Friedrich Wilhelm Hackländer
Der Augenblick des Glücks
Kapitel 3
eingestellt: 15.7.2007
»Alteriere dich nicht so entsetzlich,« sprach begütigend der Ordonnanzoffizier. indem er ebenfalls aufstand. »Das ist für einen oder zwei Tage. Du kennst meine Freundschaft für dich. Ich glaube, daß ich mir selbst erlauben darf, den Regenten morgen, übermorgen an dich zu erinnern.«
»So hoch steht du in Gunst?« sagte Baron wenden.
»Es wäre möglich,« entgegnete Herr
von Fernow.
»In der That, dann hast du gut zugegriffen,« rief Baron Wenden in gerade nicht freundschaftlichem Tone. »Aber thu mir die Liebe und laß mich jetzt allein. Ich bin zu aufgeregt, zu außer mir, selbst für deine Gesellschaft.«
»Ein Philosoph wie du!« sagte der andere. »Was kümmert dich eine vorüberziehende Wolke am Hofhimmel! Hat sich doch deine Theorie glänzend bewährt.«
»Zum
Teufel mit meiner Theorie! Sie hat mich ins Gesicht geschlagen, diese Theorie. Ich glaubte, den Augenblick des Glückes zu erfassen - es war der Augenblick des Unglücks. - Gute Nacht!«
»Gute Nacht denn. Ich werde morgen nach dir sehen!« Damit trennten sich die Freunde, und während der eine von finsteren Gedanken bewegt, hastig im Zimmer auf und ab schritt, trat der andere glücklich, selig vor das Haus, und als er an den klaren Nachthimmel
hinaufblickte, dachte er an den leisen Druck ihrer Hand, der lauter zu seinem Herzen gesprochen, als tausend Worte es vermocht, und sprach mit einem innigen, herzlichen Gedanken an sie: »Das war der Augenblick des Glücks!«
Achtes Kapitel.
Ein photographisches Atelier.
Wenn ich mir erlaube, dem geneigten Leser zu sagen, daß ein Bild aus Licht und Schatten besteht, sowie daß unser Leben aus Kontrasten
zusammengesetzt ist, so wird er umso eher und bereitwilliger glauben, als ich ihm hiermit keine neue Wahrheit verkündige, er dasselbe vielmehr täglich und stündlich schon selbst erfahren hat. Daß sich die Kontraste berühren und ebenso gut wie vom Erhabenen zum Lächerlichen, so auch von Glanz, Pracht und Herrlichkeit zu Armut und Elend oft nur ein kleiner Schritt ist, das haben wir ebenfalls alle sattsam erfahren, und wird mir nun ferner auch der
geneigte Leser aufs Wort glauben, wenn ich ihm versichere, daß das Haus mit der Wohnung des Baron Wenden, so elegant und vornehm es sich auch von der Vorderseite präsentierte, doch hinten an eine finstere, stille Gasse stieß, welche es gleichsam vom Verkehr wohlhabender und vornehmer Leute förmlich absperrte. Ja, dieses Haus mit einer trotzigen unverschämten Breite und Höhe nahm der armen Gasse einen guten Teil der so notwendigen Lebensbedingungen:
Luft, Licht und Sonne. Daher mochte es denn auch wohl kommen, daß sich die alten Häuser mit ihren hohen Giebeln kummervoll vorwärts geneigt hatten, als wollten sie soviel wie möglich in die Straße hereinragen, um an dem bißchen Sonnenlicht, das in gewissen Stunden fast wie spottend an den grauen Mauern dahinfuhr, nach besten Kräften teilzunehmen.
Wollten wir den verschiedenen Wohnungen in dieser Gasse einen Besuch machen, so
würden wir so viel Stoff finden, daß die Bearbeitung desselben am Ende langweilig werden könnte; auch würde es sich nicht mit dem Titel unserer wahrhaftigen Geschichte vereinigen lassen, in den meisten dieser Häuser zu verweilen; denn da würden wir von Augenblicken des Glücks sehr wenig erfahren, wohl aber von Stunden, langen Jahren, ja ganzen Menschenaltern des Unglücks.
Eines dieser alten Häuser aber, das
größte in seiner Art, das stattlichste, gehört in den Bereich dieser Geschichte, und muß sich der geneigte Leser schon unserer Leitung anvertrauen, um mit uns fünf der ziemlich dunklen, holperigen und ächzenden Treppen hinaufzuklettern. Warum wir gerade im oberen Stockwerk anfangen, wollen wir nicht verschweigen. Wir befinden uns hier oben im unteren Teil des Dachgiebels, der nach Norden zeigt, haben, was den unteren Etagen völlig abgeht, eine
ziemliche Aussicht auf die umherliegende Stadt, d.h. auf einige Tausend Dachseiten und doppelt und dreifach so viele Schornsteine. Da es vormittags gegen zehn Uhr ist, so sind die zahlreichen Kinder, die das Haus beherbergt, in der Schule oder sonstwo bei der Arbeit beschäftigt, weshalb das große Haus ziemlich ruhig daliegt. Unten feilt freilich ein Schlosser, im ersten Stock klopfen Schuhmacher, wir hören auch im zweiten Stock eine scheltende Weiberstimme, aber
alles das verhallt in dem großen Bau, und wenn wir noch eine Treppe höher steigen in den vierten Stock, so vernehmen wir wenig mehr von der Feile, dem lederklopfenden Hammer und dem scheltenden Weibe. Dagegen klingt eine helle und frische Mädchenstimme an unser Ohr, und wenn sie singt: »Freudvoll und leidvoll, gedankenvoll sein, Hangen und bangen in schwebender Pein, Himmelhoch jauchzend - zum Tode betrübt, Glücklich allein ist die Seele, die liebt,« so sagt
uns die ungekünstelte, herzliche Art, mit der sie ihr Lied vorträgt, daß ihr Herz weiß, was sie singt, daß ihr Herz zuweilen schneller schlägt, und daß sie glücklich in ihrer Liebe ist. An der Thür, hinter welcher die Mädchenstimme ertönt, lesen wir auf einem Stück Papier, das dort angeklebt ist: »Witwe Weiher besorgt alle Arten Strohflechterei.«
Die Stimme klingt so frisch und jugendlich, daß wir
gern hineintreten möchten, uns einen Strohhut zu bestellen oder ein Zigarrenetui zu kaufen; doch treibt uns der Gang dieser wahrhaftigen Geschichte noch eine Treppe höher hinauf, und wenn wir nun in dem fünften Stock angelangt sind, stehen wir vor einer anderen Thür mit der Aufschrift: »Photographische Anstalt von Heinrich Böhler«.
Hier, wie im Palaste des Fürsten, haben wir die Macht, ungehindert und ungesehen einzutreten. Wir kommen
in ein geräumiges Zimmer, dessen schiefe Decke an der einen Seite anzeigt, daß sie in das Dach hineinragt. Vor uns haben wir ein großes Fenster, an dessen Einfassung und Scheiben wir deutlich ersehen, daß dasselbe erst in jüngster Zeit zum Gebrauche des photographischen Apparats eingesetzt wurde. Die anderen Fenster im Hause mit ihren kleinen staubigen Glasscheiben haben sich auch bedeutend über den unverschämten Eindringling geärgert, denn
je heller und goldener der letzte Strahl der Abendsonne diesen in seiner Höhe vergoldet, um so mürrischer und unzufriedener blicken alle anderen Fensteröffnungen alsdann auf die dämmerige Straße.
Das Gemach hat weiße Kalkwände und ist sehr bescheiden möbliert. Gegenüber dem großen Fenster steht der Ofen, neben diesem ein breiter tannener Tisch, und ein paar eben solche Stühle, sowie ein ähnlicher Kasten
vollenden die Einrichtung. Neben dem Fenster befindet sich dagegen eine kleine Ecke eleganter, fast reicher Ausstattung. Da ist ein erhöhter Fußboden mit einem Stückchen Teppich von spanischen Wänden umgeben, die mit alten seidenen Vorhängen malerisch drapiert sind. Auch sehen wir hier einen geschnitzten Eichenholzstuhl, ein rundes Tischchen mit gedrehtem Fuß und auf demselben eine große Vase mit Blumen. Vor dieser Ecke steht der photographische
Apparat auf einem Stativ, jetzt bedeckt mit einem dunklen Tuche, welches das geheimnisvolle Glasauge verhüllt, mit dem die gespensterhafte Maschine ihr Opfer anstiert, um es alsdann in erschreckender und oft auch in erschrecklicher Ähnlichkeit wieder zu geben. Ja, sie ist verhüllt wie in der Menagerie der Käfig des Basilisken oder die große Schlange mit den bezaubernden Augen; denn dem photographischen Apparat ist vielleicht ebensowenig zu trauen, und wenn
er unbedeckt dastände, wer bürgt dafür, daß ihm nicht auf einmal einfiele, Gegenstände aus dem Zimmer oder der Nachbarschaft in sich aufzunehmen und auf seine Weise zu bearbeiten, die sich nicht immer für die Öffentlichkeit eignen. An den Wänden hingen teils in Rahmen, teils mit kleinen Nägeln aufgeheftet, photographische Arbeiten, von denen einige sehr gelungen genannt werden konnten; andere aber, namentlich solche, wo sich mehrere
Personen auf einem Blatte befanden, waren in den Stellungen verfehlt, und es zeigten die Figuren, wie bei vielen Arbeiten der Art, das seltsame Bemühen, sich so unnatürlich wie immer möglich zu halten und so krampfhaft auszusehen, so schmerzlich zu lächeln und den Beschauer so stier anzublicken, daß man nicht umhin kann, an plötzlich ausbrechenden Wahnsinn, an Schlagflüsse oder dergleichen zu denken.
Künstlerisch schön aufgefaßt war dagegen das Porträt eines jungen Mädchens, welches selbst von der gespensterhaften Maschine mit Liebe wiedergegeben worden zu sein schien. Dies Blatt, mehrmals vervielfältigt, war ohne alle Retouche und gab trotzdem ein sehr liebliches Bild, das von einer wunderbaren Ähnlichkeit sein mußte. Das junge Mädchen, obgleich im einfachen Hauskleide, zeigte eine prachtvolle Gestalt; sie hatte den Kopf
etwas erhoben und schien mit ihren hellen klaren Augen in die Höhe zu blicken. Es war, als lausche sie etwas Angenehmem, so war der Ausdruck ihres Gesichts, und das drückten die leicht geöffneten feinen Lippen aus. Ihr rundes Gesicht war umgeben von reichem, kunstlos und doch ungemein kokett aufgestecktem Haar. Sie ließ die zusammengelegten Hände herabhängen und hielt zwischen den Fingern etwas, das wie ein Bouquet ausschaute; bei näherem
Betrachten aber sah man, daß es eine kunstreich gearbeitete Strohschleife war. Einmal befand sich dieses Porträt an der Wand in einem schönen aus Holz geschnitzten Rahmen; und wo dieser am Nagel hing, da bemerkte man einen Strauß vertrockneter Feld- und Waldblumen mit zierlichen Gräsern, die so über das Porträt hereinnickten, daß man glauben konnte, die klaren Augen des Mädchens blickten nach ihnen, und wenn man sich dieser Phantasie
hingab, so konnte man auch den zufriedenen glücklichen Ausdruck ihres Gesichtes verstehen, in dem die Erinnerung einer glücklichen Stunde lag.
Im Zimmer befinden sich drei Personen; an dem Tannentisch sitzt eine alte, einfach, aber reinlich gekleidete Frau mit einem guten Gesichte, auf dem sich Zufriedenheit und Wohlwollen abspiegeln. Man sieht ihr an, daß sie gern lacht, und daß die kleinste
Veranlassung im stande ist, sie in eine heitere Stimmung zu versetzen. Der Besitzer der photographischen Anstalt, Herr Heinrich Böhler, befindet sich ebenfalls an dem Tische, und daß er der Sohn seiner Mutter ist, sehen wir an der außerordentlichen Ähnlichkeit zwischen beiden.
Er ist ein kräftig gewachsener schlanker junger Mann von vielleicht sechsundzwanzig Jahren, mit einem hübschen offenen und ehrlichen Gesichte, halbblondem,
lockigem Haar, auf welches er etwas zu halten scheint, denn es ist sorgfältig gescheitelt, und die überall natürlich emporsteigenden krausen Locken sind mit Sorgfalt um Stirn und Schläfe geordnet.
Die dritte Person sitzt an einem besonderen Tische in der Nähe des Fensters, ebenfalls ein junger Mann von gleichem Alter wie der Photograph, aber von der Natur sehr stiefmütterlich behandelt. Sein Gesicht ist gelb und hager, von schwarzen
gerade herabhängenden Haaren beschattet, seine Figur klein und dürftig, und was bei anderen gerade gewachsenen Menschen wie eine gewölbte Brust aussieht, erscheint bei ihm als Höcker, der so weit vortritt und so hoch hinauf ragt, daß er fast sein spitzes Kinn darauf stützen könnte. Obendrein ist seine linke Schulter höher als seine rechte, und da er diesen Mangel durch eine gezwungene Haltung zu verdecken sucht, so gibt ihm das etwas
Geziertes, welches noch widerwärtiger erscheint, als sein krüppelhafter Körperbau. Der kleine Mann ist Maler, retouchiert die Photographien, wo es verlangt wird, und malt den jungen Damen auf denselben rote, schwindsüchtige Backen. Da er den Kopf selbst bei der Arbeit immer etwas auf die linke Seite geneigt trägt, so mag es wohl daher kommen, daß er sich angewöhnt hat, mit seinen Augen alles von unten herauf zu betrachten, wodurch sein Gesicht
einen lauernden Ausdruck erhielt. Leider aber sind wir gezwungen hinzuzusetzen, daß dieses lauernde, unstäte Aufblicken in seinem Charakter begründet und anfänglich wohl aus dem Mißtrauen entstanden war, das ihn gegen alle gerade gewachsenen und von der Natur besser behandelten Menschen erfüllte. Vielleicht hatte er auch als Kind von Lust, Glück und Liebe geträumt; vielleicht hatte er sich sogar später, seiner verkümmerten Gestalt
noch nicht recht bewußt und im verzweifelten Wagnis einem geliebten Wesen genähert und war durch ein sonderbares Lächeln aus allen seinen Himmeln gestürzt worden, tief hinab in die Finsternis eines zerstörten Gemütes, wo ihm alsdann Zähneknirschen und krampfhaftes Zusammenballen der Hände Linderung und Labsal war. Letzteres, das krampfhafte Schließen der Hände hatte er beibehalten, und wenn er sprach, so zuckten seine Finger ab und
zu, und er hob sie meistens gegen sein Gesicht, als sollten sie ihn in seinen Reden unterstützen. Vielleicht war es auch Eitelkeit, daß er so that, denn die Natur, die ihm sonst alles versagt, hatte ihm eine wunderschöne, feingeformte weiße Hand verliehen. - Herr Krimpf, der kleine Maler, saß da und zeichnete; die alte Frau Böhler strickte an ihrem Strumpfe, und der Photograph hatte eine Glastafel vor sich, in den Putzrahmen eingespannt, die er mit
einem feinen Tuch polierte und zuweilen anhauchte, um zu sehen, wo irgend noch ein fettiges Teilchen sitzen geblieben war. Wir müssen hierbei erwähnen, daß Herr Böhler die Lappen, womit er das Glas putzte, auf eine eigentümliche Art hielt, was daher kam, weil er sich durch einen unglücklichen Zufall den Zeige- und Mittelfinger vor nicht langer Zeit schwer verletzt hatte.
»Heute scheint wieder einmal niemand zu kommen,« sagte er, indem
er die alte Frau anblickte; »doch will ich nicht darüber klagen, denn wenn es bei uns wie im Bäckerladen ginge, so würde ich ja am Ende noch ein reicher Mann werden, und daran denke ich doch wahrhaftig nicht.«
»Es ist noch früh,« sprach Frau Böhler, »die Leute kommen ja meistens um die Mittagsstunde, da soll das Licht am besten sein, wie du immer sagst.«
Herr Krimpf am Fenster wandte seinen Kopf noch mehr auf die linke
Seite, als wolle er seine Arbeit auch in einiger Entfernung betrachten; dann ließ er sich nach einer kleinen Weile vernehmen: »Die Konkurrenz thuts, die große Konkurrenz. Auf dem Marktplatz, in der Finken-, sowie in der Rosenstraße haben sich seit einigen Tagen neue Photographen niedergelassen. Der am Markt hat ein prachtvolles Atelier gebaut, ganz von Glas und Eisen.«
»O, wir haben hier oben auch ein gutes Licht,« warf der andere hin; »ganz
Norden und keine Mauern hinter uns, die Reflex geben.«
»Dazu,« fuhr Herr Krimpf fort, »hat der am Markt einen eleganten Salon eingerichtet, wo Damen und Herren warten können, auch einen gewandten Bildhauer engagiert, der die schönsten Stellungen angibt.«
»Nun, einen Salon haben wir freilich nicht,« entgegnete der Photograph, »und was den Bildhauer anbelangt, so glaube ich, daß sich Eure Stellungen damit messen können. Ihr
müßt doch gestehen, Krimpf, daß wir in der letzten Zeit ganz famos gelungene Sachen gemacht haben.«
»Sehr schöne Sachen,« bekräftigte die alte Frau, und damit nahm sie die Nadel, welche sie gerade abgestrickt hatte, in die rechte Hand und zeigte auf das Porträt des jungen Mädchens. »Gibt es wohl was Besseres bei allen Photographen, als das Bild der Rosa?«
Herr Böhler hielt, als die Mutter so sprach, mit dem
Reiben auf der Glasscheibe inne und blickte ebenfalls freundlich lächelnd zu dem Bilde des jungen Mädchens empor. »Ja, das ist sehr gelungen,« sprach er halblaut.
Herr Krimpf hatte ebenfalls herübergeschielt, und ein Lächeln, von dem man nicht wußte, bedeutete es Schmerz oder Freude, zuckte um seinen breiten Mund, zu dem sich die Finger erhoben. »Das ist in der That sehr gelungen,« sagte auch er, »und wenn man das öffentlich
ausstellen könnte, so wäre das Porträt allein im stande, uns eine Menge Kundschaft herbeizuziehen.«
»Nein, nein, das würde ich nie zugeben,« fiel ihm der Photograph eifrig ins Wort, »selbst wenn sich Rosa dazu entschließen könnte.«
»O, seid ganz unbesorgt,« warf der andere schnell ein, während er sich auf seine Malerei niederbückte, »die wird sich nie dazu entschließen, selbst wenn es den
größten Vorteil brächte. Was bekümmert sich das hochmütige Mädchen um Eure Kundschaft, um Euer Fortkommen.«
Frau Böhler hatte bei diesen Worten den Kopf geschüttelt, und zum erstenmal nahm ihr Gesicht einen ernsten Ausdruck an. »Krimpf, Krimpf,« sagte sie alsdann, »das ist ein Punkt, wo Ihr immer bösartig werdet, und wovon Ihr doch wahrhaftig nichts versteht.«
»Sieht man nicht auch Prinzessinnen und Gräfinnen an den Schaufenstern ausgestellt?«
»Daß sich eine vornehme Dame nichts daraus macht, von der Menge
angegafft zu werden, begreife ich vollkommen. Wenn sie im Theater und im Konzert mit ihren Spitzen und Brillanten sitzen, so müssen sie es auch leiden, daß Tausende von Augen sie so lange anschauen, als es ihnen beliebt. Aber mit einem jungen bescheidenen Mädchen, das von der ganzen Welt nichts will, ist das doch was ganz anderes. Nehmt mirs nicht übel, Krimpf, wenn Ihr eine Schwester hättet -«
»Oder eine Geliebte,« sagte giftig der
Maler.
»So möchtet Ihr es auch nicht haben,« fuhr Frau Böhler fort, ohne auf diese Worte zu achten, »daß sie jedermann anstarrte und fragte: Wer ist denn das Mädchen? Wie heißt sie? Was thut sie? Wo wohnt sie?«
»Nun, was das anbelangt,« entgegnete der Maler nach einem kleinen Stillschweigen, »so stellt Mamsell Rosa ihr Licht auch nicht gerade unter den Scheffel und läßt sich gehörig auf der Straße
sehen.«
»Ja, wenn sie ausgehen muß oder mit ihrer Mutter im Schloßgarten spaziert,« bemerkte der Photograph in etwas gereiztem Tone und rieb seine Glasscheibe heftiger, als notwendig gewesen wäre.
»Der Effekt ist derselbe,« fuhr Herr Krimpf hartnäckig fort. »Ich bin ihr schon oft begegnet und habe häufig gehört, wie der oder jener Lieutenant oder sonst ein junger Herumtreiber fragte: Wer ist denn das schöne
Mädchen? Wie heißt sie? Was thut sie? Wo wohnt sie?«
»Und wenn einer wirklich auch so was gefragt hat,« erwiderte der Photograph ärgerlich, »so hat Rosa doch gewiß niemals Anlaß dazu gegeben. Könnt Ihr das anders sagen?« fuhr er nach einer Pause fort, da der Maler sich achselzuckend über seine Arbeit niederbeugte; »hat sie je einen von Euern Herumtreibern angesehen oder durch ihr Betragen herausgefordert, daß er sich nach
ihr umschaue und frage: Wer ist sie? Wo wohnt sie?«
Herr Krimpf betrachtete die Arbeit, die vor ihm lag, so angelegentlich, als habe er in der ganzen Welt für sonst gar nichts Sinn. Er nahm aufs gleichmütigste einen anderen Pinsel und suchte lange nach einem schönen Blau, um das Kleid der Dame, die er eben retouchierte, zu lasieren, und erst als er fand, daß die gesuchte Farbe passend war, nickte
er befriedigt mit dem Kopfe und warf dann leicht hin:
»Ich muß selbst gestehen, daß Mamsell Rosa auf der Straße in der That keinem eine Veranlassung gibt, sich um sie zu bekümmern oder ihr nachzugehen.«
Hätte er das »auf der Straße« nicht so hoch betont! Aber er that es und so stark, daß selbst die alte Frau ihren Kopf schüttelte und ihr Sohn nicht unterlassen konnte, zu entgegnen: »Krimpf, Ihr habt so
ausdrucksvoll gesagt, Rosa gebe auf der Straße keine Veranlassung, daß man ihr nachsehe und sich um sie bekümmere, sie betrage sich auf der Straße nicht auffallend! Also vielleicht sonstwo, wenn auch gerade nicht auf der Straße?«
Herr Krimpf zuckte abermals mit den Achseln, spitzte seinen Mund und hielt den Nagel des Daumens seiner rechten Hand gegen das Licht, um eine gemischte Farbe zu betrachten, die er darauf gesetzt hatte,
während er sagte: »Seht, lieber Böhler, das ist das alte Kapitel. da brauch ich nur ein unschuldiges Wort zu sagen, daran klammert Ihr Euch, setzt mir sozusagen die Pistole auf die Brust, und wenn ich mir dann erlaube, irgend eine Bemerkung fallen zu lassen, so heißt es, ich suche Streit und Unfrieden.«
Die alte Frau winkte ihrem Sohne mit den Augen, das Gespräch fallen zu lassen, doch schien dieser es nicht bemerken zu wollen, und man sah
deutlich, daß er sich in einer großen Aufregung befand, der er sich vergeblich bemühte, Herr zu werden. Sein Auge glänzte, und eine flammende Röte lag auf seinem Gesichte, während er die Lippen heftig zusammenpreßte.
»Ich wollte nämlich sagen,« fuhr Herr Krimpf gleichmütig fort -
»O, sagt lieber gar nichts,« unterbrach ihn rasch die alte Frau. »Kann es Euch denn eine Freude machen, meinen Sohn mit
Sachen zu alterieren, von denen Ihr selbst am besten wißt, daß sie nur in Eurem Kopfe entstanden sind?«
Es war ein eigentümliches, fast süßes Lächeln, mit dem der Maler jetzt zu der alten Frau hinübersah. Es war ein Lächeln, welches sagen zu wollen schien: Gute, arglose Seele, wie bedaure ich dich aus dem Grunde meines ehrlichen Herzens! Dann zuckte seine rechte Hand nach dem Munde empor, und seine Finger berührten
diesen leicht, als wollte er sich selbst Stillschweigen auferlegen, worauf der Pinsel auf dem Papiere wieder gleichförmig feine Linien beschrieb.
»Nein, nein, er soll reden!« sagte bestimmt der Photograph; »aber er soll mit geraden Worten reden. Krimpf, ich halte große Stücke auf Euch; nur in diesem einen Punkte geht Ihr nicht ehrlich mit mir um. Ich weiß wohl, was Ihr wollt. Ihr könnt mir keine Thatsachen berichten. Ihr habt nur böse
Bemerkungen gegen das Mädchen, und doch könnt Ihr mir glauben, Krimpf, daß ich Euch in der That sogar dankbar wäre - wenn - . « Das letzte sagte er mit unsicherer gepreßter Stimme, wie jemand, der sich vor seinen eigenen Worten scheut; auch war er nicht im stande, den Satz zu vollenden.
»Laß dir doch keine Grillen in den Kopf setzen,« sprach die alte Frau; »du weißt ja, was er dir sagen will. Gott der Gerechte! Und wenn sie
hier und da auch einmal einen Blick hinüberwirft nach dem Fenster des großen Hauses, was thut so ein Blick? Habe ich in meiner Jugend doch auch meine Augen nicht immer zugeschlossen und bin doch eine brave Hausfrau geworden, das kann ich mir wohl nachsagen. - Ach was, so ein Blick!«
»Es liegt ein großer Unterschied in der Art, wie man Blicke sendet,« meinte Herr Krimpf.
»So wollt ihr also sagen, daß Rosa da hinüber
Blicke sendet, wie sie sich für ein junges Mädchen nicht ziemen?« fragte Herr Böhler.
»Wie es sich für ein junges Mädchen nicht ziemt, will ich grade nicht sagen, aber,« setzte er langsam und bedächtig hinzu, »wie es sich vielleicht für ein junges Mädchen nicht ziemt, die schon einen Liebsten, sozusagen einen Bräutigam hat, und wie es sich für ein junges Mädchen aus unserem Stande einem Manne jenes Standes
gegenüber gewiß nicht paßt.«
»Krimpf,« rief jetzt heftig der Photograph, »entweder, oder! Laßt Eure schlimmen Reden oder sagt mir gerade heraus, was Ihr denkt und wißt.«
»Bosheiten, nichts als Bosheiten,« flüsterte leise die alte Frau.
»Nun?« fuhr ihr Sohn gegen den Maler los, da dieser schwieg.
»O, das ist sehr einfach,« antwortete Krimpf, »und ich sage nie etwas, wozu ich nicht
meine Gründe habe. - Es gibt gewisse Stunden im Tage,« fuhr er in so gleichmütigem Tone fort, als begönne er eine Geschichte: Es war einmal ein König, der hatte eine schöne Tochter, - »es gibt gewisse Stunden, wo Mamsell Rosa ihr Fenster öffnet und sich an demselben sehen läßt. - Wißt Ihr, das Fenster ist gerade unter uns, also kann es Euch nicht gelten. Da ans Fenster stellt sie sich, doch ehe sie sich hinstellt, singt sie vorher, und
sie hat eine schöne Stimme und kann sehr laut singen. Habt Ihr sie vorhin singen hören?« fragte er mit seinem fatalen, lauernden Lächeln.
»Ja, ich habe sie gehört,« sagte der andere mit fast tonloser Stimme.
»Nun also,« sprach Herr Krimpf mit dem ruhigsten Tone von der Welt weiter, »dann wette ich hundert gegen eins, daß sie sich jetzt am Fenster etwas zu schaffen macht.«
»Und wenn dem so wäre,«
mischte sich die alte Frau gereizt in das Gespräch, »wollt Ihr dem jungen Mädchen verbieten, ans Fenster zu treten und frische Luft zu schöpfen?«
»Ich? Ganz und gar nicht. Ich will ihr überhaupt nichts verbieten. O, wenn Ihr nur einmal begreifen wolltet, wie ehrlich ich es mit Euch meine. Nicht wahr, wo ich hier sitze, bin ich nicht im stande, in die Nachbarschaft zu sehen? Das werdet Ihr mir zugeben. Was ich also jetzt sagen will, kann ich nicht vorher gesehen haben. Unserem Hause gegenüber liegt, wie Ihr wißt, das große Palais, das mit seiner Pracht und Herrlichkeit unsere arme dunkle
Gasse sozusagen absperrt und uns verhindern will, mit der vornehmen Welt, die dort wohnt, in gar zu nahe Berührung zu kommen. Aber diese vornehme Welt,« fuhr er boshaft fort, »kommt doch zuweilen gern mit uns in Berührung. Also im ersten Stock drüben ist ein Fenster, gerade dem der Frau Witwe Weiher gegenüber; der Gesang ist verstummt, Rosa steht am diesseitigen Fenster und am jenseitigen befindet sich, oder meine Ahnung müßte mich trügen, ein
junger Herr, wahrscheinlich im rotseidenen Schlafrock, da es noch früh ist. Er blickt angeblich in unsere schlechte Gasse, vielleicht vermittelst seines Opernglases, vielleicht auch nur so, und treibt allerlei kleine Thorheiten. Er legt die Finger an den Mund, oder drückt ein Blumenbouquet, das er neben sich hat, an die Lippen, fächelt sich vielleicht auch mit seinem Schnupftuche Kühlung zu - - «
Schon bei den ersten Worten, die Herr Krimpf
sprach, wollte sich der Photograph hastig erheben, doch legte ihm die alte Frau ihre Hand auf den Arm und ihr Blick bat ihn, ruhig zu bleiben. Als aber der Maler in seiner boshaften Art alle die Einzelheiten berichtete, da ließ es den anderen nicht länger auf seinem Stuhle, er sprang in die Höhe, holte tief und heftig Atem und trat an eine Stelle des Zimmers, wo er das gegenüberliegende Haus ins Auge fassen konnte.
Herr Krimpf blickte nicht
einmal zu ihm empor, vielmehr malte er ruhig an seinem Bilde und sagte nach einer Pause: »Hab ich recht oder unrecht?«
Auch Frau Böhler war hinter ihren Sohn getreten, und das sonst so wohlwollende Gesicht der alten Frau hatte sich finster überzogen. Daß jemand drüben am Fenster war, darin hatte der Maler allerdings recht; und wenn der geneigte Leser mit uns hinüberschauen will, so bemerkt er einen der Fensterflügel im ersten Stock
geöffnet; an demselben steht ein Fauteuil, und auf diesem ruht ein junger Mann in rotem Schlafrock, der den Arm auf die Brüstung gestützt hat, den Kopf in die Hand gelegt, und zwar so, daß der Zeigefinger derselben an seinen Lippen ruht. Der junge Mann am Fenster hat sein blondes Haar glatt an den Kopf gestrichen, Kinn und Wangen sind sorgfältig rasiert, den feinen Mund hat er lächelnd zusammengezogen, und die lebhaften Augen fixieren sich scharf auf
einen Punkt ihm gegenüber. Der junge Mann im Schlafrock ist unser Bekannter, der Kammerherr von Wenden, der sich in seinem Hausarrest außerordentlich langweilt und sehr vergnügt zu sein scheint, in der Nachbarschaft ein vorübergehendes Amüsement gefunden zu haben.
Der Photograph fuhr mit der Hand heftig in sein lockiges Haar und preßte sie dann an seine Stirne; - der junge Mann
gegenüber lächelte freundlich herüber, nickte auch leicht mit dem Kopfe, und jetzt kam auch das Blumenbouquet zum Vorschein, von dem der Maler gesprochen. - »Nun?« fragte dieser abermals. »Habe ich recht oder unrecht?«
»Seht, Krimpf,« sprach jetzt die alte Frau mit erzürntem Tone, »ich kann nicht begreifen, wie es Euch ein Vergnügen machen kann, meinen Sohn mit so lächerlichen Sachen zu quälen. Was kümmert es die arme Rosa,
wenn da drüben wirklich ein junger Mann am Fenster steht und seine Thorheiten treibt? Sie wird nicht nach ihm schauen, wird in ihrer Küche beschäftigt sein oder mit ihrer Strohflechterei. Wie könnt Ihr Euch einbilden, daß sie jetzt gerade auch am Fenster unter uns stehe? Kennt Ihr die alte Weiher so schlecht? Die hat Augen wie ein Falke, und Rosa würde schön ankommen.«
»Daß die alte Weiher Augen wie ein Falke hat, daran habe
ich noch nie gezweifelt,« versetzte der Maler mit einem geringschätzenden Seitenblick; »doch nicht für ihre Tochter. Da ist sie, um in Eurem Gleichnis fortzufahren, blind wie eine Eule, sonst müßte sie die Geschichte schon lange gemerkt haben. Schon lange!«
»Nein, das ist nicht möglich,« knirschte der junge Photograph. »Rosa kann nicht am Fenster sein und da hinüber sehen, das kann und wird sie mir nicht anthun. Es ist eine Schande,
daß ich nur einen solchen Gedanken hatte. Von Euch finde ich es begreiflich, Krimpf,« setzte er in fast verächtlichem Tone hinzu.
»Diese Bemerkung kann mich gar nicht anfechten, ich bin meiner Sache gewiß,« flüsterte der brave Krimpf vor sich hin.
»Und ich will mich überzeugen,« sagte entschlossen Herr Böhler. »Das Fenster der Schlafkammer ist offen. Wenn ich mich vorbeuge, kann ich hinabschauen, und ich will es
denn in Gottes Namen für dieses Mal thun, um den Krimpf zum Stillschweigen zu bringen. Bleibt hier, Mutter,« fuhr er fort, als er, sich umwendend, sah, daß ihn die alte Frau begleiten wollte.
»Aber ich sollte eigentlich mitgehen,« meinte der Maler, und dabei lächelte er auf ganz eigentümliche Art und kniff die Augen so zusammen, daß nur noch ein paar Blitze herausschossen: »ich sollte eigentlich mitgehen, sonst ist die Partie vollkommen
ungleich.«
Der andere war aber schon in das Nebenzimmer getreten und hatte sich mit klopfendem Herzen dem Fenster genähert. Er wußte nicht, wie es kam, daß er nur mühsam Atem schöpfen konnte, und daß das Blut wie im Fieber durch seinen Körper raste. - Jetzt stand er am Fenster. Ehe er aber hinabblickte, faßte er mit der Hand krampfhaft die Brüstung.
O, warum mußte der Maler Recht haben! Warum
stand Rosa jetzt gewiß und wahrhaftig am Fenster! Warum lehnte sie sich heraus, daß er deutlich ihr volles, schönes Haar sah, ihren Hals, ja die schlanke Taille und ihre kleine Hand, mit der sie leicht das Fensterkreuz gefaßt hielt und so auf dem erhobenen Arme ihren Kopf ruhen ließ. Er hätte hinausschreien können, er hätte wie ein Kind weinen mögen, denn er war zu fest überzeugt gewesen, daß Krimpf verleumdet habe. Kein
Zweifel, es war Rosa selbst! Wenn er auch nur ihre Fingerspitzen gesehen hätte oder eine einzige Flechte ihres Haares, so hätte er gefühlt, daß sie es sei. Es ward ihm dunkel vor den Augen, und als er jetzt seine Lippen fest aneinander preßte, so schwellte ihm der Atem so heftig die Brust, daß sie zu zerspringen drohte. Also doch! Er blickte auf das Mädchen hinab, und es war ihm, als müsse er sie mit seinen Gedanken in das Zimmer
zurückziehen können. Dann sah er neben ihr vorbei in die schwindelnde Tiefe, und es flimmerte seltsam vor seinen Blicken. Er wollte Rosa! rufen, aber er that es nicht. Er blickte auf das gegenüberliegende Haus und sah, wie sich der junge Mann am Fenster, unverwandt herüber blickend, langsam erhob, wie er dabei die Hand leicht an seine Lippen legte, ja wie er herüber winkte. Ach und wie ward dem Späher, als der nun sehen mußte, wie Rosa ebenfalls
ihre Stellung änderte, wie sie die Hand und den Arm, auf denen soeben ihr Kopf geruht, langsam herabsinken ließ, und wie sie, ehe sie das that, leicht mit ihren weißen Fingern über das schwarze Haar herabfuhr. - Dann verschwand sie vom Fenster. Er aber oben preßte seine beiden Hände gewaltig gegen die Brust und blickte an den blauen Himmel empor, der ihm mit einem Male stockdunkel erschien, und an dem Blitze hin und her fuhren, Blitze aus heiterer
Luft, von denen er nicht wußte, woher sie kamen. Er mußte in das Wohnzimmer zurück, das fühlte er wohl, aber er mußte lange mit sich kämpfen, ehe sein Atem wieder ruhiger ging, ehe seine Augen den sonderbar entsetzlichen Ausdruck verloren hatten, ehe sein Gang wieder so gleichmäßig geworden, nicht mehr so schwankend war, als da er vom Fenster wegtrat. Ja, er versuchte zu lächeln, und es gelang ihm, als er nun wieder vor die beiden im
Nebenzimmer trat, wo ihn die alte Frau bestürzt anblickte, denn wie sie ihm später sagte, habe er zum Erschrecken blaß ausgesehen.
Herr Krimpf hob ebenfalls den Kopf in die Höhe, und auch er lächelte, als er in die entstellten Züge des Photographen blickte. Darauf zuckten seine Finger wie vergnügt nach seinem Kinn und als er sagte: »Nun?« lag in diesem einzigen Worte ein Hohn, ein Triumph, der unaussprechlich war.
»Nun?« fragte auch die alte Frau.
»Die Rosa war nicht am Fenster,« entgegnete der andere so gelassen, als es ihm möglich war.
Dabei blickte er besorgt auf den Maler, der aber seinen Kopf so tief über das Papier gebeugt hatte, daß man sein eigentümliches Grinsen nicht sehen konnte. - »Nein, sie war nicht am Fenster,« wiederholte er nach einer Pause und einem tiefen Atemzuge.
Ein paar Sekunden lang war es nun auch so still in dem Zimmer, daß das Ticken der Schwarzwälderuhr ein fast unerträgliches Geräusch machte. Dann sagte Herr Krimpf: »Nun, wenn sie
nicht am Fenster war, so ist es mir lieb, und ich will recht gern unrecht gehabt haben. Denn wäre sie am Fenster gewesen,« setzte er mit scharfer Betonung hinzu, indem er den Kopf erhob, »so hätte ich recht behalten, und man müßte dann die Rosa für ein unverantwortlich leichtsinniges Mädchen halten, für ein Mädchen, das nicht wert ist, daß ein braver Mann, wie Ihr, sie liebt. - Darin stimmt Ihr mir bei, nicht wahr, Böhler?«
»Ja - darin,« entgegnete der Photograph in einem Tone, dem man deutlich anhörte, wie mühsam und schmerzhaft er hervorgebracht war. - Hierauf schien er aber nicht geneigt, sich noch in weitere Erörterungen einzulassen, sondern ging abermals in das Nebenzimmer, nicht um dort wiederholte Fensterbeobachtungen zu machen, vielmehr setzte er sich so entfernt wie möglich von demselben in eine Ecke der Kammer, barg das Gesicht in beiden Händen und
blieb unbeweglich.
Neuntes Kapitel.
Chantons, buvons, traleralera.
Herr Krimpf hatte eine Zeitlang emsig fortgemalt und schien auch mit seiner Arbeit vollkommen zufrieden zu sein. Er betrachtete die Photographie, die er retouchierte, bald von dieser, bald von jener Seite, und während er so den Kopf bald rechts, bald links wandte, summte er in sich hinein eine lustige Melodie, was selten genug vorkam. Bald jedoch schien
er mit seiner Arbeit für jetzt aufhören zu wollen, betrachtete das Porträt ein paarmal aus der Entfernung, legte es alsdann zwischen Fließpapier und fing an, seinen Pinsel mit großem Geräusche in einem vor ihm stehenden Wasserglase auszuspülen.
Die alte Frau hatte sich mit ihrem Strickstrumpf wieder an den Tisch gesetzt, doch zeigte ihr Gesicht lange nicht mehr den heiteren, wohlwollenden Ausdruck wie früher, bald blickte
sie besorgt nach der Kammerthür, dann einigermaßen entrüstet auf den Maler, der seine Farben zusammengelegt hatte, einen besseren Rock anzog, der in der Ecke hing, und sich zum Weggehen anschickte. »Es scheint diesen Vormittag niemand kommen zu wollen,« sagte er, »und da will ich einen kleinen Ausgang besorgen. Gegen zwölf Uhr bin ich wieder da, wenn man mich vielleicht doch noch brauchen sollte.« Bei diesen Worten hatte er den Rock bis unter das Kinn
zugeknöpft und trat an das Fenster, um einen Blick in die Nachbarschaft zu werfen.
»Ja, ja,« murmelte er vor sich, aber doch so laut, daß es die Frau deutlich verstehen mußte, »diese vornehmen Herren! Es ist mir begreiflich, daß ihnen so allerhand verfluchte Geschichten durch den Kopf gehen, da sie doch auf der Herrgottswelt den ganzen Tag so gut wie gar nichts zu thun haben. Möchte das auch mal mitmachen.«
Hierbei
versuchte er den Halskragen aufzurichten, was ihm aber nur an der einen Seite gelang; an der anderen drückte ihn der herabhängende Kopf hartnäckig wieder gegen die Schulter. »Aber das könnt Ihr mir glauben, Frau Böhler,« fuhr er nach einer Pause fort, »es ist mir gerade, als hätte mir jemand was geschenkt, daß die Rosa nicht am Fenster war. Es wäre auf meine Ehre arg gewesen; denn der da drüben ist ein verrufener Patron, darauf könnt
Ihr Euch verlassen, und wenn der einmal anbändelt, dann hört er nicht wieder auf, bis er die Schleife fest zugezogen hat. Jetzt behüt Euch Gott, Frau Böhler, ich komme bald wieder.« - Er hatte seinen Hut aufgesetzt und warf einen Blick in den Spiegel, so verstohlen und scheu, daß man wohl merkte, er fürchtete dort etwas sehr Unangenehmes zu erblicken. Dann lief er mit einer wahrhaft komischen Behendigkeit zur Thür hinaus.
Als er fort war, ließ die alte Frau ihre Hände mit dem Strickzeug in den Schoß sinken, schüttelte den Kopf und sagte in einem betrübten Tone: »Wie der Heinrich verstört aussah! Vielleicht war sie wirklich am Fenster, vielleicht hat der Krimpf recht, aber das wäre doch gar zu entsetzlich! Nein, nein, so ist die Rosa nicht. Und wenn sie wirklich am Fenster war, bah! so hätte das noch
nichts zu bedeuten. So ein junges Mädchen ist ein wenig vorwitzig und naseweis, aber schlimm ist die Rosa nicht, gewiß nicht; davon muß auch der Heinrich überzeugt sein.«
Hastig warf sie ihr Strickzeug auf den Tisch und eilte in das Nebenzimmer, als wollte sie ihren Sohn fragen, ob er denn wirklich etwas Schlimmes von Rosa glauben könne, selbst wenn sie am Fenster gewesen wäre. - Der Photograph saß noch immer in seiner Ecke. Die
Hände hielt er freilich nicht mehr vor das Gesicht, sondern gefaltet auf seinen Knieen; doch blickte er so starr durch das Fenster an den Himmel empor, daß die Mutter bei seinem Anblick ordentlich erschrak und es kaum wagte, leicht mit den Fingern seine Schulter zu berühren.
Er fuhr wie aus tiefen Träumereien empor, und als er die alte Frau neben sich stehen sah, sagte er mit erzwungenem Lächeln; »Ich bin doch recht thöricht, da
sitze ich hier in tiefen Gedanken, als wenn Gott weiß was geschehen wäre, und es ist doch im Grunde gar nichts.«
»Nein, es ist gewiß nichts, Heinrich, wahrhaftig nichts,« entgegnete die alte Frau, »das kannst du mir glauben. Mach dir doch keine so trüben Gedanken!«
Er sah mit einem unendlich trostlosen Blick zu seiner Mutter empor, dann sagte er: »Aber sie war am Fenster.«
»Ich hab es dir angesehen.«
»Dann hat es mir der Krimpf gewiß auch angesehen, und was er zu mir sprach, war aus lauter Bosheit.«
»Du weißt doch,« antwortete kopfschüttelnd die alte Frau, »wie der immer gereizt ist, und wie es ihm ein Vergnügen macht, andere Menschen mit seinen schwarzen Gedanken zu quälen.«
»Aber sie war am Fenster.«
»Nun ja, laß sie. Man muß ihr das auf eine gute Art sagen. Ich
versichere dich, Heinrich, ich bin deinem Vater immer eine brave und getreue Frau gewesen, aber als ich noch ein junges Blut war -«
»Da hast du auch so am Fenster gestanden?« fragte hastig der junge Mann und schaute zu der Mutter empor, als hoffe er Trost in ihren Blicken zu finden.
»Warum denn nicht?« fuhr diese mit ihrem tröstenden Lächeln fort. »Ich weiß mich noch wie heute zu erinnern, es war während der Kriegszeit, da
mußten wir armen Mädchen überhaupt viel ausstehen; Tag und Nacht keine Ruhe vor dem wilden Gezeug; nun, damals war ich achtzehn Jahre alt und so übel auch gerade nicht. Sie gafften mich an, wie es die jungen Leute von jeher gethan haben und auch nicht lassen werden, solange die Welt steht, und solange es noch junge Mädchen gibt. - Uns gegenüber lag ein sehr hübscher französischer Kapitän im Quartier. Das war ein Tollkopf, welcher der
ganzen Nachbarschaft Besuche machte. Bei uns kam er aber nicht weiter, als bis an die Küchenthür.«
»Siehst du, Mutter, das war sehr brav von dir.«
»Das Lob verdien ich nicht - ich hätte gern mal mit ihm geplaudert. Aber um wieder auf mein Kapitel zu kommen, so stand ich auch zuweilen am Fenster und hörte zu, wenn er seine lustigen Lieder sang. Da war eins, das schloß immer mit den Worten: Chantons, buvons, traleralera,
und das hatte ich mir leider gemerkt. Leider, sag ich, denn eines Tages, als wir am Essen saßen, spielte die Musik dies Lied gerade unter unseren Fenstern vorbei, und ich - ich werde das all mein Lebtag nicht vergessen, wir hatten gerade Klöße und ich einen auf dem Löffel, mit dem ich eben zum Munde fahren wollte - singe so ohne viel zu denken, die Melodie mit: Chantons, buvons, traleralera. Aber das Traleralera war noch nicht von mir ausgesungen, so erhielt
ich von meiner Mutter eine so ungeheure Maulschelle, daß ich nicht wußte, wie mir geschah. Der Löffel und alles lag am Boden, und ich selber duckte mich in Erwartung einer zweiten Ohrfeige. So bös hatte ich die Mutter in meinem ganzen Leben nicht gesehen, als sie nun ausrief: Warte du, ich will dich betraleraleraen.«
»O, die Großmutter war eine rechtschaffene Frau,« seufzte der Photograph, worauf Frau Böhler entgegnete: »Laß das nur gut sein, die alte Weiher ist auch nicht links. Aber jetzt komm mit hinüber; laß dein Grübeln, das kann wahrhaftig zu nichts führen. Man muß mit der Rosa reden.«
»Nein, das darf man nicht thun,« sprach fast erschrocken der junge Mann, indem er aufsprang; »das darf um Gotteswillen nicht
geschehen. Ist an der Sache wirklich etwas Unrechtes, und man warnt sie, so wird sies verheimlichen, und dann wird es noch viel schlimmer. Nein, nein, Mutter, ich will erst die vollständigen Beweise und dann nach Umständen handeln.« - Die alte Frau sah ihren Sohn fragend an. - »Dann will ich zu ihrem Herzen sprechen, und wenn es, wie ich zu Gott hoffe, nur eine kindische Eitelkeit ist, die sie antreibt, die Blicke jenes - Herrn zu erwidern, so werde ich ihr vorstellen,
was daraus entstehen kann, und hoffe sie zu überzeugen. Kann ich das letztere aber nicht, Mutter, so habe ich am Ende nicht viel verloren.«
Damit waren beide in das Wohnzimmer zurückgegangen; der Photograph legte das geputzte Glas beiseite und machte sich mit den Schalen zu schaffen, worin er seine Silber- und Natronbäder hatte. Draußen schien die Sonne so prachtvoll, und das Licht war so glänzend, daß es ordentlich schade war,
daß gerade in diesem günstigen Augenblicke so gar keine Menschenseele kommen wollte, um sich photographieren zu lassen. Das meinte auch Frau Böhler, und der Sohn pflichtete ihr achselzuckend bei.
»Ich weiß nicht, wie es kommt,« sagte er, »daß es bei mir nie einen rechten Zug nehmen will. Ich will nicht gerade klagen, und ebensowenig meine Werke selbst loben; aber bei den Arbeiten, die ich mache, könnte ich doch schon ein
bißchen mehr zu thun haben. - Ich habe eben kein Glück.«
Frau Böhler hob den Kopf in die Höhe, und als sie bemerkte, wie ihr Sohn bei diesen Worten die beiden verstümmelten Finger seiner rechten Hand ansah, so schwieg sie seufzend still.
»Gewiß und wahrhaftig kein Glück,« fuhr er fort. »Wie sauer habe ich es mir werden lassen, mit welcher Liebe habe ich gearbeitet, ehe ichs in der Holzschneidekunst zu etwas
gebracht, und da ich eben anfing, hübsche Arbeiten zu machen, passiert mir das Unglück, woran ich mein ganzes Leben werde leiden müssen. Darauf fange ich an zu photographieren, mache auch ordentliche und hübsche Porträts, werde von meinen Bekannten empfohlen; aber was hilft mir das alles! Pfuscher haben den Zulauf, bei mir will nichts recht in den Zug kommen. Ich habe keine Protektion, oder besser gesagt, kein Glück.«
»Es ist nicht zu
leugnen,« entgegnete Frau Böhler, »daß du bisher mit vielen Widerwärtigkeiten zu kämpfen hattest.«
»Mit vielem, vielem Unglück!«
»Aber das kann sich mit einem Male ändern, und ich habe es schon oft erlebt, daß Leute, die lange vom Schicksal verfolgt wurden, auf einmal an einen Punkt kamen, wo eben das Schicksal wie müde und matt von ihnen abließ.«
»Darauf habe ich lange gehofft,«
sagte bitter der junge Mann, »Immer geglaubt, auch für mich müsse endlich einmal so ein Augenblick des Glücks eintreten; und daß meine Wünsche nicht unbescheiden sind, das weißt du am besten, Mutter. Wie zufrieden war ich mit meiner Arbeit, ja, trotz des langsamen Ganges der Geschäfte, ich könnte wohl sagen, fast glücklich, ja - ja, fast glücklich, bis vor einer halben Stunde, wo alles mit mir zusammenbrach.« - Die alte Frau blickte
kopfschüttelnd in die Höhe, ohne eine Antwort zu geben.
»Und es ist so traurig,« fuhr der Photograph fort, »daß in der Welt eine Widerwärtigkeit, ein Unglück das andere nach sich zieht.« - - Er hatte bei diesen Worten einen Abdruck der Photographie jenes schönen jungen Mädchens, von dem wir vorhin sprachen, aus der Schale genommen und lange betrachtet. »Wie kann ich es der Rosa eigentlich übel nehmen, daß es ihr
langweilig wird, zu warten, bis mir einmal das Glück so lächelt, daß ich auch sie glücklich machen kann. - Habe ich eigentlich das Recht, von ihr zu verlangen, daß sie warten und immer warten soll? Und wie lange wird das Warten dauern! O glaube mir, Mutter, wir beide können alt werden, ehe für mich der Augenblick des Glücks eintritt!«
»Wie kannst du so verzagt sprechen!«
entgegnete die alte Frau; »das hab ich noch nie von dir gehört. Du, sonst immer voll der schönsten Hoffnungen, du, der alle Widerwärtigkeiten, - ja, ich muß dir das Kompliment machen - mit einer staunenswerten Kraft und Geduld aushielt; der mir in jeder Beziehung eine so feste Stütze war, zu dem ich wahrhaft beruhigt aufsah, und von dem ich mir oft sagte: Heinrich ist ja da, dein Sohn! In seiner Hand muß noch alles gut und schön werden.«
»So hast du freilich gedacht, und ich dachte fast ebenso von mir selbst. Hast du auch bis jetzt je gesehen, daß ich den Mut sinken ließ; haben mich die Widerwärtigkeiten, die uns betroffen, im geringsten gebeugt? Aber das von vorhin,« setzte er leise hinzu, »das hat mich ins Herz getroffen. Und wenn das Herz verletzt wird, so ist auch der Mut dahin.«
Die alte Frau wiegte unmutig mit dem Kopfe hin und her, während sie sagte: »Schlag
dir doch diese Grillen aus dem Sinn. Du wirst sehen, das klärt sich alles zum guten auf, und ebenso, was dein Geschäft anbelangt. Ist doch aller Anfang schwer. Aber ich habe ein ahnungsvolles Gemüt, dein Schicksal wendet sich einmal plötzlich.«
»Ja, nachdem ich so viel Herzeleid durchgemacht,« sprach düster der Photograph, »daß mich das Glück nicht mehr freut, wenn es endlich bei mir einkehrt.«
»Ach was - ich
weiß noch, wie deine Großmutter selig, die es auch nicht leiden konnte, wenn man immer von Unglück sprach, und von Leuten, die stets vom Unglück verfolgt würden, - wie deine Großmutter zu sagen pflegte. Glück hat jeder Mensch, sagte sie, nur muß er es zu fassen wissen. Aber freilich gibt es Menschen, die, wenn das Glück an ihre Thür klopft, nicht einmal Herein! rufen.«
In diesem Augenblick klopfte es leise und
bescheiden an die Thür des photographischen Ateliers.
Dieses Klopfen kam so apropos, daß sowohl die alte Frau wie ihr Sohn sich betroffen anblickten und keines das eben erwähnte Wort aussprach, so daß draußen zum zweitenmal geklopft wurde. Jetzt rief jedoch der Photograph :»Herein!« Die Thüre öffnete sich, und auf der Schwelle erschien ein herrschaftlicher Lakai in einfacher, aber eleganter Livree, der den Kopf zur Thür
hereinsteckte und mit leiser Stimme fragte: »Hier wohnt doch der Photograph, dessen Name unten an der Hausthür steht?«
»Allerdings, der Photograph Heinrich Böhler.«
»Und ist zu Hause?«
»Ich bin es selber.«
»Ah!« versetzte der Lakai und zuckte mit seinem Kopfe, wie zu einer leichten Begrüßung, vorwärts, wobei er die Schultern, dieser Bewegung anpassend, in die Höhe hob. »So habe
ich denn zu fragen, ob Sie Zeit hätten, augenblicklich ein Porträt zu machen.«
»Vollkommen Zeit und sehr gutes Licht,« entgegnete der Photograph, wobei er einen Blick auf seine Mutter warf, die in tiefen Gedanken dasaß und wahrscheinlich an seine Großmutter dachte, an den Augenblick des Glücks, an das Klopfen und Hereinrufen.
»So werden wir sogleich kommen,« sagte der Lakai, langte mit zwei Fingern an seinen Hut und
verschwand geräuschlos, aber eilig die Treppen hinab.
Während der junge Mann sich daran machte, ein paar seiner größten Glasplatten zu präparieren, rückte Frau Böhler ihre Haube zurecht und wischte mit der Schürze eilig über den tannenen Tisch, sowie über die Stühle an den Wänden, obgleich dort nirgends ein Stäubchen sichtbar war. »Ich weiß, du lachst mich immer aus, wenn ich von Ahnungen
spreche,« redet sie dabei. »Aber diesmal hab ich recht. Es ist was ganz Apartes, vielleicht jemand vom Hof. O du mein lieber Gott, wenn es dir heute nur recht gelingt!«
Jetzt hörte man Schritte auf der Treppe, dann wurde die Thür geöffnet, und der Lakai erschien, indem er dieselbe, außen stehen bleibend, so weit wie möglich zurückwarf und dann mit einer tiefen Verbeugung zwei Herren vorbeigehen ließ. die nun in das Zimmer traten.
Der erste, vielleicht ein Mann an den Vierzigen, hatte eine hohe, schlanke und elegante Figur; er trug einen dunklen Paletot, im Knopfloch ein rotes
Bändchen, lederfarbene, untadelhafte Handschuhe, und seine Haltung war entschlossen und aufrecht wie die eines Militärs. Sein Gesicht mit klugen Augen war interessant; man hätte es schön nennen können, wenn in den Zügen nicht ein matter, ja verlebter Ausdruck vorgeherrscht hätte. Er nahm seinen Hut ab, grüßte herablassend die alte Frau und den jungen Mann, welch letzterer eine tiefe Verbeugung machte, und sagte dann zu dem anderen, der
ihm folgte:
»Baron, das ging hoch hinauf!«
»Nicht ohne Ursache, gnädiger Herr,« versetzte dieser mit leiser Stimme; »der Mann hier soll gute Arbeit machen, ohne daß er gerade einen besonders großen Zulauf hat.«
Der, welcher also sprach, hatte ein ganz anderes Wesen als der, welcher zuerst eingetreten war, war viel kleiner und sah ungleich älter aus. Er war fast in das Zimmer herein getänzelt und bewies
sich in allen seinen Bewegungen außerordentlich gelenkig; doch hatten diese Bewegungen etwas Forciertes, und es war, als wende er sich bald rechts und bald links, um eine gewisse Steifheit und Hinfälligkeit seines Körpers zu verdecken. Sein Gesicht hatte einen ungemein klugen Ausdruck, dabei aber ein fatales Lächeln, ein Lächeln, bei dem man sich unwillkürlich sagen mußte, es sei nicht ehrlich gemeint.
Aber es wäre unrecht
von uns, dem wahrhaftigen Erzähler, gehandelt, wenn wir mit dem geneigten Leser Versteckens spielen wollten. Daher wollen wir es seiner Verschwiegenheit anvertrauen, wenn er es nicht vielleicht schon erraten hat, daß der zuletzt Eingetretene Baron Rigoll war. Was jedoch den anderen anbelangte, den wir nur auf einen Augenblick in der Wohnung des Baron Wenden gesehen, so sind wir mit dem besten Willen selbst nicht im stande, etwas Näheres über diesen Herrn
anzugeben.
»Wir wünschen also ein Porträt,« sagte der Baron, nachdem er in der Geschwindigkeit an der einen Wand des Zimmers heruntergefahren war und die dort aufgestellten Photographien betrachtet hatte; »ein Porträt, gut, aber sehr einfach. - Ah!« unterbrach er sich selber, »ist das ein schöner Kopf!« Er stand gerade an dem Bildnis jenes jungen Mädchens, über welches die verdorrten Feldblumen herabhingen. »In der That superbe,
magnifik! Wollen Euer - wollen Sie, gnädiger Herr, sich das nicht einen Augenblick betrachten? Ein ganz wunderbares Geschöpf! - Das existiert doch irgendwo?« wandte er sich fragend an den Photographen.
»O ja, es existiert,« erwiderte dieser mit einer tiefen Neigung des Kopfes.
»Das ist wirklich ein schönes Mädchen,« sprach der andere Herr, »und gut ausgeführt. Eine hübsche nette Arbeit. Ich glaube, wir sind an die
rechte Quelle gekommen.«
»Das glaub ich auch,« entgegnete Baron Rigoll mit seinem seltsamen Lächeln; »und es sollte mich freuen, wenn wir reussieren.«
»So wollen wir denn sogleich beginnen,« meinte der andere, indem er sich an den jungen Mann wandte.
Dieser hatte schon den Stuhl zwischen den spanischen Wänden zurecht gerückt, und bat den großen schlanken Herrn, Platz zu nehmen; ehe sich derselbe aber
setzte, wünschte er, daß man alles Beiwerk, Tisch, Vase, Blumen und Vorhänge weglasse, indem er wiederholte, es solle ein ganz einfaches Porträt werden.
Die Haltung, welche der Fremde hierauf von selbst annahm, war so gut gewählt und passend, daß weder der Photograph, noch Herr Krimpf es hätte besser arrangieren können.
Nun wurde die gespensterhafte Maschine von dem dunklen Tuche befreit und gestellt. Der
Photograph schaute einen Augenblick hinein, richtete das Objektiv, dann schob er die Kassette mit dem präparierten Glase ein, bat den Fremden, ruhig zu sitzen und nahm den Deckel von dem Glase.
Eine Sekundenuhr hatte sich der gute Herr Böhler noch nicht anschaffen können, deshalb zählte er von eins bis zwölf, wie er es bis jetzt gewohnt war, gleichförmig vor sich hin, und ebenso that die alte Frau, welche in der größten
Spannung in der Ecke des Zimmers stand. Dabei können wir nicht verschweigen, daß diese, in ihrem ahnungsvollen Gemüte den Augenblick für außerordentlich wichtig ansehend, kleine Gebetsätze mit einfließen ließ, wobei sie, da es noch keine besonderen Heiligen für die Photographen gibt, verschiedene, die ihr gerade einfielen, bestens ersuchte, das gegenwärtige Porträt ihrem Sohn zu Nutz und Frommen gelingen zu lassen. Das Licht
war günstig, der fremde Herr saß wie eine Mauer, und nach Verlauf der zwölften Sekunde machte Herr Böhler eine tiefe Verbeugung, wobei er mit der Hand den Schließdeckel des Glases gegen den Sitzenden schwenkte, was bei den Photographen ungefähr ebensoviel sagen will, wie bei den Soldaten das bekannte: Rührt euch!
Hierauf begab sich der Photograph mit der geschlossenen Kapsel in
die dunkle Kammer, um das Porträt hervorzurufen und zu fixieren. Es schien außerordentlich gelungen, und nachdem die Glasplatte mit Wasser abgespült war, brachte er sie den beiden Herren zur Ansicht. Allerdings war das Porträt scharf und gut gekommen, nur wunderte sich der fremde Herr, ja er erschrak fast einigermaßen darüber, daß er auf dem negativen Bilde natürlicherweise mit schneeweißem Haar, eben solchem Bart, dagegen mit fast
schwarzem Gesicht, einem sehr bejahrten Mohren nicht unähnlich, erschien.
»Unser photographischer Freund dorten,« sagte er, nachdem er sein Porträt eine Zeitlang betrachtet, »erklärt das Bild für gelungen; also ist das Licht vollkommen günstig, weshalb Sie sich jetzt ebenfalls hinsetzen müssen, bester Baron; ich verlange das als einen Beweis der Freundschaft, und werde Ihr Bild gern mit mir nehmen.«
»Es wäre mir
wahrhaftig im Schlafe nicht eingefallen,« entgegnete der andere, »mich photographieren zu lassen; aber nach der schmeichelhaften Aufforderung von Ihnen, gnädiger Herr, kann ich nicht umhin, mich preiszugeben. Eigentlich scheue ich die ganze Photographie; es ist etwas Unheimliches dabei, und ich kann es mir nicht anders denken, als daß sich doch etwas von dem Darzustellenden selber auf der Glastafel niederschlägt.«
»Natürlicherweise, ich habe
es auch nie anders angesehen,« sprach der schlanke Herr, »und eben deshalb wird Ihr Porträt, von dem wir einen doppelten Abdruck machen werden, an gewissen Orten außerordentlich willkommen sein.« Inzwischen hatte sich Baron Rigoll auf den verhängnisvollen Stuhl gesetzt, nahm aber nicht die leichte und graziöse Stellung ein, wie sein Vorgänger. Der Photograph mußte länger nachrichten, ihm Arme und Hände zurecht rücken, namentlich aber
seinen Blick fixieren, damit derselbe nicht gar zu geschraubt und unnatürlich käme. - Übrigens gingen die zwölf Sekunden ebenfalls ohne Anstand vorüber, das Bild wurde hervorgerufen und genügend befunden.
»Gott sei Dank!« sagte der Baron, als er von seinem Sitze aufsprang, »das wäre geschehen. Jetzt sind wir wohl fertig?« wandte er sich an den Photographen.
Dieser machte seine tiefe Verbeugung, dann fragte er,
wie viele Abdrücke er herrichten solle. - Der große schlanke Herr warf dem anderen einen bedeutsamen Blick zu, worauf sich Baron Rigoll bestrebte, eine ernste und würdevolle Haltung anzunehmen. Auch ließ er von seinem beweglichen Wesen ab und stellte sich dicht vor den Photographen hin.
»Wer wir sind, wird Sie nicht interessieren, aber ich bitte Sie auch dringend« - sprach er in scharfem Tone - »jedwede Nachforschung danach zu unterlassen.
Von jedem der beiden Porträts werden zwei Abdrücke gemacht, dann wird die Glastafel vernichtet. Haben Sie mich verstanden? - Wohl. - Diese Abdrücke werde ich holen lassen, vielleicht übermorgen, wenn sie alsdann fertig sind.«
Herr Böhler machte ein Zeichen der Zustimmung.
»Also übermorgen bitte ich sie demselben Bedienten, der vorhin da war, wohl verpackt und versiegelt zu übergeben, ihm auch den Preis zu bestimmen und sich darin durchaus nicht zu genieren. Befolgen Sie unsere Wünsche pünktlich, so wird es Ihr Schaden nicht sein, und werden wir in einiger Zeit Veranlassung finden, Ihrer Arbeiten, wenn sie es verdienen, lobend zu erwähnen und Ihnen so vielleicht eine gute Kundschaft zuzuwenden. - Noch eins, ehe wir gehen. Eine Dame meiner Bekanntschaft ist geneigt, sich bei Ihnen photographieren zu lassen, nur wünscht sie eine Ihrer Arbeiten zu sehen. Könnten Sie mir wohl zu diesem Zweck einen Abdruck des Bildnisses jenes jungen Mädchens dort überlassen? Ich erlaube mir, Ihnen zu bemerken,« fuhr der Baron fort, als er sah, daß ihn der junge Mann mißtrauisch anschaute, ohne eine Antwort zu geben, »daß damit in keiner Weise Mißbrauch getrieben werden soll; ja,