Friedrich Wilhelm Hackländer
Der Augenblick des Glücks
Kapitel 7
eingestellt: 15.7.2007
Dies letzte Wort durchzuckte den jungen Offizier, als hätte ihn ein Blitzstrahl getroffen. Er biß sich die Lippen fast blutig, zog den Atem mühsam an sich und that einen raschen Schritt vorwärts gegen den Mann, der es wagte, an einem Ort, wie der, wo sie sich befanden, ihn so grausam zu beleidigen. - Glücklicherweise aber war es der Oberstjägermeister, der ihn durch eine hastige Bewegung rückwärts
ebenso schnell wieder kalmierte, als er den flammenden Zorn des Majors erregt hatte. Ja, Seine Exzellenz trat fast hinter die Fenstervorhänge, streckte die rechte Hand von sich und rief erschreckt aus:
»Ich bin wehrlos und Sie bewaffnet. Vergessen Sie aber nicht, daß wir im Schlosse sind!«
Wie gesagt, diese hastige Bewegung des Oberstjägermeisters ließ allen Zorn des jungen Mannes plötzlich verschwinden, seine Muskeln
spannten sich ab, und indem er in einem verächtlichen Tone sagte: »In der That, ich werde es nicht vergessen, wo wir sind, und wen ich vor mir habe!« wandte er sich ohne Verbeugung, ohne Gruß um und verließ mit raschen Schritten den Audienzsaal. Trotz alledem aber pochte ihm das Herz doch gewaltig, als er über den Korridor ging und die Treppen hinabstieg, die zur Wohnung des Regenten führten. Es war gut, daß der Weg, den er zu machen hatte, ziemlich
lang war, und daß er sich deshalb so weit beruhigen konnte, um ganz gefaßt in das Zimmer des Herrn Kindermann einzutreten. Mit einem aufgeregten verstimmten Wesen hätte der junge Offizier auch durchaus nicht in die Nähe des alten Kammerdieners gepaßt; denn dieser saß in der rosenfarbigsten Laune in seinem Lehnstuhle und sprang beim Anblick des Adjutanten mit einer gar possierlichen Tanzbewegung in die Höhe.
»Herr von Fernow,«
sagte er, indem er freudig die Hände zusammenschlug, »ich glaube, wir haben heute einen ganz vortrefflichen Tag. Ich habe etwas erlebt, was seit langen Jahren nicht mehr geschehen ist. Seine Hoheit haben mich vorhin an diesem meinem rechten Ohrläppchen gezupft und dazu gesagt: Kindermann, wenn wir nicht so ein altes schwatzhaftes Weib wären, so sollten wir erfahren, daß wir heute eine Augenblick des Glücks gehabt haben. Nun wissen Sie, Herr von Fernow, der
Regent das sagen und ich meine Schleusen aufziehen, das war eine Sache des Handumdrehens. Vor Ihnen habe ich keine Geheimnisse. Sie gehören von jetzt ab zum innern Haushalte; wissen Sie also - «
Der Ton der Klingel aus dem Kabinett des Regenten unterbrach den redseligen Kammerdiener. Er hüpfte hinter die Vorhänge, und als er wieder zurückkam, machte er eine bezeichnende Handbewegung nach der Thür des Kabinetts, wobei er flüsternd
sagte:
»Morgen mehr. Ich habe ein paar Ausgänge zu machen. Seine Hoheit ist so vortrefflich gelaunt, daß, wenn Sie sich heute eine Gnade ausbitten, er Ihnen nichts abschlagen wird.«
In der That saß auch seine Hoheit in sehr froher Stimmung, die auf seinem Gesichte widerstrahlte, vor seinem Schreibtische. Beim Eintritt des Offiziers streckte er ihm die Hand entgegen, was er bisher nie gethan, und sagte verbindlich:
»Ich danke Ihnen, lieber Fernow, für Ihre guten und getreuen Dienste. Ich denke eifrig an eine Belohnung für Sie und werde suchen, die Hindernisse, welche sich noch entgegenstellen, auf die Seite zu räumen. - Wenn Sie nach Hause fahren, so thun Sie mir die Liebe und passieren bei Wenden. Ich will ihn vor der Tafel sprechen. - Apropos, erinnern Sie sich noch des Abends neulich, als Sie ungerufen in mein Kabinett kamen. Ich glaube, das war für uns zwei eine gute
Begegnung.«
»Für mich wenigstens war es ein Augenblick des Glücks,« sprach der junge Mann mit einer ehrerbietigen Verbeugung, »denn das Vertrauen, welches mir Eure Hoheit bewiesen, hat mich zum glücklichsten Menschen gemacht.«
»Zum glücklichsten vielleicht noch nicht,« entgegnete lächelnd der Regent; »aber was nicht ist, kann noch werden. Wenn Sie es nur in ihrer wichtigsten Angelegenheit mit einem anderen Charakter, als
mit dem des Baron Rigoll, zu thun hätten! - Doch hoffen Sie auf die Zukunft, wir wollen sehen.«
Der Regent wandte sich nach einer freundlichen Handbewegung wieder zum Schreiben um, und der junge Offizier verließ das Kabinett und gleich darauf das Schloß. Als er an einer Nebenthür in seinen Wagen stieg, fuhr eben die Equipage Seiner Exzellenz des Oberstjägermeisters davon.
»Kein Licht ohne Schatten,« sprach der Major
achselzuckend zu sich selber; »keine Rose ohne Dornen; aber was auch kommen mag, für heute soll mir nichts die Erinnerung trüben, an den da oben genossenen wunderbaren Augenblick des Glücks.«
Sechzehntes Kapitel.
Rosa.
Herr Krimpf bewohnte eine Dachstube, die ziemlich einfach möbliert war. Dieselbe lag in stiller Einsamkeit im vierten Stock des uns wohlbekannten Hauses in der Pfahlgasse, weshalb der
Bewohner von Besuchen nicht sehr gestört wurde; ja, die beinahe einzigen lebenden Wesen, die sich hier oben sehen ließen, war der Vater einer gegenüber wohnenden Sperlingsfamilie oder ein paar Katzen aus der Nachbarschaft. Diese Stille und Ruhe neben dem etwas starken Bordeaux, den der kleine Maler an jenem Abend zu sich genommen, war denn auch wohl schuld daran, daß er am darauffolgenden Morgen länger als gewöhnlich schlief. Herr Krimpf war sonst,
namentlich während des Sommers und Herbstes, sehr frühzeitig auf und liebte es, die ersten Strahlen der aufsteigenden Sonne zu begrüßen. Daß er dies aber, wie unzählige andere Menschen, mit freudigen Gefühlen that, können wir gerade nicht behaupten; vielmehr blickte er mürrisch auf die schattenerfüllten Straßen, und wenn sich droben am Kirchturmdach das erste Sonnengold zeigte, so zuckte er mißmutig mit den Achseln und
konnte sagen: »Das heißt nun gelebt! des Morgens zieh ich mich an, des Abends zieh ich mich aus. Wenn nur einmal was Anständiges dazwischen fahren wollte! So eine tüchtige Revolution oder ein ordentliches Erdbeben!«
Als der Herr Krimpf an dem Morgen nach jenem denkwürdigen Souper erwachte, erstaunte er, da er die Sonne bereits in seinem Zimmer sah, dann zuckte er mit den Händen nach seinem Gesichte, faßte seine Nase und indem er sie
bedächtig abwärts zog, haschte er in seinem Kopfe nach hin und wider blitzenden Erinnerungen; doch mußte er einen tüchtigen Anlauf nehmen, das heißt, er mußte sich in Gedanken auf die Terrasse des Schlosses versetzen, dann die Straßen wandeln, die er gestern durchgangen, endlich vor der Restauration stehen bleiben; ja, er mußte sich den kleinen Spazierstock mit dem goldenen Knopfe vor sein inneres Auge rufen, ehe es ihm möglich wurde,
eine Art von System in die Erlebnisse des gestrigen Abends zu bringen. Daß er mit einem fremden Herrn soupiert, wurde ihm bald wieder klar, auch daß er gut gegessen und viel Wein getrunken. Dann aber kam eine schleierhafte, traumartige Zeit; jetzt noch, in der Erinnerung, brannten die Lichter trübe, und es war ihm, als sei die Stube voller Staub gewesen.
Herr Krimpf erhob sich von seinem Bette in die Höhe und war augenscheinlich nicht ganz
zufrieden mit den bei sich selber angestellten Nachforschungen. Etwas war noch vorgefallen, das wußte er. Er mußte mehrmals rückwärts gehen; er mußte sozusagen wieder mit dem ersten Glase Bordeaux beginnen. Ah! jetzt fing er an, einen Faden in die Hand zu bekommen. Der andere, der Offizier, hatte gewußt, wer er sei, daß er Krimpf heiße. Ja, so wars. Der kleine Maler mußte selbst lächeln, als er fühlte, wie der Nebel in
seinem Kopfe zu weichen anfing, und als der gestrige Abend immer klarer vor ihn trat. Er bildete sich überhaupt gern etwas auf seine geistigen Fähigkeiten, namentlich auf sein Gedächtnis ein, und dies Gedächtnis war in der That für Sachen, die Herr Krimpf behalten wollte, nicht schlecht. - Der Offizier hatte also gewußt, daß er in der Pfahlgasse wohne, und dann hatte er von der Rosa gesprochen. - Richtig, die Rosa! - An diese sollte er einen Brief
besorgen, den der andere ihm gegeben. - - Den er ihm gegeben? Nein, nein, er hatte ihm nichts gegeben. - Den er ihm erst geben wollte, und zu dem Zweck sollte er, der Maler, den Offizier besuchen. - Aber wo? - - Teufel! das hatte er vergessen, und das war recht ungeschickt. So viel erinnerte er sich wohl noch, daß dessen Wohnung auf einem der Plätze der Stadt gelegen war. Aber weiter. »Es fällt mir schon ein,« dachte er. »Damit jedoch war unsere Unterredung noch nicht
zu Ende,« sprach er nach einer Pause zu sich selber, während welcher er sich heftig die Stirn gerieben hatte. »Ist es mir doch gerade, als seien wir in Streit zusammengeraten, der junge Offizier und ich. Geschimpft und geflucht wenigstens hab ich. - Dann meine ich auch, ich hätte etwas, das mir ziemlich wichtig gewesen, auf den Boden geworfen. Holla! so wird es sein. Alle Donnerwetter!«
Bei diesen letzten Worten sprang Herr Krimpf mit einem einzigen Satze aus dem Bette und stürzte mit einer außerordentlichen Hast auf seinen Rock zu, dessen Taschen er in aller Geschwindigkeit untersuchte. - Darin war nichts zu finden, und er wußte doch, daß er die beiden Photographien bei sich gehabt. Es sah komisch aus, wie der kleine Maler jetzt die Hand mit seinem Rock herabhängen ließ, mit einem ziemlich nüchternen, ja trostlosen
Blick an den glänzenden Morgenhimmel hinauf sah und sich am Kopfe kratzte. - »Ja, die Photographien habe ich weggegeben!« sagte er endlich, »und der Henker mag wissen, in welchen Händen sie sich nun befinden. Krimpf, das ist ein schlimmes Stück Arbeit! Aber mich soll der Teufel lotweise holen, wenn ich mich nicht auf die Adresse besinnen will, welche mir der Offizier gegeben. - Ein Platz in der Stadt war es. Habe ich denn nichts dabei gedacht, als er mir ihn nannte?
- Es ist ein gutes Mittel, sich bei einem Namen etwas zu denken, wenn man ihn wiederfinden will. - Richtig, an Wasser hab ich gedacht. An sprudelndes Wasser! - Ich habs, ich habs - an eine Fontäne! Ah! der Kastellplatz! Donnerwetter! - Nun aber die Nummer! Bei der Nummer hab ich auch etwas angeschaut. Hm, hm! was habe ich doch angeschaut? Das Fenster mit acht Scheiben? Numero acht? Nein, das wars nicht! Die drei Flaschen auf dem Tische? Auch nicht. Und doch hab ich an was
gedacht. - Nein, kein Überlegen hilft. Aber auf dem Kastellplatze will ich mich schon zu ihm fragen. Bestellt hat er mich, und da ich nicht weiß, zu welcher Stunde, so will ich halt den Morgen hingehen und warten, bis er nach Haus kommt!«
Nachdem Herr Krimpf dies bei sich überlegt, schmunzelte er vergnügt in sich hinein, wenn er an das vortreffliche Souper dachte, welches er gestern abend
eingenommen, und an den guten Wein, der ihm gar keine Kopfschmerzen verursacht. Er stäubte seine Stiefel provisorisch mit einer Kleiderbürste ab, schlenkerte die Hosen hin und her, um sie von dem Staub zu befreien, und nachdem er beides angezogen, machte er mit einer Handvoll Wasser seine übrige Toilette, zog Weste und Rock an und begab sich in das Atelier hinab.
Frau Böhler hatte ihm seinen Kaffee aufgehoben, der Photograph aber war
ausgegangen, um eine fertig gewordene Arbeit dem Besteller zu überbringen. Da zwischen der alten Frau und dem kleinen Maler nie ein besonders gutes Einverständnis geherrscht, so war es nicht auffallend, daß beide außer dem herkömmlichen »Guten Morgen« nichts weiter miteinander redeten. Frau Böhler ging in ihre Küche, und da keine dringende Arbeit vorhanden war, nahm Herr Krimpf seinen Hut, um etwas frische Luft zu schöpfen. Er stieg langsam
die Treppen hinab, und nachdem er einen Augenblick überlegt, klopfte er an der Thür von der Wohnung der Frau Witwe Weiher. Auf ein lautes »Herein!« der alten Frau öffnete Herr Krimpf, und ein einziger Blick in das geräumige Zimmer belehrte ihn, daß Rosa ausgegangen sei. Ihre Mutter saß am Tische neben dem Ofen und schälte Kartoffeln.
Der kleine Maler nickte ihr freundlich mit dem Kopfe zu, und dann ließ er sich faul und
nachlässig, wie jemand, der außerordentlich viel Zeit übrig hat, auf einen Stuhl, der alten Frau gegenüber, nieder. »Immer fleißig?« fragte er alsdann gähnend.
»Man muß wohl!« meinte Madame Weiher. »Wer nichts schafft, hat nichts zu essen, oder es muß einem so gut gehen, wie Euch.«
»Daß sich Gott erbarm,« entgegnete Herr Krimpf, und seine weißen Finger zuckten nach seinem Haar. »Uns gut gehen!
Davon hab ich lange nichts mehr gemerkt. Ihr habt doch was, wenn Ihr arbeitet, wir aber da oben - na, na, man muß sein Geschäft nicht verachten.«
»So, so? Es geht wieder einmal gar nicht?« fragte neugierig die alte Frau, wobei sie Kartoffeln und Messer in den Schoß fallen ließ. »Ja, ich hab es immer gesagt, die Künstlerschaft, s ist doch nichts dahinter. Und nun gar das Photographieren, da warten zu müssen, wie die Spinne in ihrem
Netz, bis einmal eine unglückliche Fliege sich hinein verirrt!«
»Es ist ein trauriges Geschäft,« erwiderte Herr Krimpf mit sehr ernster Miene. »Ich werde es auch nächstens aufstecken und mich wieder vollständig der Malerei zuwenden. Die vielen Auslagen bei dem Photographieren! Und macht man wirklich was Hübsches, so meinen die Leute, sie müßten es geschenkt haben.«
Frau Weiher nickte mit dem Kopfe, indem sie
eifrig wieder anfing, ihre Kartoffeln zu schälen.
»Das habe ich der Rosa schon tausendmal gesagt,« sprach sie nach einer kleinen Weile. »Da ist vorn und hinten nichts; da heißt es immer: warten und warten. Ja, und bei dem Warten wird man alt, und was hat so ein armes Mädchen, wenn einmal die erste Jugendfrische vorüber ist?«
»Aussicht auf ihren Bräutigam, unseren Herrn Böhler!« lachte boshaft der kleine Maler.
»Aussicht auf gar nichts,« fuhr die Frau fort; »und damit verschlägt sich das Mädchen andere ordentliche Partien.«
»Ja, ja, es ist eigentlich sonderbar,« meinte nachdenklich Herr Krimpf. »Die meisten Freundinnen Rosas haben sich schon verheiratet. Da ist die Anna Korn und die Christiane Ringel, und wie ich gestern hörte, soll es auch jetzt mit der Emma Schwertel losgehen.«
»Mit ihrem Lieutenant?« fragte
überrascht die alte Frau.
»Mit ihrem Lieutenant, der daneben ein reicher Baron ist,« bekräftigte der kleine Maler, wobei er schlau nach der Frau hinüberblinzelte, um zu sehen, welchen Eindruck diese Nachricht auf sie mache.
Die Mutter Rosas saß kopfschüttelnd da, und da sie gedankenvoll zum Fenster hinausblickte, so hatten die Kartoffeln wieder einen Augenblick Ruhe.
»Die Emma Schwertel!« sprach sie
achselzuckend. »Kann die sich wohl mit meiner Tochter messen? Und hat gar keine Familie, die sich sehen lassen darf! Der alte Weiher aber war Amtsdiener und mein Bruder ist Stadtrat. Und der Lieutenant hat wirklich ehrliche Absichten?«
»Sie wird Baronin,« behauptete Herr Krimpf mit bestimmtem Tone; dann erhob er sich langsam und setzte hinzu: »Aber das muß man auch der alten Schwertel nachsagen, einen Geist hat die Frau und immer die Hand fest darauf
gehalten! Dann ist die Emma selbst ein verständiges Mädchen.«
»Nun, was das anbelangt, so wollen wir lieber sagen, sie hat mehr Glück als Verstand; denn mit einem Lieutenant anbandeln, das führt gewöhnlich zu etwas anderem als zur Baronin. Wenn die Rosa hätte Lieutenants haben wollen, so würde das Haus hier wie eine Kaserne aussehen. Aber nichts für ungut, Krimpf,« fuhr die Frau fort, indem sie außerordentlich dicke
Schalen von ihren Kartoffeln herunterschnitt. »Ihr könnt es droben wieder erzählen oder nicht: ich werde nächstens einmal ein vernünftiges Wort mit Herrn Böhler sprechen. Die Geschichte fängt an, mir langweilig zu werden. Und darin muß es klar werden. So eine ewige Brautschaft ist das Hinderlichste, was einem Mädchen passieren kann.«
»Wo ist denn die Rosa?« fragte Herr Krimpf süß lächelnd.
»Sie trägt einige Arbeiten in die Handlung. Ich versichere Euch, das Mädchen ist fleißig und geschickt, daß sie ganz gut von dem leben könnte, was sie verdient. - Ja, ja, die Sache muß klar werden.«
Damit erhob sie sich ebenfalls, schüttete die Kartoffeln in eine Schüssel und trat einen Augenblick ans Fenster, um nach dem gegenüberliegenden Hause zu schauen. Dort war wie gewöhnlich in letzter Zeit das eine Fenster
offen; an demselben stand der kleine Fauteuil, und auf dem Gesimse lag der unvermeidliche Blumenstrauß.
Herr Krimpf blickte auch hinüber und lächelte still in sich hinein.
»Der wär mir auch lieber,« sagte er hierauf, »als der Emma Schwertel ihr Lieutenant.«
»Habt Ihr was über den da gehört, Krimpf?« fragte die Frau.
»O ja, gehört manches; und was ich gehört, muß
wahr sein, denn ich habe es von einem seiner guten Freunde. Der Herr da drüben hat sich so in die Rosa verliebt, daß ihm alles daran gelegen ist, das Mädchen einmal sprechen zu können.«
»Sprechen?« fragte mißtrauisch die alte Frau.
»Nun ja, hier in ihrer Wohnung. Daran wird doch wohl nichts Schlimmes sein?«
»Krimpf, Krimpf! Das sind gefährliche Sachen! Denkt nur an unsere Nachbarschaft und an da oben.!«
»Es fällt mir auch nicht ein, Euch dazu zu raten. Ich sage nur, was ich gehört. Gott soll mich bewahren, daß ich mich in so was hinein mische. Aber so viel muß ich
hinzusetzen, der da drüben soll ein sehr geordneter Herr und außerordentlich reich sein.«
Die alte Frau sann einen Augenblick nach, dann sagte sie wie zu sich selber:
»Im Grunde kann ich niemand verbieten, in unsere Wohnung zu kommen, wenn er irgend etwas kaufen oder bestellen will.«
Herr Krimpf war ebenfalls nachdenklich geworden und wiederholte ebenso mit leiserer Stimme als zuvor:
»Ja, das kann
man freilich niemand verbieten! Und dann ist die Rosa ein gescheites Mädchen und weiß schon, was sie zu thun und zu lassen hat. - So, jetzt hab ich Euch guten Morgen gesagt, grüßt mir Eure Tochter freundlich, und wenn ich Euch einen guten Rat geben darf, so glaubt mir, es ist besser, wenn Ihr von dem da drüben nichts zu ihr sagt.«
Herr Krimpf hätte eigentlich nicht nötig gehabt, der Mutter diesen Rat zu geben, denn sie war
ohnedies entschlossen, ihrer Tochter die gute Partie der Emma Schwertel vor Augen zu halten und sie zur Klugheit zu ermahnen.
Der Maler ging seiner Wege und war bald auf dem Kastellplatz. Es wurde ihm leicht, in einem dortigen Laden die nötige Erkundigung einzuziehen, und so erfuhr er denn, daß der Major von Fernow, Adjutant des Regenten, im ersten Stock desselben Hauses wohne, sowie weiter, daß
dieser Herr gewöhnlich mittags um zwölf Uhr nach Hause komme. Herr Krimpf verfehlte nicht, sich um diese Stunde einzustellen und sich melden zu lassen.
Herr von Fernow empfing seinen Gast von gestern abend mit freundlichem Lächeln, und indem er es ihm leicht machte, über die kleinen Verlegenheiten hinwegzukommen, welche jenem die Erinnerung an seinen unzurechnungsfähigen Zustand verursachte, gab er ihm mit wenigen Worten der Anerkennung
die beiden Photographien zurück, die, wie der geneigte Leser bereits weiß, vollkommen ausgedient und ihren Zweck erfüllt hatten.
Was die andere Sache anbelangt, so verfehlte der Major nicht, dem kleinen Maler die Zeilen des Kammerherrn zu übergeben, indem er ihm strenges Stillschweigen anempfahl und sich womöglich im Laufe des Nachmittags eine Antwort erbat.
Herr Krimpf wandte das Schreiben nach allen Seiten, und
während seine rechte Hand nach der Stirn emporzuckte, erlaubte er sich die Bemerkung, er wolle allerdings die Zeilen übergeben, doch sei eine schriftliche Antwort nicht nötig, schwerlich würde sich auch das Mädchen zu einer solchen entschließen. Der Freund des Herrn Majors könne ja ohne allen Anstand in das Haus kommen, um irgend eine Bestellung oder einen Ankauf zu machen, und alsdann sehen, ob ihm das Glück günstig sei. Hierzu sei
zwischen fünf und sechs Uhr nachmittags die beste Stunde.
Diesen Vorschlag fand Herr von Fernow in mehreren Beziehungen passend, und indem er sagte: »So kann die Bestimmung zwischen fünf und sechs Uhr als Antwort gelten,« empfahl er dem kleinen Maler dringend, das Billet auf alle Fälle zu übergeben und entließ ihn alsdann mit einem glänzenden Geschenk, welches anzunehmen sich übrigens Herr Krimpf mit Mund und Hand, das
heißt mit der rechten Hand, weigerte, während die linke es langsam in die Rocktasche schob. Dann ging er nach Hause zurück, und während er der Pfahlgasse zuschlenderte, überlegte er, ob es in der That rätlich sei, das Briefchen an seine Adresse zu befördern.
»Eigentlich ist es unnötig,« sprach er bei sich selber. »Hat der Herr da drüben das Verlangen, sein Abenteuer mit Rosa zu bestehen, so mag in der That die Bemerkung,
daß zwischen fünf und sechs Uhr die passendste Zeit ist, als Antwort gelten, und er kann thun, was ihm beliebt. Warum soll ich eigentlich die Kastanien aus dem Feuer holen? Weist sie den Brief zurück, so hat sie auch keine Verpflichtung, vor meinem Freund und Kollegen Böhler zu schweigen, und dann könnte ich doch mit demselben in sehr unangenehme Erörterungen geraten. Besser, wir behalten den Brief als Muster, wie vornehme Leute dergleichen Sachen
schreiben.«
Mit diesen löblichen Vorsätzen stieg der Herr Krimpf langsam die Treppen hinauf und kam gerade zur rechten Zeit, um an dem bescheidenen Mittagsmahl der Familie teilzunehmen. Der Photograph war nicht froh gestimmt, und selbst Frau Böhler, die sonst alles in rosenfarbener Laune anzusehen pflegte, war etwas mißvergnügt. Unangenehmes war eigentlich nicht vorgefallen; nur hatte sich der Augenblick des Glücks, als jene beiden
Herren damals in dem Atelier erschienen, noch nicht als solcher bewährt, denn es waren weder Nachbestellungen noch neue Kunden gekommen und die gespensterhafte Maschine blieb fast den ganzen Tag mit ihrem Tuche verhüllt.
Daß dem Herrn Krimpf sein Mittagessen ausnahmsweise gut geschmeckt habe, wollen wir gerade auch nicht behaupten. Er fühlte doch, wie schlecht er an seinem Freund und Kollegen gehandelt, und jetzt, wo die Sache eingeleitet war,
konnte er sich hie und da eines lauten Herzklopfens nicht erwehren. Es war ein Glück, daß er nie jemand frei in die Augen schaute, sondern immer nur von der Seite blinzelte; denn heute wäre ihm das erstere, besonders als Heinrich Böhler freundschaftlich wie immer sein Brot mit ihm teilte, doch unmöglich gewesen.
Nach dem Mittagessen begab sich der Photograph in eine Kunsthandlung, für die er mehrere Bilder angefertigt hatte, und der
kleine Maler nahm eine Arbeit vor, die ihm aber heute nicht besonders von der Hand gehen wollte. Er konnte weder einen ordentlichen Strich machen, noch eine rechte Farbmischung treffen. Auch horchte er immer auf die Uhr des benachbarten Kirchturmes, und wenn es ein Viertel weiter schlug, so war es ihm gerade, als schlage der Hammer auf sein eigenes Herz. Neben dem Bewußtsein des Unrechts, das er seinem Freunde zugefügt, und ebenso dem Mädchen, das ihm nie etwas
zuleide gethan, begann auch eine wilde Eifersucht in seiner Brust aufzusteigen. Herr Krimpf hatte Phantasie, und er fing an, sich die Szene, die sich ja um fünf Uhr möglicherweise ereignen konnte, mit so wilden Farben auszumalen, daß er mühsam nach Atem schnappen mußte, und daß er fühlte, wie sein Haar auf der Stirn festklebte. Hatte er doch die Stunde zwischen fünf und sechs Uhr teuflisch gut gewählt! Da war Rosa fast immer allein zu
Hause, denn um diese Zeit pflegte die alte Weiher ihre Nachbarinnen zu besuchen. - Teufel? warum raste heute die Zeit so außergewöhnlich schnell dahin! - Kaum war zwei Uhr vorüber und schon schlug es drei! Ja, im Uhrwerk muß das Räderleben ebenso heftig pulsieren, wie das Herz des kleinen Malers schlug. - Schon vier, dann halb fünf, und da er angestrengt in den unteren Stock hinablauschte, hörte er jetzt, wie die alte Frau Weiher ausging, um ihre
Besuche in der Nachbarschaft zu machen. - Ah! es war entsetzlich heiß im vierten Stock! Auf der Treppe mußte es gewiß ein wenig kühler sein.
Rosa saß in ihrem Zimmer und war still und fleißig mit ihrer Stroharbeit beschäftigt. Wenn das Band, welches sie flocht, hätte reden können, so würde die spätere Besitzerin desselben von allerlei seltsamen Gedanken, die aus ihm heraustönten, überrascht worden
sein; denn während Rosa die feinen Strohhalme kunstreich durcheinanderschob und befestigte, dachte und träumte sie unablässig, bald leise, bald laut, letzteres aber meistens in solchen Augenblicken, wenn sie die Hände mit der Arbeit in den Schoß sinken ließ, das liebe, frische Gesichtchen emporhob und mit den guten klaren Augen an das Stückchen Himmel emporblickte, das, von einem melancholischen Dachladen und von einem finsteren Schornstein
eingerahmt, gerade dadurch recht heiter und blau herniederblickte. Es war eigentümlich, daß, wenn sie die Augen niedersinken ließ, sie fast ängstlich vermied, nach dem gegenüberliegenden Fenster zu blicken, und dann doch wieder verstohlen hinübersah. Auch fühlte sie ihr Herz heftiger schlagen, wenn sie dort zuweilen eine bekannte Gestalt gewahr wurde, die sich heute nachmittag häufiger als sonst sehen ließ und auf eine fast komische
Art einen Blumenstrauß handhabte. Nicht um eine Million wäre sie ans Fenster gegangen. Sie hatte letzteres anfangs ganz unbewußt und unschuldig gethan; es war ihr wie eine kindische Spielerei vorgekommen, der sie in ihrer Phantasie gar keine Folge gegeben; und so wäre es auch geblieben, wenn der Photograph sie bei der neulichen Unterredung nicht aufmerksam gemacht und sie dadurch zu ihrem eigenen tiefen Erschrecken über eine Spielerei aufgeklärt
hätte, die sie in der That nicht für der Rede wert gehalten und die doch nicht so ganz unschuldig war, wie sie anfänglich selbst geglaubt.
Ja, sie war häufiger ans Fenster getreten, als sie früher gethan und als gerade notwendig gewesen. Sie hatte anfänglich aus Neugierde hinübergeblickt, wenn er hergeschaut, und als er drüben auffallende Zeichen machte, da hatte sie zuerst noch einmal sehen wollen, ob ihr diese Zeichen wirklich galten, und darum fuhr sie mit der Hand über ihr dunkles Haar, als jener den Blumenstrauß vor seine Lippen brachte. Doch war sie über ihr
eigenes Thun erschrocken, und daß sie eine derartige Zeichensprache so bald ohne Lehrmeister gelernt. Verstand sie doch vollkommen, wenn er drüben gestern das Zeichen des Schreibens gemacht, denn es war klar, daß er damit anzeigen wollte, er werde sich in den nächsten Tagen erlauben, einige Zeilen an sie zu richten. Was er aber heute nachmittag damit sagen wollte, daß er seinen Blumenstrauß in verschiedenen Pausen fünfmal an die Lippen gebracht,
das wußte sie nicht. - War es ihr doch auch gleichgültig, denn mehr noch als die vorwurfsvollen Worte Heinrich Böhlers hatten sie ein paar Worte ihrer Mutter zurückgeschreckt, als diese noch heute morgen von einem unverhofften Glücke sprach, das oft einem armen und schönen Mädchen widerfahren könne, und sie hierauf sehr weitschweifig von Rosas Freundin, der Emma Schwertel erzählte, die nun doch ihren Lieutenant heiraten werde, welcher
noch obendrein Baron sei. »Ja,« hatte sie hinzugesetzt, »der Herr Kammerherr Baron von Wenden ist sehr reich und so unabhängig, daß er nach keinem Menschen etwas zu fragen hat.« Rosa überlief es bei diesen Worten unheimlich, denn sie liebte ihren Verlobten innig, sie würde ihn in der That nicht verlassen haben, und wenn zehn Barone, zehn Wenden gekommen wären. Selbst daß sie lange warten mußte, bis er sich ein ordentliches Einkommen gesichert,
selbst das hatte ihre Liebe stark gemacht, denn sie wußte, welche Mühe er sich gab, und welch Unglück ihn jedesmal betroffen, wenn er am Ziele seiner Wünsche zu sein schien. - Das konnte aber nicht immer so fortgehen; auch sie hoffte auf einen endlichen Augenblick des Glücks.
Da klopfte es leise an die Stubenthür, und da das nichts Außergewöhnliches war, so rief Rosa ein herzhaftes »Herein!« Wie ward ihr aber zu Mut, als
sich nun die Thür öffnete und ihr Gegenüber, mit dem sie sich soeben beschäftigt, Herr von Wenden, in das Zimmer trat. Es war ihr, als sähe sie ein Gespenst, denn wenn sie auch thöricht genug gewesen war, aus einer Entfernung von guten hundert Schuhen nach ihm, der jetzt vor ihr stand, hinüberzulächeln, so war es ihr doch immer zu Mut gewesen, als sei das da drüben nur eine Phantasie, nur ein Bild, eine Art von Puppe, ein Automat, der wohl
einen Blumenstrauß hin und her bewegen könne, aber der weder die Macht noch die Lust habe, in ihre Nähe zu kommen. Die Gasse, welche ihr Haus von dem seinigen trennte, war ihr immer als ein Abgrund erschienen, der nicht zu überschreiten sei, über den weder Weg noch Steg führe. Unter dem Schutze dieses Abgrunds war sie ans Fenster getreten, unter seinem Schutze hatte sie gelächelt, wenn der drüben gar zu possierliche Bewegungen machte. Und das
Wesen stand jetzt vor ihr auf zwei Schuh Entfernung, sehr körperhaft, zierlich gekleidet, freundlich lächelnd und dem armen Mädchen einen solchen Schreck einjagend, daß sie unwillkürlich mit beiden Händen an ihr Herz fuhr.
»Es überrascht Sie, mein schönes Fräulein,« sagte der Kammerherr von Wenden, »daß ich so außerordentlich pünktlich bin. Es hat
draußen eben erst fünf geschlagen, und schon stehe ich vor Ihnen, glücklich, entzückt, daß die schöne Rosa mir gestattet, sie auf ein paar kleine süße Augenblicke zu besuchen.«
Wenn er auch für sie verständlicher gesprochen hätte, so würde ihm das junge Mädchen doch im ersten Momente keine rechte Antwort haben geben können, denn sie zitterte heftig, was ihr nie geschehen war, und konnte
nichts thun, als einen Schritt zurücktreten, da der andere zwei auf sie zu machte.
»Das ist eine allerliebste kleine Wohnung,« fuhr dieser fort, der es für notwendig hielt, vertraulich und herablassend zu sprechen; »scharmant, und da steht Ihr Arbeitstisch mit den wirklich wunderbaren Arbeiten, die Sie hervorbringen, - reizende kleine Arbeiten. Und das alles machen Ihre kleinen niedlichen Hände? In der That niedliche Hände. Erlauben Sie -«
Bei diesen Worten nahm er ihre Rechte und wollte sie an seine Lippen führen. Doch blieb dieser Versuch unausgeführt. Rosa entzog ihm hastig ihre Hand und hatte jetzt so viel Fassung gewonnen, um fragen zu können, was ihr eigentlich die Ehre seines Besuches verschaffe.
Herr von Wenden stutzte fast bei dieser Frage, doch nahm er sie für verzeihliche mädchenhafte Schüchternheit, und da er die kleine Hand im nächsten
Augenblick nicht wieder ergreifen konnte, so ging er durch das Zimmer nach dem Fenster, um, wie er sagte, mit außerordentlicher Befriedigung nach seiner Wohnung und nach dem Fenster hinüberzublicken, an welchem er schon so glücklich gewesen.
Des jungen Mädchens hatte sich eine unerklärliche Angst bemächtigt; sie warf ihre Arbeit auf den Tisch und eilte zur Thür, um nach ihrer Mutter zu sehen, oder um droben bei der Frau
Böhler Schutz und Hilfe zu suchen. Doch lächelte sie selbst im nächsten Augenblick über ihre thörichte Furcht und trat ruhig an den Tisch zurück, um zu erwarten, was ihr seltsamer Besuch beginnen werde.
Herr von Wenden schien die Aussicht von hier nach seiner Wohnung vortrefflich gefunden zu haben. Nur mochte er vielleicht bedauern, sich nicht selbst dort erblicken zu können, und um diesem Mangel einigermaßen abzuhelfen,
warf er einen Blick in den an der Wand hängenden Spiegel und war von dem, was er dort sah, nicht unbefriedigt.
Wenn wir sagen wollen, der Kammerherr habe sich bei diesem ersten Besuche vollkommen sicher und behaglich gefühlt, so würden wir die Unwahrheit reden. Im Gegenteil, als er sah, wie sich Rosa so schüchtern hinter ihren Tisch zurückzog und ihm so gut wie gar keine Antwort gab, fühlte er in sich alle Symptome der Verlegenheit. Er
hustete häufiger als notwendig war, er brauchte die Worte: köstlich! scharmant! superb! ohne allen Zusammenhang und zupfte ungebührlich oft an seiner Halsbinde. Diese unbehagliche Stimmung wurde nicht vermindert, als er sah, wie der flammende Blick des jungen Mädchens allen seinen Bewegungen folgte, wie sie die Lippen fest aufeinander preßte, die Hand auf den Tisch stützte, und, aus ihrer schüchternen Haltung wie erwachend, den Kopf mit einem
trotzigen Ausdrucke erhob.
Er näherte sich dem Tische und bat um Erlaubnis, einen Augenblick sitzen, an ihrer Seite sitzen zu dürfen, nahm darauf einen Stuhl und ließ sich nieder.
Rosa hatte sich soweit gefaßt, um ihm in ruhigem Tone bemerken zu können, daß es sie außerordentlich wundere, ihn hier in ihrer Wohnung zu sehen, ohne zu wissen, womit sie ihm dienen könne.
Diese wiederholte
Frage klang dem Kammerherrn fast komisch. Ohne aber vorderhand des Briefes zu erwähnen, den er geschrieben, und der Erlaubnis, die sie ihm gegeben, hielt er es für passend, ihr in gutgewählten Ausdrücken die Augenblicke vorüberzuführen, wo er sie am Fenster gesehen, wo er von ihrem Anblick bezaubert worden sei, und wo es ihn so hoch beglückt habe, als er aus einigen leisen Zeichen zu erkennen geglaubt, daß auch sie sich hier und da nicht ohne
Absicht gezeigt. Rosa erschrak aufs neue, als er bemerkte, daß er jede ihrer Mienen beobachtet und jede oft unwillkürliche Bewegung zu seinen Gunsten ausgelegt. Sie fühlte, wie unrecht sie gethan, sich überhaupt am Fenster zu zeigen, aber da sie sich nichts Böses bewußt war, so blickte sie ihm fest in das Auge und begnügte sich, statt aller Antwort, bedeutsam mit dem Kopfe zu schütteln.
»Gewiß, schöne Rosa,« fuhr
Herr von Wenden wärmer fort, »ich fürchtete schon, der mächtige Eindruck, den Sie auf mein Herz hervorgebracht, würde mich zum unglücklichsten aller Menschen machen. Denn ehrlich gestanden, die Liebe, welche ich für Sie fühle, ist nicht gewöhnlicher Art. Ja, es ist eine Leidenschaft, die ich nicht im stande bin, niederzukämpfen, und die mich elend gemacht haben würde, ohne Ihr entzückendes liebevolles Entgegenkommen.«
»Durch mein Entgegenkommen?« fragte das Mädchen, indem sie einen Schritt zurücktrat. »Wenn Sie das für ein freundliches Entgegenkommen halten, daß ich mich von der Arbeit ermüdet zuweilen am Fenster sehen ließ, auch vielleicht nicht immer mit finstern Mienen, so muß ich Ihnen sagen, daß mich diese Ihre Ansicht erschreckt, und daß ich in der That nicht begreifen kann, wie Sie es darauf hin wagen können, mir die Worte
zu sagen, welche ich eben gehört.«
»Dies Terrain will Schritt für Schritt erobert sein,« dachte Herr von Wenden. »Die schöne Festung zeigt trotzig ihr Flagge, um dem Feind nicht zu verraten, wie unter der Besatzung bereits Meuterei ausgebrochen ist. Thun wir ihr den Gefallen, plänkeln wir ein wenig vorwärts, und dann mit einem tüchtigen Sturm das Hauptwerk genommen. - Warum, schöne Rosa,« fuhr er laut fort, »wollen Sie die
Freundlichkeit leugnen, die Sie für mich gehabt, wollen das kein Entgegenkommen nennen, was mich so außerordentlich entzückt, was mein Herz in lichte Flammen gesetzt?« Er hatte bei diesen Worten mit seinem Stuhle so geschickt manövriert, daß er an Rosas Seite gekommen war, und ihr zugleich den Ausweg versperrt, da sie hinter sich die Wand, rechts einen Schrank und vor sich den Tisch hatte.- »Als ich Sie zum erstenmal sah,« sprach der verliebte Kammerherr
mit süßem Lächeln und schmachtendem Blicke weiter, »da war ich betroffen von Ihrer wunderbaren Schönheit, aber dadurch fühlte ich mich auch hoffnungslos. Auf Ehre, schöne Rosa, ganz hoffnungslos! Und bei diesem an sich trostlosen Gefühle kann ich Sie versichern, daß mich der erste Blick Ihrer süßen Augen, das erste freundliche Lächeln traf, wie der erquickende Tau eine - nun ja, wie der erquickende Tau eine - halbverwelkte
Blume. Sie blühte wieder auf in heißer Liebe. Und das ist Ihr Werk, schöne Rosa!«
Herr von Wenden hatte gesprochen mit sanftem Augenaufschlag, schmachtend und lispelnd, wie ein vollendeter Geck. Als er sah, wie das Mädchen bei seinen Worten die linke Hand zusammenballte und auf ihr Herz drückte, da machte er es gerade so, ohne zu denken, daß ganz andere Gefühle ihre Seele regierten. Ja, sie hatte für den Mann drüben,
solange der vermeintliche tiefe Abgrund sie trennte, ein an sich unschuldiges Interesse genommen. O Gott ja, sie hatte hinübergeblickt, sie hatte lächelnd am Fenster gestanden, und sie hatte wie manches junge Mädchen in gleichem Falle nicht daran gedacht, daß man dem bösen Geist keinen Zoll breit Raum geben soll, um Fuß darauf zu fassen, daß wer heute den kleinen Finger bietet, morgen in den Fall kommen kann, die ganze Hand geben zu müssen.
Und nach dieser ganzen Hand angelte Herr von Wenden seit einigen Augenblicken mit großer Ausdauer.
Wenn sich auch ihr Gefühl dagegen empörte, als sie die Berührung seiner kalten Finger auf ihrem lebenswarmen Arme fühlte, so konnte sie doch keinen Schritt zurück, und sie wußte nicht, sollte sie einen lauten Aufschrei thun, oder sollte sie, den Angreifer beiseite schleudernd, sich gewaltsam Bahn neben dem Tische vorbei machen.
Das überlegte sie in der ersten Sekunde; in der zweiten aber dachte sie an das Haus, in dem sie sich befand, wo jedes laute Wort rechts, links, oben und unten gehört wurde, und als sie daran dachte, hielt sie es für ratsam, sich noch nicht zum Äußersten zu entschließen.
Ja, sie lächelte sogar, aber es war ein kaltes, trauriges Lächeln, und während sie lächelte, biß sie die Zähne aufeinander. »Jetzt bitte
ich aber - Herr Baron,« sagte das junge Mädchen, während sie immer zwischen ein paar Worten den Arm an sich zog, »jetzt bitte ich aber - diese Unterredung - zu enden. - Gewiß, Herr Baron! - Was Sie mein - Entgegenkommen nennen, darin haben Sie sich vollkommen geirrt. - Wenn ich zuweilen - am Fenster war, so geschah das - wie ich schon bemerkte - ganz ohne alle Absicht. - Und wenn ich - Ihnen sage, - daß es ohne Absicht geschah,« setzte sie finster hinzu, »so
wäre es besser, - Sie würden mir glauben.«
»Und der Brief?« lachte Herr von Wenden. Und während er bei diesen Worten leicht an ihrem vollen Arm herunter fuhr, blitzten seine Augen auf eine seltsame Art.
»Ich weiß nichts von einem Brief,« sprach fest und bestimmt das Mädchen.
»O, wie kann man so leugnen!« fuhr der Kammerherr im freundlichsten Tone fort.
»Der Brief, den Sie erhalten, und die Erlaubnis, Sie zu besuchen, die Sie mir darauf gaben!«
»Das ist nicht wahr!« rief Rosa entrüstet. »Das ist eine Lüge, eine Schändlichkeit! Ich weiß weder von einem Briefe, noch viel weniger von einer Antwort. - O mein Gott, womit habe ich das verdient! - Durch nichts, durch gar nichts!« rief sie heftiger, »und ich will, daß man mich in Ruhe läßt.« Sie machte bei diesen Worten eine gewaltsame
Bewegung, ihre Hand zu befreien; da aber der Kammerherr, dies vorhersehend, auf seiner Hut war und sie fester hielt, so brachte ihre Bewegung die entgegengesetzte Wirkung hervor. Statt sich und Ihre Hand zu befreien, verlor sie für eine Sekunde das Gleichgewicht, wodurch es dem Kammerherrn gelang, seinen anderen Arm um ihre Taille zu legen und sie für einen Augenblick an sich zu drücken.
Freilich nur für den ersten Augenblick, denn im anderen
schnellte sie empor wie eine Stahlfeder, wie ein Aal im Wasser, und während sie dabei zwischen den verächtlich aufgeworfenen Lippen ihre weißen Zähne sehen ließ, blitzte aus ihren Augen ein unheimliches Feuer.
Ein anderer als der Kammerherr von Wenden wäre vielleicht auch so weit gegangen und hätte dann angesichts dieser Symptome an einen verständigen Rückzug gedacht, bei sich überlegend, daß kein Baum auf
den ersten Hieb fällt und daß Rom nicht in einem Tage erbaut worden ist. Wie gesagt, ein anderer hätte sich, nachdem er gefunden, wie stark die Festung sei, aus der Angriffslinie zurückgezogen, um mit Geduld und Ausdauer eine neue Parallele gegen den Feind zu eröffnen. Ein anderer. Aber daß Herr von Wenden kein anderer als er selbst war, das wußte sein Freund, der Major, ganz genau und hatte darauf seinen Plan gebaut.
Der
Kammerherr atmete mühsam, als das junge kräftige Mädchen von ihm wegschnellte und sich dabei zwischen dem Stuhl und dem Tische gewaltsam einen Durchgang bahnte. Seine Blicke brannten fast fieberhaft, und wenn er auch lächelte, so war dies Lächeln doch ein sehr künstliches und gemachtes. Mit einer recht faden Bewegung schwang er sich von seinem Sitz in die Höhe und tänzelte dem Mädchen durch das Zimmer nach, das anfänglich vor ihm
floh, dann aber mit einem Male mitten in der Stube stehen blieb, die rechte Hand in ihre Seite setzte, den Kopf mit einer gewaltsamen Bewegung in die Höhe warf und eine der Stellungen einnahm, die, edel, imponierend und schön, das Entzücken jedes Malers und Bildhauers gewesen wäre.
Herr von Wenden schwebte auf sie zu, täppisch wie eine dicke, verliebte Fliege, prallte aber fast zurück vor dem starren und seltsamen Blick des
Mädchens. »Nein, nein,« rief er aber gleich darauf, wie um sich selbst Mut zu machen, »nein, nein, schöne Nachbarin, so entkommst du mir nicht. Es gibt Augenblicke des Glückes, und wer die nicht erfaßt, ist ein Thor.« Als er das sagte und von neuem das ruhig dastehende Mädchen mit den Händen berührte, verwandelte sich das trotzige Aussehen ihres Gesichts in eine tiefe Wehmut. Sie biß heftig auf ihre Lippen, in diesem Augenblick nicht um ein
zorniges Gefühl, sondern nur um die Thränen zu unterdrücken, welche trotz der gewaltsamen Anstrengungen, die sie machte, in ihre Augen stiegen und dort glänzten und zitterten.
»Was wollen Sie von mir?« fragte sie mit einer tief schmerzlichen Stimme. »Was wollen Sie von einem armen Mädchen, das es bereut - o, mein Gott, wie bereut! - wenn es Ihnen Veranlassung zu dem Glauben gab, es nehme das geringste Interesse an Ihnen? Was wollen Sie hier
in dieser armen Wohnung, die kein Aufenthalt für Sie ist, wo Sie kein Glück finden können und wohin Sie nur Unglück zu bringen vermögen?«
»O, ich weiß schon ein Glück, welches ich hier zu finden hoffe!« unterbrach sie rasch Herr von Wenden, indem er zudringlich wurde. »Ein Glück, schöne Rosa, das auch Ihnen nicht wie ein Unglück vorkommen soll.« Indem er das sagte, trachtete er danach, seinen Arm abermals um ihren Leib zu legen, sie an sich zu ziehen, während seine Lippen sich ihrem Gesichte näherten. Doch war es nur ein Augenblick, daß er also trachtete, und kein
Augenblick des Glücks. Denn das junge Mädchen, welches eine Sekunde mit entsetzt aufgerissenen Augen um sich schaute, stieß ihn gleich darauf so heftig von sich, daß er mit einem außerordentlich überraschten Gesicht zurücktaumelte, wobei er sich nicht enthalten konnte, auszurufen: »Aber, mein Fräulein, was soll denn das bedeuten?«
»Das soll bedeuten, Herr Baron von Wenden,« antwortete plötzlich die Stimme eines Mannes
hinter seinem Rücken, »daß es für einen so gescheiten Mann sehr unklug ist, sich Unarten gegen ein armes wehrloses Mädchen zu erlauben, sie in ihrem Zimmer zu überraschen, wenn man zufällig erfahren, daß ihre Mutter ausgegangen ist.«
Nachdem Rosa soeben mit dem plötzlichen Auflodern eines wilden, ihr selbst unbegreiflichen Zornes den Kammerherrn von sich gestoßen, hatte sie beide Hände vor ihre Augen
gedrückt, und es war ihr gerade, als wanke sie hin und her und müsse im nächsten Augenblicke zusammenstürzen. Da traf auch sie die Stimme, die wir soeben vernommen, und schlug tröstend und rettend an ihr Herz. Sie streckte ihre Hände leidenschaftlich von sich ab, und indem sie sich an die Brust des unvermutet Eingetretenen warf, rief sie aus: »O, Heinrich, schütze mich, rette mich!«
»Beides will ich, meine liebe, liebe Rosa,«
sprach sanft Herr Böhler, und während er sie mit dem rechten Arm umschlang, wandte er sich mit einer Bewegung der linken Hand gegen Herrn von Wenden, indem er sagte: »Sie sehen, Herr Baron, daß für Sie hier weiter nichts zu suchen ist.«
Der Kammerherr machte ein äußerst seltsames Gesicht. Es hatte in erhöhter Potenz denselben Ausdruck, wie wenn man in frühester Jugend aufs allerunvermutetste bei einem sehr schlimmen Streich
überrascht wird. Es war das Gefühl eines ertappten Schulbubens, das ihn überschlich, und das auf seinem Gesichte sich zeigte in ziemlich verwirrten Blicken, in einer langen Nase und einer albern herabhängenden Unterlippe. Herr von Wenden sah in diesem Augenblicke weder schön noch liebenswürdig aus. Rosa, die schüchtern nach ihm hinschaute, drückte darauf ihr Gesicht fast schaudernd wieder an die Brust des Photographen und war gründlich und
auf immer geheilt von allen Fensterbeobachtungen und von allen Versuchen des Telegraphierens, die so unschuldig aussehen und doch so gefährlich werden können.
Herr von Wenden verschwand, »und schnell war seine Spur verloren.«
Wir wollen nicht behaupten, daß sich Rosa, als sie mit Herrn Böhler allein war, nicht ein klein wenig geschämt hätte; sie mochte ihren Kopf nicht aufheben, und der Photograph brauchte
bedeutende Anstrengungen, ehe er so weit kam, in ihre Augen blicken zu können. Warum brauchte er aber auch das Geschäft des Kopfaufrichtens schwerer zu machen, als gerade notwendig war! Warum brauchte er sie auf die Stirn zu küssen, als sich diese langsam erhob! Warum später auf die geschlossenen Augen und dann auf die leicht zuckenden Lippen - warum? Wir sind eigentlich nicht im stande, hierüber eine genügende Antwort zugeben, und können dem
verehrlichen Leser nur bemerken, daß er es vielleicht gerade so gemacht haben würde in einem ähnlichen Augenblick des Glücks.
Herr Krimpf hatte von dem Moment an, wo er auf die Treppe gegangen war, um kühlere Luft zu atmen, die Qualen eines Verdammten durchgemacht; er hatte gesehen, wie der Herr von drüben leise die Treppe heraufschlich, er hörte ihn anklopfen, er hörte Rosa »Herein!« rufen, und als sich die Thür hinter
dem Besuch geschlossen, hoffte er angsterfüllt mit klopfendem Herzen auf einen lauten Aufschrei des Mädchens und dann auf das plötzliche Wiedererscheinen des unwillkommenen Besuches draußen vor der Thür. Aber der Baron erschien nicht so bald wieder. Da hatten seine Hände bald das Geländer krampfhaft erfaßt, bald hatten sie wild nach seinem Kopfe, nach seinen Haaren gezuckt, da hatte er gefühlt, wie es hier außen auf der Treppe
unendlich viel heißer sei als drinnen im Zimmer, denn der Schweiß rann ihm von der Stirn herab. Auch klappten seine Zähne zusammen, und wenn er zu lachen versuchte, so klang das gerade, als wenn ein anderer Mensch mit den Zähnen knirscht. Herr Krimpf verwünschte sich selber, weil er die Hand zu dem geboten, was geschehen; ja er verwünschte sich und schlug sich jetzt heftig vor die Stirn, um gleich darauf wieder angstvoll in das Haus hinabzulauschen.
Dabei wäre es fast possierlich anzusehen gewesen, wie er jetzt langsam Stufe um Stufe die Treppe hinabschlich, um vielleicht an der Zimmerthür lauschen zu können, und wie er gleich darauf, tief unten im Hause ein Geräusch vernehmend, angstvoll wie ein gejagter Affe und mit der Behendigkeit dieses Tieres aufwärts floh. Da vernahm er bekannte Tritte, da sah er Herrn Böhler die Treppe heraufsteigen und vor dem Zimmer Rosas stehen bleiben; da bemerkte er,
wie derselbe sich lauschend niederbeugte, was er sonst nie gethan, da sah er ihn die Thür leise öffnen und eintreten. Und als er das sah, biß er sich heftig in den Daumen seiner rechten Hand und murmelte mit gepreßter Stimme: »Die Würfel sind gefallen: ist das für mich ein Augenblick des Glücks oder ein Augenblick des Unglücks?«
Ehe wir dieses Kapitel schließen,
müssen wir noch eine kleine Weile in das Zimmer der Frau Witwe Weiher zurückkehren, wo Rosa noch immer vor dem Photographen stand, ihre beiden Hände auf seine Schultern gelegt hatte und ihm mit herzlicher Liebe in die Augen blickend sagte: »O wie danke ich Gott, daß du gekommen bist, Heinrich!«
»Und ich bin glücklich, daß ich gelauscht habe,« antwortete Herr Böhler. »Ja, ich muß dir gestehen, daß ich gelauscht habe,
meine gute Rosa, daß ich zu unserem beiderseitigen Glücke gelauscht habe. Und nun ist alles gut, und ich will nicht mehr kindisch sein und mich ärgern, wenn du auch des Tages hundertmal dort am Fenster stehst.«
»Und es soll dir leicht werden, dich nicht zu ärgern,« versetzte sie mit leichtem Erröten, »denn du wirst mich so bald nicht mehr am Fenster stehen sehen.«
»Rosa, liebst du mich wirklich noch ebenso sehr wie
damals, als wir den kleinen Leuchtkäfer fanden?«
»O mehr, weit mehr, mein guter, guter Heinrich!«
Welcher Augenblick des Glücks!
Siebzehntes Kapitel.
Augenblicke des Glücks.
Wenn bei Hofe eine wohlgeordnete, ruhig vorbereitete Festlichkeit stattfindet, - wir verstehen darunter irgend ein herkömmliches Diner oder einen Ball, wie er im Winter zwei bis dreimal vorkommt,
oder eine Galavorstellung im Theater, letztere meistens dadurch sehr merkwürdig, daß die Festoper, welche mit großer Mühe und noch größeren Kosten zu irgend einem wichtigen Tage einstudiert wurde, nicht gegeben werden kann, da Frau Kalbskopp-Broschni-Bracellettacco ausnahmsweise heiser geworden ist - kurz, wenn bei Hofe etwas Großes vorfällt, zu dem man im stande war, mit aller Gemächlichkeit seine Vorbereitungen zu treffen, wo man
weiß, neben wem man bei der Tafel placiert wird, wer uns in der Festoper gegenübersitzt, welche Robe und wie viele falsche Brillanten unsere gute Freundin, die Baronin N•, tragen wird, - an einem solchen Tage gleicht das Schloß in der Residenz einem Bienenstock bei schönem, warmem Sommerwetter, wo alles in geordnetem Fluge zugeht, wo keine übermäßige Eile stattfindet, wo ein gefüllter Wagen nach dem anderen kommt, um nach wenigen
Augenblicken leer wieder abzuziehen; gerade wie bei den Bienen, nur daß hier der Inhalt der Wagen, der im Schlosse zurückbleibt, sich nicht immer als süßer Honig darstellt, sondern oft viel mehr Ähnlichkeit mit Gift und Galle hat.
Dieses ordnungsmäßige Ab- und Zuschwärmen der Equipagen hat an solchen Tagen etwas Nervenberuhigendes, etwas Gemütliches, denn eine ähnliche Stimmung drückt sich im gesammelten Trabe der Pferde aus, ja, wir möchten sagen in dem anständigen Schaukeln der Wagen, vor allem aber in der sicheren gesetzten Haltung von Kutscher und Bedienten. Der erstere, vorne auf dem Bocke, der etwas vornehm nachlässig zur Seite sitzt, hat seine Uhr im Kopfe, und da er weiß, daß er nicht eine Sekunde zu spät an dem Perron anfahren wird, so gibt dies seiner Miene etwas Bestimmtes, Ruhiges, seinem Lächeln einen sicheren, angenehmen Ausdruck. Der Lakai auf dem Trittbrette hängt an den Quasten mit einem Gesichte, worauf sich deutlich abspiegelt, daß er mit sich zufrieden ist, er folgt, sich graziös schaukelnd, jeder Bewegung des Wagens, er hat gar keine Eile, und wenn er um sich schaut und sich vielleicht in diesem Moment sein Blick um etwas weniges verfinstert, so ist das nur, weil er sieht, wie sein Kollege vom Handels- oder Kriegsministerium eine neue blitzende Tresse oder irgend eine unpassende Stickerei usurpiert hat.
Die Herrschaften in der Equipage haben ganz das beruhigte, wir möchten fast sagen langweilige Aussehen ihrer Dienerschaft. Die Freuden, denen sie entgegenfahren, sind ihnen so bekannt, so gewöhnlich, und ebenso gut wie ihnen bekannt ist, daß nach der Suppe irgend ein Fisch serviert werden wird, ebenso genau wissen sie auch, welche Frage dieser oder jener an sie richten wird, und was sie wahrscheinlicherweise antworten werden.
Und nicht nur die Gäste erscheinen so im Schlosse mit gemessenen ruhigen Bewegungen, schreiten langsam durch die Gänge und steigen, ohne sich zu übereilen, die Treppen hinauf, - nein, dies Gefühl des Gewöhnlichen und Alltäglichen drückt sich auch in der kalten, abgemessenen Art aus, mit welcher die Portiers salutieren, oder wie die Lakaien die Thüren öffnen, oder wie sich die dienstthuenden Kammerherren händereibend und süß lächelnd in den innersten Gemächern breit machen.
Ganz anders aber gestaltet sich das Leben vor und im Schlosse, wenn ein plötzlich eingetretenes wichtiges Ereignis fast mit der Schnelligkeit des Telegraphen den obersten Hofchargen, den Würdenträgern, den Exzellenzen, den Hof- und Ehrendamen gemeldet wird und ihre schleunige unvorherzusehende Anwesenheit in der Residenz verlangt. Da paßt der Vergleich mit dem Leben und Treiben des ruhigen Bienenvolkes am klaren, warmen Sommertage nicht mehr; und wollte man doch daran festhalten, so müßte man dem hastigen, wilden Ein- und Ausschwärmen zufolge die Vermutung aufstellen, im Stocke selbst sei eine Revolution ausgebrochen, oder ein plötzlich drohendes Unwetter treibe alles in wilder Hast einher. Da fällt manch böses Wort, da drohen Püffe und Stöße, drunten im Stall, bis die Pferde angeschirrt sind, droben im Ankleidezimmer, bis die Herrschaft in würdige Verfassung gesetzt ist, um sich bei Hofe sehen zu lassen; da kann es vorkommen, daß die Livree des Kutschers schief zugeknöpft ist, wenn er sich auf den Bock schwingt, da kann es geschehen, daß die Kammerjungfer der Exzellenz zu einem meergrünen Kleide in der Eile eine blaue Schleife aufgesteckt hat. Wehe ihr! Da kann das Gräßliche passieren, daß der Lakai hinten auf dem Wagen einen Strumpf verkehrt anzieht oder sogar die Achselschnüre der neuen Galalivree vergißt. - Aber da ist keine Zeit zum Umwechseln und Ändern, der Wagen rasselt vor das Haus, Fächer und Handschuhe werden hineingeboten, oft auch ein vergessenes Ordensband oder der Degen. Man hat kaum Zeit, das gewöhnliche Gesicht für die großen Feierlichkeiten zu machen: etwas offizielle Angst mit Überraschung; man denkt dies und das, man kombiniert und möchte dem Wagen, der sehr langsam zu gehen scheint, nachhelfen.
Der Kutscher auf dem Bock sitzt weder schief noch nachlässig, er hält die Zügel fest und stramm, wartet er doch nicht einmal, bis der Lakai ruft: »Nach dem Schlosse!« sondern kaum hört er, wie der Wagenschlag zufällt, als auch schon ein energischer Zungenschlag die Pferde dahinschießen läßt. Er lenkt sie finster und dabei nach allen Seiten umschauend, ob nicht eine andere herrschaftliche Equipage aus irgend einer Seitenstraße herausrasseln wird, um den thörichten Versuch zu machen, ihm den Vorrang abzulaufen. Dabei wirft er zuweilen einen Blick auf die Thurmuhr, bei der er vorüberfährt, und spart auch einen leichten Peitschenhieb nicht, um den Trab der beiden Pferde zu beschleunigen.
Der Lakai hinten auf schaukelt heute nicht, leicht, bequem und graziös an den Riemen hängend; er hat sich auf die Fußspitzen erhoben, und wenn man so sieht, wie er beinahe krampfhaft den Hals vorstreckt, und über dem Dache des Coupés weg starr nach dem Schlosse blickt, wohin sich eine unzählige Menge wild gewordener Equipagen begibt, und wenn man dabei bemerkt, wie er zu gleicher Zeit mit den Armen rudert, so könnte man glauben, er wolle durch diese Bewegung den Lauf des Wagens beschleunigen. Die Rampe hinauf geht es in einem kurzen Galopp, oben aber muß man einen Augenblick halten, weil schon eine ziemliche Wagenreihe dasteht, die langweilig File macht, und Schritt für Schritt vorrückt, bis jede Equipage sich ihres kostbaren Inhalts entledigt hat. Die Wagenthüren fliegen zu, daß einem die Schlösser leid thun, nachdem die Lakaien Mäntels und Shawls so hastig von den Sitzen gerissen, daß man sich wundert, wie nur eine Spitze oder ein Samtbesatz ganz bleiben kann.
Es ist aber auch keine Kleinigkeit, welche den gesamten Hofstaat so plötzlich in Alarm bringt und nach dem Schlosse sprengt. Die lang erwartete Stunde Ihrer Hoheit der Frau Herzogin ist endlich gekommen, die Ärzte haben sich um sechs Uhr in der Frühe versammelt, die obersten Hofchargen sind seit acht Uhr vollständig bei einander, sprechend und flüsternd, und machen unendlich lange Gesichter. Alle spazieren auf den Zehen paarweise im Zimmer auf und ab, den Federhut vor den Bauch gedrückt, mit hoch emporgezogenen Augenbrauen, und so oft einer der dienstthuenden Kammerherren eilfertig durch das Zimmer stolpert, - bei wichtigen Veranlassungen pflegen die Kammerherren im übermäßigen Diensteifer zu stolpern - so drücken die Exzellenzen den Federhut fester an den Leib, und es ist ihnen selbst äußerst seltsam zu Mut.
Das ganze Schloß befindet sich in einer sehr erklärlichen Aufregung; der Chef der Küche macht ein äußerst wichtiges Gesicht, denn an seinem Wirken hängt in der nächsten Zeit das Wohl des Staates. Er ist ein übermäßig wohlbeleibter Mann, welche Naturgabe einem sehr vorwitzigen Küchenjungen im Zusammenhange mit dem außergewöhnlichen Leben und Treiben zu einer sehr unpassenden Bemerkung Veranlassung gab; infolge derselben brachte der Oberkoch eine tüchtige Ohrfeige zur Welt, welche dem kleinen, weiß gekleideten Spötter keinen schlechten Schmerz verursachte. Die Portiers ziehen sehr wichtig, aber geräuschlos ihre Stöcke an; alle Lakaien, selbst im entgegengesetzten Flügel von dem, welchen die Herzogin bewohnt, halten die Hand vor den Mund, wenn sie sprechen, die Kammerdiener du jour haben Mienen à deux mains, ebenso zum Lachen wie zum Weinen geneigt.
Unterdessen rauscht es die Treppen hinauf in Samt und Seide, man begrüßt sich mit kurzen Worten, man eilt bei einander vorbei, um frühzeitig in den Empfangsaal zu kommen, wo sich der Hofmarschall, sowie die Obersthofmeisterin Ihrer Durchlaucht der Prinzessin Elise befindet, um die Herren und Damen vom Hofe zu empfangen: beide steif und förmlich ernst, fast trübe, wie der Sonnabend vor Ostern, mit einer Rückerinnerung an die vergangene stille Zeit und einem Vorgefühl der lustigen heiteren Tage, die beginnen werden mit dem Klang der Glocken.
Begreiflicherweise bilden sich hier oben im großen Saale die verschiedenartigsten Gruppen; alte Exzellenzen erinnern sich noch ganz genau des Tages, wo der nun schon höchstseli