. Wohin ich gehe, sitzt du und sträubst die paar Federn. Lästig!
Ja, sagte er und ging mit gesenktem Kopf vor mir auf und ab wie ein Lehrer beim Vortrag, es ist richtig; es ist mir selbst schon fast unbehaglich.
Endlich war er in die Stadt gekommen, in der er studieren sollte. Ein Zimmer war gefunden, der Koffer ausgepackt, ein Landsmann, der hier schon längere Zeit wohnte, führte ihn durch die Straßen. Ganz zufällig erhoben sich etwa am Ende einer seitwärts sich öffnenden Straße berühmte, in allen Schulbüchern abgebildete Merkwürdigkeiten. Er schnappte nach Luft bei dem Anblick, der Landsmann winkte nur mit dem Arm hinüber.
Du alter Halunke, wie wäre es, wenn wir hier einmal Ordnung schaffen?
Nein, nein, dagegen würde ich mich sehr wehren. Daran zweifle ich nicht. Trotzdem wirst du beseitigt werden müssen.
Ich werde meine Verwandten holen.
Auch das habe ich erwartet. Auch sie wird man gegen die Wand werfen müssen.
Was immer es auch sei, was mich zwischen den zwei Mühlsteinen, die mich sonst zerreiben, hervorzieht, empfinde ich, vorausgesetzt, daß es nicht allzu großen körperlichen Schmerz mit sich bringt, als Wohltat.
Die kleine Veranda, platt in die Sonne gelegt, das Wehr rauscht friedlich und immerfort.
Nichts hält mich.
Türen und Fenster auf
Terrassen weit und leer
K. war ein großer Taschenspieler. Sein Programm war ein wenig einförmig, aber infolge der Zweifellosigkeit der Leistung immer wieder anziehend. An die Vorstellung, in der ich ihn zum ersten Male sah, erinnere ich mich, trotzdem es schon zwanzig Jahre her ist und ich damals ein ganz kleiner Junge war, natürlich noch ganz genau. Er kam in unser kleines Städtchen ohne vorherige Ankündigung und veranstaltete die Vorstellung gleich abends am Tage seiner Ankunft. Im großen Speisezimmer unteres Hotels war um einen Tisch in der Mitte ein wenig freier Raum gelassen, – das war die ganze theatralische Vorbereitung. Meiner Erinnerung nach war der Saal überfüllt, nun erscheint einem Kind jeder Raum überfüllt, wo einige Lichter brennen, Stimmengewirr von Erwachsenen zu hören ist, ein Kellner hin- und herläuft und dergleichen, ich wußte auch nicht, warum zu dieser offenbar übereilten Vorstellung so viele Leute hätten gekommen sein sollen, immerhin spielt natürlich in meiner Erinnerung diese vermeintliche Überfüllung des Saales bei dem ganzen Eindruck, den ich von der Vorstellung hatte, gewiß entscheidend mit.
Was ich berühre, zerfällt.
Das Trauerjahr war vorüber,
die Flügel der Vögel waren schlaff.
Der Mond entblößte sich in kühlen Nächten,
Mandel und Ölbaum waren längst gereift.
Die Wohltat der Jahre.
Er saß über seinen Rechnungen. Große Kolonnen. Manchmal wandte er sich von ihnen ab und legte das Gesicht in die Hand. Was ergab sich aus den Rechnungen? Trübe, trübe Rechnung.
Gestern war ich zum erstenmal in den Direktionskanzleien. Unsere Nachtschicht hat mich zum Vertrauensmann gewählt, und da die Konstruktion und Füllung unserer Lampen unzulänglich ist, sollte ich dort auf die Abschaffung dieser Mißstände dringen. Man zeigte mir das zuständige Büro, ich klopfte an und trat ein. Ein zarter junger Mann, sehr bleich, lächelte mir von seinem großen Schreibtisch entgegen. Viel, überviel nickte er mit dem Kopf. Ich wußte nicht, ob ich mich setzen sollte, es war dort zwar ein Sessel bereit, aber ich dachte, bei meinem ersten Besuch müsse ich mich vielleicht nicht gleich setzen, und so erzählte ich die Geschichte stehend. Gerade durch diese Bescheidenheit verursachte ich aber dem jungen Mann offenbar Schwierigkeiten, denn er mußte das Gesicht zu mir herum und aufwärts drehen, falls er nicht seinen Sessel umstellen wollte, und das wollte er nicht. Andrerseits aber brachte er auch den Hals trotz aller Bereitwilligkeit nicht ganz herum und blickte deshalb während meiner Erzählung auf halbem Wege schief zur Zimmerdecke hinauf, ich unwillkürlich ihm nach. Als ich fertig war, stand er langsam auf, klopfte mir auf die Schulter, sagte: So, so – so, so, und schob mich in das Nebenzimmer, wo ein Herr mit wild wachsendem großem Bart uns offenbar erwartet hatte, denn auf seinem Tisch war keine Spur irgendeiner Arbeit zu sehn, dagegen führte eine offene Glastür zu einem kleinen Gärtchen mit Blumen und Sträuchern in Fülle. Eine kleine Information, aus ein paar Worten bestehend, von dem jungen Mann ihm zugeflüstert, genügte dem Herrn, um unsere vielfachen Beschwerden zu erfassen. Sofort stand er auf und sagte: Also mein lieber –, er stockte, ich glaubte, er wolle meinen Namen wissen, und ich machte deshalb schon den Mund auf, um mich neuerlich vorzustellen, aber er fuhr mir dazwischen: Ja, ja, es ist gut, es ist gut, ich kenne dich sehr genau – also deine oder eure Bitte ist gewiß berechtigt, ich und die Herren von der Direktion sind gewiß die letzten, die das nicht einsehn würden. Das Wohl der Leute, glaube mir, liegt uns mehr am Herzen als das Wohl des Werkes. Warum auch nicht? Das Werk kann immer wieder neu errichtet werden, es kostet nur Geld, zum Teufel mit dem Geld, geht aber ein Mensch zugrunde, so geht eben ein Mensch zugrunde, es bleibt die Witwe, die Kinder. Ach du liebe Güte! Darum ist also jeder Vorschlag, neue Sicherung, neue Erleichterung, neue Bequemlichkeit und Luxuriositäten einzuführen, uns hochwillkommen. Wer damit kommt, ist unser Mann. Du läßt uns also deine Anregungen hier, wir werden sie genau prüfen, sollte noch irgendeine kleine blendende Neuigkeit angeheftet werden können, werden wir sie gewiß nicht unterschlagen, und sobald alles fertig ist, bekommt ihr die neuen Lampen. Das aber sage deinen Leuten unten: Solange wir nicht aus eurem Stollen einen Salon gemacht haben, werden wir hier nicht ruhen, und wenn ihr nicht schließlich in Lackstiefeln umkommt, dann überhaupt nicht. Und damit schön empfohlen!
Trabe, kleines Pferdchen,
du trägst mich in die Wüste,
alle Städte versinken, die Dörfer und lieblichen Flüsse.
Ehrwürdig die Schulen, leichtfertig die Kneipen,
Mädchengesichter versinken,
verschleppt vorn Sturm des Ostens.
Es war eine sehr große Gesellschaft und ich kannte niemanden. Ich nahm mir deshalb vor, zunächst ganz still zu sein, langsam diejenigen herauszufinden, denen ich mich am besten nähern könnte, und dann mit ihrer Hilfe in die übrige Gesellschaft mich einzufügen. Das einfenstrige Zimmer war klein genug, aber es waren an zwanzig Menschen hier. Ich stand beim offenen Fenster, folgte dem Beispiel der andern, die sich von einem Seitentischchen Zigaretten zu holen pflegten, und rauchte in Ruhe. Leider verstand ich trotz aller Aufmerksamkeit nicht, wovon gesprochen wurde.
Einmal wurde, so schien mir, von einem Mann und einer Frau gesprochen, dann wieder von einer Frau und zwei Männern, da aber immer von den gleichen drei Personen gesprochen wurde, konnte es nur an meiner Schwerfälligkeit liegen, daß ich schon mit den Personen, die zur Debatte standen, nicht zurecht kam, um wieviel weniger natürlich mit der Geschichte dieser Personen. Es war, dies schien mir über allem Zweifel, die Frage aufgeworfen, ob das Verhalten dieser drei Personen oder wenigstens einer dieser drei Personen moralisch zu billigen war oder nicht. Über die Geschichte selbst, die allen bekannt war, wurde im Zusammenhang nicht mehr gesprochen.
Abend am Fluß. Ein Kahn im Wasser. In Wolken untergehende Sonne.
Er fiel vor mir nieder. Ich sage euch, er fiel so nahe vor mir nieder, wie dieser Tisch, an den ich mich drücke, mir nahe ist. »Bist du wahnsinnig?« schrie ich. Es war längst nach Mitternacht, ich kam aus einer Gesellschaft, hatte Lust, noch ein wenig allein zu gehen, und nun war dieser Mann vor mich hingestürzt. Heben konnte ich den Riesen nicht, liegen lassen wollte ich ihn auch nicht in der einsamen Gegend, wo weit und breit niemand zu sehen war.
Träume fluteten über mich hin, ich lag müde und hoffnungslos in meinem Bett.
Ich lag krank. Weil es eine schwere Krankheit war, hatte man die Strohsäcke meiner Zimmergenossen hinausgeschafft und ich war Tage und Nächte allein.
Solange ich gesund gewesen war, hatte sich niemand um mich gekümmert. Das war mir ja im allgemeinen ganz recht, ich will nicht jetzt nachträglich darüber zu klagen anfangen, ich will nur den Unterschied hervorheben: Sobald ich krank wurde, begannen die Krankenbesuche, finden fast ununterbrochen statt und haben bis heute nicht aufgehört.
Hoffnungslos führ in einem kleinen Boot um das Kap der Guten Hoffnung. Es war früh am Morgen, ein kräftiger Wind blies.
Hoffnungslos steckte ein kleines Segel auf und lehnte sich friedlich zurück. Was sollte er fürchten im kleinen Boot, das mit seinem winzigen Tiefgang über alle Riffe dieser gefährlichen Gewässer mit der Gewandtheit eines lebendigen Wesens glitt.
Ich habe drei Hunde: Halt ihn, Faß ihn und Nimmermehr. Halt ihn und Faß ihn sind gewöhnliche kleine Rattler und niemand würde auf sie aufmerksam werden, wenn sie allein wären. Aber da ist noch Nimmermehr. Nimmermehr ist eine Bastarddogge und sieht so aus, wie es wohl bei sorgfältigster jahrhundertelanger Züchtung sich nicht hätte erzielen lassen. Nimmermehr ist ein Zigeuner.
Alle meine freien Stunden – und es sind an sich sehr viele, aber allzu viele muß ich gegen meinen Willen verschlafen, um den Hunger zu vertreiben – verbringe ich mit Nimmermehr. Auf einem Ruhebett à la Madame Recamier. – Wie dieses Möbel in meine Mansarde heraufgekommen ist, weiß ich nicht, vielleicht wollte es in eine Rumpelkammer und blieb, schon zu sehr hergenommen, in meinem Zimmer.
Nimmermehr ist der Meinung, daß es so nicht weiterginge und irgendein Ausweg gefunden werden müsse. Auch ich bin im Grunde dieser Meinung, aber ihm gegenüber tue ich anders. Er läuft im Zimmer auf und ab, springt manchmal auf den Sessel, zerrt mit den Zähnen an dem Wurststückchen, das ich ihm hingelegt habe, schnippt es endlich mit der Pfote mir zu und beginnt wieder seinen Rundlauf.
A. Das, was Sie sich vorgenommen haben ist, von welcher Seite man es auch ansehn mag, ein sehr schwieriges und gefährliches Unternehmen. Allerdings soll man es auch nicht überschätzen, denn es gibt noch schwierigere und gefährlichere. Und vielleicht gerade dort, wo man es nicht vermutet und wo man deshalb ganz harmlos und ungerüstet ans Werk geht. Das ist tatsächlich meine Meinung, womit ich Sie aber natürlich weder von Ihren Plänen abhalten, noch diese Pläne heruntersetzen will. Keineswegs. Ihre Sache erfordert unzweifelhaft viel Kraft und ist des Kraftaufwandes auch wert. Ja fühlen Sie aber eigentlich diese Kraft in sich?
B. Nein. Das darf ich nicht sagen. Ich fühle in mir Leere, aber keine Kraft.
Ich ritt durch das Südtor ein. Gleich am Tor angebaut ist eine große Herberge, dort wollte ich übernachten. Ich führte meinen Maulesel in den Stall, der von Reittieren schon fast überfüllt war, aber ich fand doch noch ein sicheres Plätzchen. Dann stieg ich hinauf in eine der Loggien, breitete meine Decke aus und legte mich schlafen.
Süße Schlange, warum bleibst du so fern, komm näher, noch näher, genug, nicht weiter, dort bleib. Ach für dich gibt es keine Grenzen. Wie soll ich zur Herrschaft über dich kommen, wenn du keine Grenzen anerkennst. Es wird schwere Arbeit sein. Ich beginne damit, daß ich dich bitte, dich zusammenzuringeln. Zusammenringeln sagte ich und du streckst dich. Verstehst du mich denn nicht? Du verstehst mich nicht. Ich rede doch sehr verständlich: Zusammenringeln! Nein, du faßt es nicht. Ich zeige es dir also hier mit dem Stab. Zuerst mußt du einen großen Kreis beschreiben, dann im Innern eng an ihn anschließend einen zweiten und so fort. Hältst du dann schließlich noch das Köpfchen hoch, so senk es langsam nach der Melodie der Flöte, die ich später blasen werde, und verstumme ich, so sei auch du still geworden, mit dem Kopf im innersten Kreis.
Ich wurde zu meinem Pferd geführt, ich war aber noch sehr schwach. Ich sah das schlanke, im Fieber des Lebens zitternde Tier.
»Das ist nicht mein Pferd«, sagte ich, als mir der Knecht des Gasthofs am Morgen ein Pferd vorführte.
»Ihr Pferd war heute nacht das einzige in unserem Stall«, sagte der Knecht und sah mich lächelnd oder, wenn ich es so wollte, trotzig lächelnd an.
»Nein«, sagte ich, »das ist nicht mein Pferd.« Der Fellsack entsank meinen Händen, ich wandte mich und ging in das eben erst verlassene Zimmer hinauf.
Das sechste Oktavheft
Ich hätte mich doch wohl früher darum kümmern sollen, wie es sich mit dieser Treppe verhielt, was für Zusammenhänge hier bestanden, was man hier zu erwarten hatte und wie man es aufnehmen sollte. Du hast ja niemals von dieser Treppe gehört, sagte ich mir zur Entschuldigung, und in den Zeitungen und Büchern wird doch immerfort alles durchgehechelt, was es nur irgendwie gibt. Von dieser Treppe aber war nichts zu lesen. Das mag sein, antwortete ich mir selbst, du wirst eben ungenau gelesen haben. Oft warst du zerstreut, hast Absätze ausgelassen, hast dich sogar mit Überschriften begnügt, vielleicht war dort die Treppe erwähnt und es entging dir so. Und jetzt benötigst du gerade das, was dir entgangen ist. Und ich blieb einen Augenblick stehn und dachte über diesen Einwand nach. Da glaubte ich mich erinnern zu können, einmal in einem Kinderbuch möglicherweise von einer ähnlichen Treppe etwas gelesen zu haben. Es war nicht viel gewesen, wahrscheinlich nur die Erwähnung ihres Vorhandensein, das konnte mir gar nichts nützen.
Als die kleine Maus, die in der Mäusewelt geliebt wie keine andere gewesen war, in einer Nacht unter das Falleisen kam und mit einem Hochschrei ihr Leben hingab für den Anblick des Specks, wurden alle Mäuse der Umgebung in ihren Löchern von einem Zittern und Schütteln befallen, mit unbeherrscht zwinkernden Augen blickten sie einander der Reihe nach an, während ihre Schwänze in sinnlosem Fleiß den Boden scheuerten. Dann kamen sie zögernd, einer den andern stoßend, hervor, alle zog es zu dem Todesort. Dort lag sie, die kleine liebe Maus, das Eisen im Genick, die rosa Beinchen eingedrückt, erstarrt den schwachen Leib, dem ein wenig Speck so sehr zu gönnen gewesen wäre. Die Eltern standen daneben und beäugten die Reste ihres Kindes.
Einmal an einem Winternachmittag nach verschiedenen geschäftlichen Ärgernissen erschien mir mein Geschäft – jeder Kaufmann kennt solche Zeiten – so widerwärtig, daß ich beschloß, für heute sofort Geschäftsschluß zu machen, trotzdem es noch bei hellem Winterlicht und früh bei Tage war. Solche Entschlüsse des freien Willens haben immer gute Folgen...
Kurz nach seinem Regierungsantritt besuchte der junge Fürst, noch bevor er die übliche Amnestie erlassen hatte, ein Gefängnis. Unter anderem fragte er, wie man erwartet hatte, nach demjenigen, welcher am längsten in diesem Gefängnis war. Es war einer, der seine Frau ermordet hatte, zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe verurteilt worden war und nun das dreiundzwanzigste Gefängnisjahr hinter sich hatte. Der Fürst wollte ihn sehn, man führte ihn in die Zelle, vorsichtshalber war der Gefangene für diesen Tag in Ketten gelegt worden.
Als ich abends nach Hause kam, fand ich in der Mitte des Zimmers ein großes, ein übergroßes Ei. Es war fast so hoch wie der Tisch und entsprechend ausgebaucht. Leise schwankte es hin und her. Ich war sehr neugierig, nahm das Ei zwischen die Beine und schnitt es vorsichtig mit dem Taschenmesser entzwei. Es war schon ausgetragen. Zerknitternd fiel die Schale auseinander und hervor sprang ein storchartiger, noch federloser, mit zu kurzen Flügeln die Luft schlagender Vogel. »Was willst du in unserer Welt?« hatte ich Lust zu fragen, hockte mich vor den Vogel nieder und sah ihm in seine ängstlich zwinkernden Augen. Aber er verließ mich und hüpfte die Wände entlang, halb flatternd wie auf wehen Füßen. ›Einer hilft dem andern‹, dachte ich, packte auf dem Tisch mein Abendessen aus und winkte dem Vogel, der drüben gerade seinen Schnabel zwischen meine paar Bücher bohrte. Gleich kam er zu mir, setzte sich, offenbar schon ein wenig eingewöhnt, auf einen Stuhl, mit pfeifendem Atem begann er die Wurstschnitte, die ich vor ihn gelegt hatte, zu beschnuppern, spießte sie aber lediglich auf und warf sie nur wieder hin. ›Ein Fehler‹, dachte ich, ›natürlich, man springt nicht aus dem Ei, um gleich mit Wurstessen anzufangen. Hier wäre Frauenerfahrung nötig.‹ Und ich sah ihn scharf an, ob ihm vielleicht seine Essenswünsche von außen abzulesen wären. ›Kommt er‹, fiel mir dann ein, ›aus der Familie der Störche, dann werden ihm gewiß Fische lieb sein. Nun, ich bin bereit, sogar Fische ihm zu verschaffen. Allerdings nicht umsonst. Meine Mittel erlauben mir nicht, mir einen Hausvogel zu halten. Bringe ich also solche Opfer, will ich einen gleichwertigen lebenerhaltenden Lebensdienst. Er ist ein Storch, möge er mich also, bis er ausgewachsen und von meinen Fischen gemästet ist, mit in die südlichen Länder nehmen. Längst schon verlangt es mich, dorthin zu reisen, und nur mangels Storchflügel habe ich es bisher unterlassen. Sofort holte ich Papier und Tinte, tauchte des Vogels Schnabel ein und schrieb, ohne daß mir vom Vogel irgendein Widerstand entgegengesetzt worden wäre, folgendes: ›Ich, storchartiger Vogel, verpflichte mich für den Fall, daß du mich mit Fischen, Fröschen und Würmern (diese zwei letzten Lebensmittel fügte ich der Billigkeit halber hinzu) bis zum Flüggewerden nährst, Dich auf meinem Rücken in die südlichen Länder zu tragen.‹ Dann wischte ich den Schnabel rein und hielt dem Vogel nochmals das Papier vor Augen, ehe ich es zusammenfaltete und in meine Brieftasche legte. Dann aber lief ich gleich um Fische; diesmal mußte ich sie teuer bezahlen, doch versprach mir der Händler, nächstens immer verdorbene Fische und reichlich Würmer für billigen Preis bereitzustellen. Vielleicht würde die südliche Fahrt nicht gar zu teuer werden. Und es freute mich zu sehn, wie das Mitgebrachte dem Vogel schmeckte. Glucksend wurden die Fische hinabgeschluckt und füllten das rötliche Bäuchlein. Tag für Tag, unvergleichlich mit Menschenkindern, machte der Vogel Fortschritte in seiner Entwicklung. Zwar verließ der unerträgliche Gestank der faulen Fische nicht mehr mein Zimmer und nicht leicht war es, den Unrat des Vogels immer aufzufinden und zu beseitigen, auch verbot die Winterkälte und die Kohlenteuerung die außerordentlich nötige Lüftung, – was tat es, kam das Frühjahr, schwamm ich in leichten Lüften dem strahlenden Süden zu. Die Flügel wuchsen, bedeckten sich mit Federn, die Muskeln erstarkten, es war Zeit, mit den Flugübungen zu beginnen. Leider war keine Storchmutter da, wäre der Vogel nicht so willig gewesen, mein Unterricht hätte wohl nicht genügt. Aber offenbar sah er ein, daß er durch peinliche Aufmerksamkeit und größte Anstrengung die Mängel meiner Lehrbefähigung ausgleichen müsse. Wir begannen mit dem Segelflug. Ich stieg hinauf, er folgte, ich sprang mit ausgebreiteten Armen hinab, er flatterte hinterher. Später gingen wir zum Tisch über und zuletzt zum Schrank, immer aber wurden alle Flüge systematisch vielmal wiederholt.
Der Quälgeist
Der Quälgeist wohnt im Walde. In einer längst verlassenen Hütte aus alten Köhlerzeiten. Tritt man ein, merkt man nur einen unaustreibbaren Modergeruch, sonst nichts. Kleiner als die kleinste Maus, unsichtbar selbst einem nahegebrachten Auge, drückt sich der Quälgeist in einen Winkel. Nichts, gar nichts ist zu merken, ruhig rauscht durch das leere Fensterloch der Wald. Wie einsam ist es hier und wie kommt dir das gelegen. Hier im Winkel wirst du schlafen. Warum nicht im Wald, wo frei die Luft geht? Weil du nun schon hier bist, gesichert in einer Hütte, trotzdem die Tür längst aus den Angeln gebrochen und vertragen ist. Du aber tastest noch in die Luft, als wolltest du die Tür zuziehen, dann legst du dich nieder.
Endlich sprang ich vom Tische auf und zerschlug die Lampe mit einem Faustschlag. Sofort trat ein Diener mit einer Laterne ein, verbeugte sich und hielt für mich die Tür offen. Ich eilte aus meinem Zimmer die Treppe hinab, der Diener hinter mir. Unten legte mir ein zweiter Diener einen Pelz um; da ich es wie kraftlos geschehen ließ, tat er noch ein übriges, schlug mir den Pelzkragen hoch und knüpfte ihn mir vorn am Halse zu. Es war nötig, die Kälte war mörderisch. Ich stieg in den wartenden geräumigen Schlitten, wurde warm unter vielen Decken geborgen und mit hellem Klingeln begann die Fahrt. »Friedrich«, hört ich aus der Ecke flüstern. »Du bist hier, Alma«, sagte ich und reichte ihr die dick behandschuhte Rechte. Noch einige Worte der Befriedigung über das Zusammentreffen, dann verstummten wir, denn die rasende Fahrt verschlug den Atem. Ich hatte im Hindämmern schon meine Nachbarin vergessen, als wir vor einem Wirtshaus hielten. Vor dem Wagenschlag stand der Wirt, ihm zu Seiten meine Diener, alle mit gestreckten Hälsen bereit, irgendwelche Befehle von mir entgegenzunehmen. Ich aber beugte mich hervor und rief nur: »Warum steht ihr hier, weiter, weiter, kein Aufenthalt!« Und mit einem Stock, den ich neben mir fand, stieß ich den Kutscher.
Das siebente Oktavheft
Unverbrüchlicher Traum. Sie lief die Landstraße entlang, ich sah sie nicht, ich merkte nur, wie sie sich im Laufen schwang, wie ihr Schleier flog, wie ihr Fuß sich hob, ich saß am Feldrand und blickte in das Wasser des kleinen Baches. Sie durchlief die Dörfer, Kinder standen in den Türen, sahen ihr entgegen und sahen ihr nach.
Zerrissener Traum. Die Laune eines früheren Fürsten verfügte, das Mausoleum müsse unmittelbar bei den Sarkophagen einen Wächter haben. Vernünftige Männer hatten sich dagegen ausgesprochen, schließlich ließ man den sonst vielfach beengten Fürsten in dieser Kleinigkeit gewähren. Ein Invalide aus einem Krieg des vorigen Jahrhunderts, Witwer und Vater dreier Söhne, die im letzten Krieg gefallen waren, meldete sich für diesen Posten. Er wurde angenommen und von einem alten Hofbeamten in das Mausoleum begleitet. Eine Waschfrau folgte ihnen, beladen mit verschiedenen Dingen, welche für den Wächter bestimmt waren. Bis zur Allee, welche dann geradeaus zum Mausoleum führte, hielt der Invalide trotz seiner Stelze mit dem Hofbeamten gleichen Schritt. Dann aber versagte er ein wenig, hüstelte und begann, sein linkes Bein zu reiben. »Nun Friedrich«, sagte der Hofbeamte, der mit der Waschfrau ein Stück vorausgegangen war und sich nun umsah. »Mich reißt es im Bein«, sagte der Invalide und machte eine Fratze, »nur einen Augenblick Geduld, das pflegt gleich aufzuhören.«
Erzählung des Großvaters
Ich war zu den Zeiten des seligen Fürsten Leo V. Wächter des Mausoleums im Friedrichspark. Natürlich bin ich nicht gleich Mausoleumswächter geworden. Noch ganz genau erinnere ich mich, wie ich als Laufbursche der fürstlichen Meierei zum erstenmal die Milch am Abend zur Mausoleumswache tragen sollte. ›Oh‹, dachte ich, ›zur Mausoleumswache.‹ Weiß denn jemand genau, was Mausoleum ist? Ich war Mausoleumswächter und sollte es also wissen, aber eigentlich weiß ich es nicht. Und ihr, die ihr meine Geschichte hört, werdet am Schluß erkennen, daß ihr, selbst wenn ihr zu wissen glaubtet, was Mausoleum ist, gestehen müßt, ihr, ihr wüßtet es nicht mehr. Damals aber kümmerte ich mich darum noch wenig, sondern war nur ganz allgemein stolz darauf, zur Mausoleumswache geschickt worden zu sein. Und so galoppierte ich gleich mit meinem Milcheimer durch die Nebel der Wiesenwege, die zum Friedrichspark führten. Vor dem goldenen Gittertor staubte ich meine Jacke ab, reinigte die Stiefel, wischte die Feuchtigkeit vom Eimer, läutete dann und lauerte, die Stirn an den Gitterstäben, darauf, was jetzt geschehen werde. Zwischen Gesträuch auf einer kleinen Anhöhe schien das Wächterhaus zu sein, ein Licht kam aus einem sich öffnenden Türchen und ein ganz altes Frauenzimmer öffnete das Tor, nachdem ich mich gemeldet und zum Beweis der Wahrheit den Eimer gezeigt hatte. Ich mußte dann vorausgehn, aber genau so langsam wie die Frau, es war sehr unbehaglich, denn sie hielt mich hinten fest und blieb auf dem kurzen Weg zweimal stehn, um Atem zu holen. Oben auf einer Steinbank neben der Tür saß ein riesiger Mann, die Beine übereinandergeschlagen, die Hände vor der Brust gekreuzt, den Kopf zurückgelehnt und hielt den Blick auf das knapp vor ihm stehende Buschwerk, das ihm jede Aussicht benahm, gerichtet. Ich sah unwillkürlich fragend die Frau an. »Das ist der Mameluck«, sagte sie, »weißt du es nicht?« Ich schüttelte den Kopf, staunte den Mann noch einmal an, besonders seine hohe Mütze aus Krimmerpelz, dann aber wurde ich von der Alten ins Haus gezogen. In einer kleinen Stube saß bei einem sehr ordentlich mit Büchern bedeckten Tisch ein alter bärtiger Herr im Schlafrock und sah unter der Glocke der Stehlampe hinweg nach mir hin. Ich glaubte natürlich, nicht richtig gegangen zu sein, und drehte mich um, wollte wieder aus der Stube hinaus, aber die Alte versperrte mir den Weg und sagte zum Herrn: »Der neue Milchjunge.« »Komm her, du kleine Krabbe«, sagte der Herr und lachte. Ich saß dann auf einem kleinen Bänkchen bei seinem Tisch und er brachte sein Gesicht ganz nahe an meines. Leider war ich infolge der freundlichen Behandlung etwas vorlaut geworden.
Auf dem Dachboden
Die Kinder hatten ein Geheimnis. Auf dem Dachboden, in einem tiefen Winkel inmitten des Gerümpels eines ganzen Jahrhunderts, wohin kein Erwachsener mehr sich hin tasten konnte, hatte Hans, der Sohn des Advokaten, einen fremden Mann entdeckt. Er saß auf einer Kiste, die, der Länge nach aufgestellt, an der Wand lehnte. Sein Gesicht zeigte, als er Hans erblickte, weder Schrecken noch Staunen, sondern nur Stumpfheit, mit klaren Augen beantwortete er Hansens Blick. Eine große runde Mütze aus Krimmerpelz saß tief auf seinem Kopf. Ein starker Schnurrbart breitete sich steif aus. Gekleidet war er in einen weiten braunen Mantel, den ein mächtiges Riemenzeug, es erinnerte an das Geschirr eines Pferdes, zusammenhielt. Auf dem Schoß lag ein gebogener kurzer Säbel in mattleuchtender Scheide. Die Füße staken in gespornten Schaftstiefeln, ein Fuß war auf eine umgestürzte Weinflasche gestellt, der andere auf dem Boden war etwas aufgerichtet und mit Ferse und Sporn ins Holz gerammt. »Weg«, schrie Hans, als der Mann mit langsamer Hand nach ihm greifen wollte, lief weit in die neuern Teile des Dachbodens und blieb erst stehn, als ihm die dort zum Trocknen aufgehängte Wäsche naß ins Gesicht klatschte. Dann aber kehrte er doch gleich wieder zurück. Mit gewissermaßen verächtlich aufgestülpter Unterlippe saß der Fremde dort und rührte sich nicht. Hans prüfte durch vorsichtiges Heranschleichen, ob diese Bewegungslosigkeit nicht Hinterlist sei. Aber der Fremde schien wirklich nichts Böses zu beabsichtigen, ganz schlaff saß er da, vor lauter Schlaffheit nickte sein Kopf kaum merklich. So wagte es Hans, einen alten durchlöcherten Ofenschirm, der ihn noch von dem Fremden trennte, wegzuschieben, ganz nahe heranzutreten und schließlich sogar ihn zu berühren. »So staubig bist du!« sagte er staunend und zog seine geschwärzte Hand zurück. »Ja, staubig«, sagte der Fremde, sonst nichts. Es war eine so ungewöhnliche Aussprache, erst im Nachklang verstand Hans die Worte. »Ich bin Hans«, sagte er, »der Sohn des Advokaten und wer bist du?« »So«, sagte der Fremde, »ich bin auch ein Hans, heiße Hans Schlag, bin badischer Jäger und stamme von Koßgarten am Neckar. Alte Geschichten.« »Jäger bist du? Du gehst auf die Jagd?« fragte Hans. »Ach, du bist noch ein kleiner Junge«, sagte der Fremde, »und warum reißt du den Mund so auf, wenn du sprichst?« Diesen Fehler pflegte auch der Advokat auszusetzen, aber beim Jäger, den man kaum verstand und dem das Mundaufreißen sehr zu empfehlen gewesen wäre, war dieser Tadel gewiß nicht angebracht.
Der Unfrieden, der zwischen Hans und seinem Vater seit jeher bestand, war nach dem Tode der Mutter zu derartigem Ausbruch gekommen, daß Hans aus dem Geschäft des Vaters austrat, ins Ausland fuhr, einen kleinen Posten, der sich ihm dort zufällig darbot, sofort wie geistesabwesend annahm und jeder Verbindung mit dem Vater, sei es durch Briefe, sei es durch Bekannte, mit solchem Erfolg auswich, daß er von dem Tode des Vaters, der etwa zwei Jahre nach seiner Abreise durch Herzschlag erfolgte, erst durch den Brief des Advokaten erfuhr, der ihn zu seinem Testamentsvollstrecker bestimmt hatte. Hans stand gerade hinter dem Ladenfenster des Tuchgeschäftes, in welchem er als Handlungsgehilfe angestellt war, und blickte in den Regen auf den Ringplatz des kleinen Landstädtchens hinaus, als von der Kirche her der Briefträger herüberkam. Er übergab der Chefin, der schwerbeweglichen, ewig unzufriedenen, die in der Tiefe auf einem hohen Polsterstuhl saß, den Brief und ging. Das schwach abklingende Läuten des Türglöckchens fiel Hans irgendwie auf, er blickte hin und sah dann auch, wie die Chefin ihr bärtiges, von schwarzen Tüchern umbundenes Gesicht ganz nahe an den Briefumschlag brachte. Immer schien es Hans bei solchen Gelegenheiten, als müsse ihr gleich die Zunge herausrollen und nun würde sie, statt zu lesen, hundeartig zu lecken anfangen. Schwach läutete das Türglöckchen nach und die Chefin sagte: »Hier ist ein Brief für Sie gekommen.« »Nein«, sagte Hans und rührte sich nicht vom Fenster weg. »Sie sind ein eigentümlicher Mensch, Hans«, sagte die Frau, »hier steht doch deutlich Ihr Name.« Es hieß darin, daß Hans zwar zum einzigen Erben bestimmt worden war, aber die Hinterlassenschaft war mit Schulden und Legaten so überlastet, daß für ihn, wie er schon nach oberflächlicher Schätzung merkte, kaum mehr zu erübrigen war als das elterliche Wohnhaus. Das war nicht viel: ein alter einfacher einstöckiger Bau, aber Hans hing sehr an dem Haus, auch hielt ihn nach dem Tode des Vaters hier in der Fremde nichts mehr, dagegen erforderte die Abwicklung der Hinterlassenschaftsgeschäfte seine Anwesenheit dringend, er löste deshalb sofort seine Verpflichtungen, was nicht schwer war, und fuhr nach Hause.
Es war spät an einem Dezemberabend, alles lag im Schnee, als Hans bei dem Elternhaus vorfuhr. Der Hausmeister, der ihn erwartet hatte, trat, von seiner Tochter gestützt, aus dem Tor, es war ein gebrechlicher Greis, der schon Hansens Großvater gedient hatte. Man begrüßte einander, allerdings nicht sehr herzlich, denn Hans hatte im Hausmeister immer nur einen einfältigen Tyrannen seiner Kinderjahre gesehn und die Demut, mit der er sich ihm jetzt näherte, war ihm peinlich. Trotzdem sagte er der Tochter, die ihm über die steile enge Treppe das Gepäck nachtrug, in ihres Vaters Einkommen werde sich ohne Rücksicht auf das Legat, das er erhalten habe, nicht das Geringste ändern. Die Tochter dankte unter Tränen und gestand, daß damit die Hauptsorge ihres Vaters beseitigt sei, die ihn seit dem Tode des seligen Herrn kaum habe schlafen lassen. Dieser Dank brachte Hans erst zum Bewußtsein, was für Unannehmlichkeiten aus der Erbschaft für ihn entstanden und weiter noch entstehen könnten. Um so mehr freute er sich auf das Alleinsein in seiner alten Stube und im Vorgefühl dessen streichelte er sanft den Kater, der als erste ungetrübte Erinnerung aus vergangenen Zeiten in seiner ganzen Größe an ihm vorüberhuschte. Nun wurde aber Hans nicht in sein Zimmer geführt, das nach seiner brieflichen Anordnung für ihn hätte vorbereitet werden sollen, sondern in das frühere Schlafzimmer des Vaters. Er fragte, warum das geschehen sei. Das Mädchen, noch schweratmend vom Tragen der Last, stand ihm gegenüber, sie war groß und kräftig geworden in den zwei Jahren und auffallend klar war ihr Blick. Sie bat um Entschuldigung. In Hansens Zimmer sei nämlich sein Onkel Theodor eingerichtet und man habe den alten Herrn nicht stören wollen, besonders da doch dieses Zimmer größer und auch behaglicher sei. – Die Nachricht, daß Onkel Theodor hier im Hause wohnte, war für Hans neu.
Das achte Oktavheft
Ich bin gewohnt, in allem meinem Kutscher zu vertrauen. Als wir an eine hohe weiße seitwärts und oben sich langsam wölbende Mauer kamen, die Vorwärtsfahrt einstellten, die Mauer entlang fahrend, sie betasteten, sagte schließlich der Kutscher: »Es ist eine Stirn.«
Wir hatten einen kleinen Fischfang eingerichtet, eine Hütte am Meer gezimmert.
Fremde Leute erkennen mich. Letzthin konnte ich mich auf einer kleinen Reise mit meiner Handtasche kaum durch den Gang eines überfüllten Waggons drängen. Da rief mich aus dem Halbdunkel eines Abteils ein mir offenbar ganz Fremder an und bot mir seinen Platz an.
Arbeit als Freude, unzugänglich den Psychologen.
Übelkeit nach zuviel Psychologie. Wenn einer gute Beine hat und an die Psychologie herangelassen wird, kann er in kurzer Zeit und in beliebigem Zickzack Strecken zurücklegen, wie auf keinem andern Feld. Da gehen einem die Augen über.
Ich stehe auf einem wüsten Stück Boden. Warum ich nicht in ein besseres Land gestellt worden bin, weiß ich nicht. Bin ichs nicht wert? Das darf man nicht sagen. Reicher als ich kann nirgends ein Strauch aufgehn.
Vom jüdischen Theater
Mit Ziffern und mit Statistiken werde ich mich im Folgenden nicht abgeben; die überlasse ich den Geschichtsschreibern des jüdischen Theaters. Meine Absicht ist ganz einfach: einige Blätter Erinnerungen an das jüdische Theater mit seinen Dramen, seinen Schauspielern, seinem Publikum, so wie ich das alles in mehr als zehn Jahren gesehen, gelernt und mitgemacht habe, hier vorzulegen oder, anders gesagt, den Vorhang zu heben und die Wunde zu zeigen. Nur nach Erkenntnis der Krankheit läßt sich ein Heilmittel finden und möglicherweise das wahre jüdische Theater schaffen.
I
Für meine frommen chassidischen Eltern in Warschau war natürlich das Theater ›trefe‹, nicht anders als ›chaser‹. Nur zu Purim gab es ein Theater, denn dann klebte Vetter Chaskel einen großen schwarzen Bart auf sein kleines blondes Bärtchen, zog den Kaftan verkehrt an und spielte einen lustigen Handelsjuden – meine kleinen Kinderaugen haben sich von ihm nicht wenden können. Von allen Vettern war er mir der liebste, sein Beispiel ließ mir keine Ruhe und, kaum acht Jahre alt, habe ich schon im Cheder wie Vetter Chaskel gespielt. War der Rebbe fort, dann war im Cheder regelmäßig Theater, ich war Direktor, Regisseur, kurz alles, auch die Prügel, die ich dann vom Rebbe bekam, waren die größten. Aber das störte uns nicht; der Rebbe hat geprügelt, wir aber haben doch jeden Tag andere Theaterspiele ausgedacht. Und das ganze Jahr war nur ein Hoffen und Beten: Purim möge kommen und ich soll wieder zusehn dürfen, wie Vetter Chaskel sich maskiert. Daß ich dann, sobald ich erwachsen bin, auch jeden Purim mich maskieren und singen und tanzen werde, wie Vetter Chaskel – das stand bei mir fest.
Daß man sich aber auch außer Purim maskiert und daß es noch viele Künstler wie Vetter Chaskel gibt, davon allerdings ahnte ich nichts. Bis ich einmal von Isruel Feldschers Buben hörte, daß es wirklich Theater gibt, wo man spielt und singt und sich maskiert und jeden Abend, nicht nur Purim, und daß es auch in Warschau solche Theater gibt und daß sein Vater ihn schon einigemal ins Theater mitgenommen hat. Diese Neuigkeit hat mich – ich war damals ungefähr zehn Jahre alt – geradezu elektrisiert. Ein heimliches nie geahntes Verlangen ergriff mich. Ich zählte die Tage, die noch vergehen mußten, bis ich erwachsen war und endlich selbst das Theater sehen durfte. Damals wußte ich noch nicht einmal, daß das Theater eine verbotene und sündhafte Sache ist. Bald erfuhr ich, daß sich gegenüber dem Rathaus das ›Große Theater‹ befindet, das beste, das schönste von ganz Warschau, ja von der ganzen Welt. Von da an hat mich schon der äußerliche Anblick des Gebäudes, wenn ich dort vorüberging, förmlich geblendet. Als ich mich aber einmal zu Hause erkundigte, wann wir endlich ins Große Theater gehen werden, hat man mich angeschrien: ein jüdisches Kind darf vom Theater nichts wissen; das ist nicht erlaubt; das Theater ist nur für die Gojim und für die Sünder da. Diese Antwort genügte mir, ich fragte nicht weiter, aber Ruhe gab es mir nicht mehr, und ich fürchtete sehr, daß ich diese Sünde gewiß einmal begehn und, wenn ich älter sein werde, doch ins Theater werde gehen müssen.
Als ich einmal am Abend nach Jom Kippur mit zwei Vettern am Großen Theater vorbeifuhr, auf der Theaterstraße viele Leute waren und ich von dem ›unreinen‹ Theater gar nicht wegsehn konnte, fragte mich Vetter Majer: »Wolltest du auch dort oben sein?« Ich schwieg. Mein Schweigen gefiel ihm wahrscheinlich nicht und er fügte deshalb hinzu: »Jetzt, Kind, ist kein einziger Jud dort – bewahre der Himmel! Abend gleich nach Jom Kippur geht selbst der schlimmste Jud nicht ins Theater.« Dem entnahm ich aber nichts anderes, als daß zwar nach dem Ausgang des heiligen Jom Kippur kein Jude ins Theater geht, daß aber an den gewöhnlichen Abenden das ganze Jahr hindurch wohl viele Juden hingehn. In meinem vierzehnten Lebensjahr war ich zum erstenmal im Großen Theater. So wenig ich auch von der Landessprache gelernt hatte, so konnte ich doch schon die Plakate lesen und da las ich eines Tages, daß die Hugenotten gespielt werden. Von Hugenotten hatte man schon in der ›Klaus‹ gesprochen, auch war das Stück von einem Juden ›Meier Beer‹ – und so gab ich mir selbst die Erlaubnis, kaufte eine Karte und am Abend war ich zum erstenmal im Leben im Theater.
Was ich damals sah und fühlte, gehört nicht hierher, nur das eine: daß ich zur Überzeugung kam, man singe dort besser als Vetter Chaskel und maskiere sich auch viel schöner als er. Und noch eine Überraschung brachte ich mit: die Ballettmusik der Hugenotten hatte ich ja schon längst gekannt, die Melodien sang man ja in der ›Klaus‹ Freitag abends zum Lecho Dodi. Und ich konnte mir damals nicht erklären, wie es möglich sei, daß man im Großen Theater das spiele, was man in der ›Klaus‹ schon so lange singt. Von damals an wurde ich in der Oper ein häufiger Gast. Nur durfte ich nicht vergessen, zu jeder Vorstellung einen Kragen und ein Paar Manschetten zu kaufen und sie auf dem Nachhauseweg in die Weichsel zu werfen. Meine Eltern durften solche Dinge nicht sehen. Während ich mich an ›Wilhelm Tell‹ und ›Aida‹ sättigte, waren meine Eltern im sichern Glauben, ich säße in der ›Klaus‹ über den Talmudfolianten und studiere die heilige Schrift.
II
Einige Zeit nachher erfuhr ich, daß es auch ein jüdisches Theater gibt. Wie gern ich aber auch hingegangen wäre, ich getraute mich nicht, denn es hätte meinen Eltern allzu leicht verraten werden können. Ins Große Theater zur Oper dagegen ging ich häufig und später auch in das polnische dramatische Theater. In letzterem habe ich zum erstenmal die ›Räuber‹ gesehn. Sehr überrascht hat es mich, daß man auch so schön Theater spielen kann ohne Gesang und Musik – das hätte ich nie gedacht – und merkwürdigerweise war ich dem Franz nicht böse, vielmehr hat er den größten Eindruck auf mich gemacht, ihn hätte ich gern gespielt, nicht den Karl.
Von den Kameraden in der ›Klaus‹ war ich der einzige, der es gewagt hat, ins Theater zu gehn. Im übrigen aber haben wir Burschen in der ›Klaus‹ uns schon mit allen, aufgeklärten Büchern gefüttert, damals las ich zum erstenmal Shakespeare, Schiller, Lord Byron. Von der jiddischen Literatur kamen mir allerdings nur die großen Kriminalromane in die Hand, die uns Amerika in einer halb deutschen, halb jiddischen Sprache lieferte. Eine kurze Zeit verstrich, mir gabs keine Ruhe: ein jüdisches Theater in Warschau, und ich soll es nicht sehn? Und ich habe es riskiert, alles auf die Karte gesetzt und ich bin ins jüdische Theater gegangen.
Das hat mich ganz umgewandelt. Schon vor Beginn des Spiels habe ich mich ganz anders gefühlt als bei ›jenen‹. Vor allem keine Herren in Frack, keine Damen im Decollete, kein Polnisch, kein Russisch, nur Juden aller Art, langgekleidete, kurzgekleidete, Frauen und Mädchen, bürgerlich angezogen. Und man sprach laut und ungeniert in der Muttersprache, ich bin niemandem aufgefallen mit meinem langen Kaftänchen und mußte mich gar nicht schämen.
Gespielt hat man ein komisches Drama mit Gesang und Tanz in sechs Akten und zehn Bildern: Bal-Tschuwe von Schumor. Angefangen hat man nicht so pünktlich um acht Uhr wie im polnischen Theater, sondern erst gegen zehn Uhr und geendet erst spät nach Mitternacht. Der Liebhaber und der Intrigant haben ›hoch-deutsch‹ gesprochen und ich habe gestaunt, daß ich auf einmal – ohne von der deutschen Sprache eine Ahnung zu haben – so vortreffliches Deutsch so gut verstehen konnte. Nur der Komiker und die Soubrette haben jiddisch gesprochen. Im allgemeinen hat es mir besser gefallen als die Oper, das dramatische Theater und die Operette zusammengenommen. Denn erstens war es doch jiddisch, deutsch-jiddisch zwar, aber doch jiddisch, ein besseres, schöneres Jiddisch, und zweitens war doch hier alles beisammen: Drama, Tragödie, Gesang, Komödie, Tanz, alles beisammen, das Leben! Die ganze Nacht habe ich vor Aufregung nicht geschlafen, das Herz sagte mir, daß auch ich einst im Tempel der jüdischen Kunst dienen, daß ich ein jüdischer Schauspieler werden soll.
Nächsten Tag aber nachmittags schickte der Vater die Kinder ins Nebenzimmer, nur die Mutter und mich hieß er bleiben. Instinktiv fühlte ich, daß hier eine ›Kasche‹ für mich gekocht wird. Der Vater sitzt nicht mehr; immer nur geht er im Zimmer auf und ab; die Hand am kleinen schwarzen Bart spricht er, nicht zu mir, sondern nur zur Mutter: »Du sollst wissen: er wird von Tag zu Tag schlimmer, gestern hat man ihn im jüdischen Theater gesehn.« Die Mutter faltet erschrocken die Hände, der Vater, ganz bleich, geht fortwährend im Zimmer auf und ab, mir krampft sich das Herz, wie ein Verurteilter sitze ich, ich kann den Schmerz meiner treuen frommen Eltern nicht ansehn. Ich kann mich heute nicht mehr erinnern, was ich damals sagte, nur das weiß ich, daß nach einigen Minuten gedrückten Schweigens der Vater seine großen schwarzen Augen auf mich gerichtet und gesagt hat: »Mein Kind, gedenk, das wird dich weit, sehr weit führen« – und er hat recht gehabt.
Schließlich war nur noch einer außer mir im Wirtshaus geblieben. Der Wirt wollte schließen und bat mich zu zahlen. »Dort sitzt noch einer«, sagte ich mürrisch, weil ich einsah, daß es Zeit wäre zu gehn, aber keine Lust hatte, weg- oder überhaupt irgendwo hinzugehn. »Das ist die Schwierigkeit«, sagte der Wirt, »ich kann mich mit dem Mann nicht verständigen. Wollt Ihr mir helfen?« »Hallo«, rief ich zwischen den hohlen Händen durch, aber der Mann rührte sich nicht, sondern sah still wie bisher von der Seite in sein Bierglas.
Es war schon spät nachts, als ich am Tore läutete. Lange dauerte es, ehe, offenbar aus der Tiefe des Hofs, der Kastellan hervorkam und öffnete.
»Der Herr läßt bitten«, sagte der Diener, sich verbeugend und öffnete mit geräuschlosem Ruck die hohe Glastür. Der Graf in halb fliegendem Schritt eilte mir von seinem Schreibtisch, der beim offenen Fenster stand, entgegen. Wir sahen einander in die Augen, der starre Blick des Grafen befremdete mich.
Vor einer Mauer lag ich am Boden, wand mich vor Schmerz, wollte mich einwühlen in die feuchte Erde. Der Jäger stand neben mir und drückte mir einen Fuß leicht ins Kreuz. »Ein kapitales Stück«, sagte er zum Treiber, der mir den Kragen und Rock durchschnitt, um mich zu befühlen. Meiner schon müde und nach neuen Taten begierig, rannten die Hunde sinnlos gegen die Mauer an. Der Kutschwagen kam, an Händen und Beinen gefesselt wurde ich neben den Herrn über den Rücksitz geworfen, so daß ich mit Kopf und Armen außerhalb des Wagens niederhing. Die Fahrt ging flott, verdurstend mit offenem Mund sog ich den hochgewirbelten Staub in mich, hie und da spürte ich den freudigen Griff des Herrn an meinen Waden.
Was trag ich auf meinen Schultern? Was für Gespenster umhängen mich?
Es war ein stürmischer Abend, ich sah den kleinen Geist aus dem Gebüsche kriechen.
Das Tor fiel zu, ich stand ihm Aug in Auge.
Es zersprang die Lampe, ein fremder Mann mit neuem Licht trat ein, ich erhob mich, meine Familie mit mir, wir grüßten, es wurde nicht beachtet.
Die Räuber hatten mich gefesselt und da lag ich nahe beim Feuer des Hauptmanns.
Öde Felder, öde Fläche, hinter Nebeln das bleiche Grün des Mondes.
Er verläßt das Haus, er findet sich auf der Straße, ein Pferd wartet, ein Diener hält den Bügel, der Ritt geht durch hallende Öde.
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