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Hermann Ungar

Die Verstümmelten

8

eingestellt: 1.8.2007



Am Sonntag fand der Ausflug statt. Frau Porges hatte auch den blonden Studenten, den Doktor und Kamilla eingeladen. Kamilla war Klara Porges Jugendfreundin. Sie war die Gattin eines Kaufmanns auf dem Kohlmarkt.

Polzer hatte für festliche Anlässe im Schrank einen schwarzen Kaiserrock hängen, den er zuletzt bei der Beerdigung des Vaters getragen hatte. Er wählte zum Ausflug diesen Rock. Auf den Kopf setzte er einen weichen Panamastrohhut, an den Füßen trug er gelbe Schuhe. Es waren seine besten Kleidungsstücke.

Man versammelte sich am Pulverturm. Von den Herren aus der Bank erschienen nur der Prokurist und Herr Fogl. Die andern Herren waren zum Fußballwettspiel gegangen. Sie waren Mitglieder des Fußballklubs.

Der Prokurist trug kurze Hosen und Wadenstrümpfe. Er winkte von weitem, als er Frau Porges und Polzer kommen sah. Er sah fröhlich aus und lächelte, während er Polzers festlichen Anzug musterte. Polzer erkannte, daß seine Kleidung nicht entspreche, und war verstimmt. Herr Fogl trug einen hellen Anzug und einen ebensolchen Hut.

»Sie haben sich angezogen wie zu einer Kindstaufe,« sagte Herr Fogl. Alle lachten und sahen Polzer an.

Man ging durch die Elisabethstraße über die Brücke, dann am Ufer entlang, wieder durch Straßen in den Baumgarten. Man wollte nach Troja. Polzer wurde es beim Gehen warm. Die Sonne schien heiß, und der Rock war schwer. Er nahm den Hut in die Hand und blieb hinter den andern zurück. Der Prokurist hatte erst versucht, sich Frau Porges anzuschließen, die mit dem Studenten ging. Dann wandte er sich Kamilla zu. Die Frauen trugen helle Blusen und dunkle Röcke. Kamilla ging mit Fogl, der Witze erzählte. Sie lachte laut und tief wie ein Mann.

Auch der Prokurist machte Scherze und sah sich um, ob alle ihn gehört hätten. Er wandte sich Polzer zu, der mit dem Doktor ging:

»Nun, Herr Polzer, was sagen Sie zu dem jungen Mann da vorn mit Frau Porges, wie? Die scheinen nicht gestört werden zu wollen.«

»Herr Polzer weiß,« sagte Fogl und kniff die Augen zusammen, »daß sie sich bald nach den Fleischtöpfen zurücksehnen wird, und dann: Abwechslung macht das Leben köstlich, nicht wahr, gnädige Frau?«

Kamilla schlug die Augen nieder.

»Sie sind schlimm, Herr Fogl,« sagte Kamilla. Sie drückte ihm leise die Hand.

Seine Erfolge hoben Herrn Fogls Laune, und er wagte es, seinen Arm unter Kamillas Arm zu schieben. Der Prokurist tat desgleichen von der andern Seite.

Polzer aber bemerkte an der Hose, die er so viele Jahre nicht getragen hatte, vorn, eine Handbreit etwa über dem Knie, ein rundes Loch in der Größe eines Zweihellerstückes, durch das man das weiße Unterzeug schimmern sah. Polzer erschrak darüber sehr und drückte den Hut auf diese Stelle. Er hielt ihn von nun an den ganzen Nachmittag schützend über dem Loch. Er wollte Frau Porges zur Rede stellen, die offensichtlich nicht genügend Obsorge auf seine Kleider verwendete, so daß die Motten seinen Besitz zerfraßen. Sogleich nach der Rückkehr mußte er gründlich alle Schränke durchsehen. Er erkannte, daß das häufige Zählen wohl den Diebstahl, nicht aber sonstigen Verlust erkennen lassen konnte. Es war möglich, daß durch ständigen Mottenfraß Kleider und Wäsche unbrauchbar würden, vielleicht es, da er an diese Möglichkeit nie gedacht hatte, schon waren. Dieser Gedanke verließ ihn den ganzen Weg nach Troja nicht und erfüllte Polzer so mit Unruhe, daß er weder die vielen Menschen, die gleich ihm einen Spaziergang unternahmen, beachtete, noch auf des Doktors mehrfache Versuche, ein Gespräch zu beginnen, einging.

Trotzdem wurde dieser Ausflug für Franz Polzer durch ein Gespräch wichtig, das er mit dem Doktor führte. Das geschah aber erst in der Dunkelheit, auf dem Heimweg. In Troja wurde in einem Gasthof Rast gemacht. Man bestellte Wein, Butter und kalten Aufschnitt. Herr Fogl erhob sich zu einem launigen Toast auf die Damen. Kamilla warf bald Herrn Fogl, bald dem Prokuristen strafende Blicke zu, ließ es aber geschehen, daß die Herren sie umschlangen. Polzer bemerkte, daß Klara Porges mit dem Studenten anstieß und daß der Student wie im Café seine Hand auf die ihre gelegt hatte.

Plötzlich fiel es auf, daß Klara Porges und der Student verschwunden waren. Alle lachten und sahen Polzer an. Polzer errötete. Die Herren forderten ihn auf, das Paar zu suchen. Polzer machte sich auf den Weg. Er fand sie nach längerer Zeit in einem dichten Gebüsch hinter dem Gasthaus. Sie hatten Vergißmeinnicht gesucht. Polzer wußte, daß um diese Jahreszeit Vergißmeinnicht gar nicht zu finden seien, und machte die beiden auf das Vergebliche ihres Bemühens aufmerksam.

Als es dunkel wurde, verstummten die Gespräche. Jemand hatte Polzer eine Virginiazigarre gegeben. Er saß still und zog an der Zigarre. Auch der Doktor neben ihm schwieg. Der Stuhl links neben Polzer war leer.

Plötzlich fühlte Polzer Bewegung auf dem freien Stuhl und die Nähe eines Menschen. Am Rascheln der Kleider und an der Körperwärme erkannte er, daß es eine Frau sei. Er erkannte Kamilla. Ihre Augen glänzten erregt, ihr Haar war in Unordnung. Ihr Gesicht kam ihm ganz nahe.

»Die beiden sind langweilig,« sagte sie flüsternd. »Sie betatschen einen, als wäre man ein Stück Vieh und zu diesem Zweck gepachtet. Sie sind nicht so, Herr Polzer. Sie patschen nicht so tapsig herum wie diese Bären.«

Polzer schwieg.

»Ich weiß es von Klara,« sagte Kamilla. Sie war ganz nahe gekommen und hatte ihre warme Hand auf Polzers Schenkel gelegt.

Polzer wich erschrocken zurück.

»Sie hat mir alles gesagt,« flüsterte Kamilla.

»Alles gesagt?« murmelte Polzer.

Sie war so dick wie Klara Porges, aber viel kleiner als diese. Ihr Haar war vorn zu einem hohen Schopf gekämmt, die großen Augen schwarz unterstrichen.

»Klara hat mir alles gesagt,« flüsterte sie wieder. Er wich auf dem Stuhl zurück. »Sie fürchten sich vor mir? Weichen Sie nicht zurück!«

Ihre Hand lag noch immer auf seinem Schenkel. Er wollte sich von dieser warmen Hand befreien und das Bein wegziehen. Da griff sie fester zu.

»Lassen Sie mich,« sagte sie an seinem Ohr. Ihr Atem roch nach Wein. »Lassen Sie mich. Sie hat mir alles gesagt.«

Da stieß Polzer einen schweren und tiefen Seufzer aus. Es klang wie ein unterdrückter Schrei oder das Weinen eines Kindes. Alle fuhren auf und wandten sich um.

Kamilla war aufgestanden. Sie rief nach dem Kellner. Der Kellner brachte ein Windlicht. Kamilla strich ihr Haar zurecht. Klara Porges trat auf Polzer zu.

»Wollen wir nach Hause ?« fragte sie.

»Wenn es Ihnen genehm ist, Frau Porges,« erwiderte Polzer.

Der Prokurist und Herr Fogl faßten Kamilla unter. Sie gingen voraus. Dann folgte Frau Porges mit dem Studenten. Die Frauen sprachen überlaut und lachten. Sie hatten viel Wein getrunken. Frau Porges stützte sich schwer auf den Arm des Studenten.

»Wo ist Polzer geblieben,« fragte sie mit weinerlicher Stimme.

Sie blieb stehen und beruhigte sich erst, als Polzer mit dem Doktor vor ihr stand.

»Bist du es auch,« sagte sie zärtlich und wollte ihn streicheln.

Polzer schämte sich sehr vor dem Doktor und dem Studenten. Die beiden ändern Herren waren weiter voraus. Sie hatten es nicht gehört.

Polzer ging neben dem Doktor. Er hielt den Hut fest an die zerrissene Stelle seiner Hose gepreßt.

»Setzen Sie den Hut auf, Herr Polzer,« sagte der Doktor. »Die Nachtluft ist kühl.«

Polzer gab keine Antwort.

»Es ist ganz finster,« sagte der Doktor.

Polzer blieb erschrocken stehen. Er versuchte dem Doktor ins Gesicht zu sehen. Wußte der Doktor?

»Kommen Sie,« sagte der Doktor.

Nach einigen Schritten setzte er leiser hinzu: »Ich weiß, daß Sie ein Loch in der Hose haben.« Er schob seinen Arm in den Polzers.

Polzer fühlte, daß ihm das Blut gegen den Kopf steige. Es war finster, und der Doktor konnte es nicht bemerken. Aber schon sah man von ferne die ersten Bogenlampen. Bald würden sie in der Helligkeit der Straßen sein. Polzer drückte den Kopf gegen die Brust. Der Kies knirschte unter den Schritten. Er wagte kaum aufzutreten.

»Herr Polzer,« sagte der Doktor, »ich weiß, daß ich an eine wunde Stelle gerührt habe. Es mag taktlos scheinen. Erklären Sie es damit, daß ich Arzt bin und als solcher gewöhnt, die schmerzhaften Stellen anzutasten, wenn es sein muß, sie mit dem Messer zu öffnen.«

Der Doktor machte eine kleine Pause, dann fuhr er fort: »Ich gebe zu, daß Sie mich nicht aufgefordert haben, nach den Ursachen Ihres Schmerzes zu tasten. Ich gebe Ihnen weiter zu, daß Ihre Verwunderung über das, was ich Ihnen sagen will, keineswegs unbegründet erscheint. Sie kennen mich kaum. Aber Sie irren sich, wenn Sie glauben, daß das, was ich Ihnen anbiete, aus irgendeinem tiefen Gefühl, aus Freundschaft, Zuneigung, Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Menschenfreundlichkeit oder was der edlen Regungen mehr sind, geschieht. Ich tue es harmlos, nebenbei, verstehen Sie mich, und so braucht Ihr Stolz nicht verletzt zu sein.«

Der Doktor schwieg wieder. Polzer verstand ihn nicht.

»Eine Wohltat dürften Sie nicht annehmen, nein, gewiß nicht. Aber Sie dürfen einer Laune von mir nachgeben. Zudem wissen Sie, daß ich ein wohlhabender Mensch bin. Ich übe meinen Beruf nicht aus. Ich reise, im Grunde habe ich bis jetzt nichts getan als mich umgesehen. Ich bin kein mitleidiger Mensch. Ich gebe nichts für die Armen. Wenn ich mitleidig wäre, ich würde gewiß nichts Ihnen und gewiß nicht Ihnen das anbieten, was ich Ihnen anzubieten im Begriffe bin. Ich biete es Ihnen an, weil es meiner Vorstellung von Ihnen entspricht. Ich will meine Vorstellung wahrmachen. Ich weiß nichts von Ihnen. Ich denke mir aber, daß Sie einem guten Bürgerhaus aus der Provinz entstammen. In Ihrer Heimat dürfte Ihr Vater ein angesehener Kaufmann gewesen sein, ein Arzt oder Anwalt. Ich nehme an, daß die Familie verarmte und daß Sie, vielleicht allzu weichlich erzogen, nicht die Kraft besaßen, sich aus eigener Kraft eine Stellung zu erobern, die Ihnen das Ihrer Erziehung und Abkunft entsprechende Einkommen gewährt. Nun, habe ich richtig geraten, Herr Polzer? Oder haben Sie etwas zu entgegnen?«

Polzer fühlte trotz der Dunkelheit den fragenden Blick des Doktors auf sich gerichtet. Er wußte, daß sein Gesicht sich mit brennender Röte bedeckt habe.

»Nein, nein,« sagte er.

»Ich sehe das an dem Anstand, Herr Polzer, mit dem Sie Ihre alten und schon schlechten Kleidungsstücke zu tragen wissen. An der liebenswürdigen Schüchternheit, mit der Sie sich in Ihrem Anzug, dessen Dürftigkeit Ihnen bewußt ist, bewegen. In Ihrem ganzen Wesen liegt die Würde einer bürgerlichen Tradition. An nichts tragen Sie schwerer, ich weiß es, als daß Ihr Äußeres mit der Linie Ihrer Bewegungen nicht im Einklang ist, daß es den Erinnerungen Ihrer Erziehung, ich möchte sagen, dem Bilde Ihres Vaters widerspricht. Immerfort liegt das auf Ihnen und drückt Sie. Das ist der Grund, warum Sie sich unfrei fühlen in Gesellschaft und gewiß auch im Beruf.«

Sie standen unter den ersten Lampen. Polzer drückte den Hut auf die Hose.

»Können Sie sich nun denken, was ich will,« fragte der Doktor.

»Nein,« sagte Polzer.

»Sie brauchen einen Anzug. Einen gut geschnittenen neuen Anzug, Wäsche, Hut, Schuhe und was sonst dazu gehört. Wir werden es morgen miteinander aussuchen, Herr Polzer. Ich strecke den Betrag nur vor. Sie sehen, daß ich kein Wohltäter bin. Die ganze Angelegenheit bleibt zwischen uns beiden. Sie wissen, daß Sie mein Anerbieten ruhig annehmen können, ohne sich mir übermäßig zu verpflichten.«

Polzer sah ihn an. Der Doktor lächelte und wich Polzers Blick aus. Polzer antwortete nicht.

»Ich werde Sie mittags vor der Bank erwarten,« sagte der Doktor.

An der Haltestelle der Straßenbahn trennte man sich. Polzer fuhr mit Frau Porges nach Hause, und nur der Student begleitete sie. Polzer dachte an eine lange braune Jacke mit rund geschnittenen Schößen, Der Vater von Karl Fanta hatte solch eine Jacke getragen. Es war ein vornehmer und würdiger Rock.

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