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Hugo Ball

Hermann Hesse. Sein Leben und sein Werk

Hermann Lauscher und Peter Camenzind

eingestellt: 14.6.2007





Nach Basel kommt Hesse mit zweiundzwanzig Jahren 1899 als angehender Dichter und Literat. Bei Pierson erscheinen bereits seine in Tübingen entstandenen »Romantischen Lieder«, bei Diederichs die von Rilke mit Hochachtung aufgenommenen Skizzen »Eine Stunde hinter Mitternacht«. Seines äußeren Zeichens ist Hesse noch immer Buchhändlergehilfe. In Tübingen hatte er achtzig Mark Salär, hier in Basel werden es hundertfünfzig bis zweihundert sein. Damit kann man sich immerhin rühren. Damit kann man an freien Sonn- und Feiertagen an den Vierwaldstätter See hinüberfahren und sich Tribschen anschauen. Damit kann man sogar in ausgedehnteren Urlaubstagen eine kurze Bogenreise durch Oberitalien riskieren. Staat machen kann man mit solchem Einkommen nicht, und gesellschaftlich wird man sich etwas gedrückt fühlen. Aber das literarische Talent, an dem es nicht fehlt und das sichtlich gesegnet ist, wird etwaige Beklommenheiten der Garderobe gleichgültig erscheinen lassen.

Daß Basel auf Tübingen folgt, ist kein Zufall. Die schwäbischen Theologen waren mit Basel, der Mutterstadt der Mission, immer in enger Verbindung. Der junge Hesse folgt darin nur dem Zug seiner Väter. Auch sie schon hatten eine Art alemannischer Gemeinschaft empfunden, und man kann der Ansicht sein, daß sich diese Gemeinschaft auch auf die Interessen eines Romantikers und Humanisten ausdehnen läßt. So ist es nur konsequent, wenn Hesse das Studium der Universalien, das er in Tübingen mit Goethe begonnen hat, in Basel mit Jacob Burckhardt und Nietzsche fortsetzt.

Auch sind von den Eltern her noch Beziehungen lebendig. Basel ist die Stadt, in der sich die Mutter viel glücklicher fühlte als in Schwaben. Nach Basel kamen immer wieder die Väter und ihre Freunde herüber: zum Besuch der Missionsanstalt; um einem in die Ferne ziehenden Kameraden noch rasch die Hand zu drücken; um einen Zurückgekehrten um die neuesten Erfahrungen zu befragen. An der Missionsanstalt waren die Schwaben Josenhans und Christoph Blumhardt Inspektoren, war Hesses Vater Präzeptor gewesen. Schon 1883 notiert die Mutter: »Herziger, lieber Umgang mit Frau Professor Wackernagel und ihren erwachsenen Kindern, auch mit Pfarrer Laroches und anderen, die in der Nähe einige Wochen wohnen.« Sie notiert das gelegentlich eines Landaufenthaltes auf dem Rechtenberg, wo Ratsherr Sarasin ein Gut besaß.

Sowohl mit der Familie Rudolf Wackernagels, dessen Büste man vor kurzem in der Universitätsbibliothek aufgestellt hat, wie mit der Familie jenes Pfarrers Laroche tritt der junge Hesse wohl bald nach seiner Ankunft in Verbindung. Im »Lauscher« die Doktors sind die Wackernagels im Wenkenhof zu Riehen. Dieser Wackernagel, sagte mir Hesse, ist nicht zu verwechseln mit dem bekannten Sanskritisten. Nein, das ist er wohl nicht. Rudolf Wackernagel, damals etwa fünfundvierzig Jahre alt, ist der »unvergessene Staatsarchivar und Geschichtsschreiber unserer Stadt«; er ist Poet und gerühmt auch als gastlicher Hausherr und prächtiger Vater; seine vielfachen Begabungen vereinigen sich »im Feuer eines wachen Geistes«. Bei Wackernagel konnte der junge Dichter gelegentlich auch dem Rheinländer Jennen begegnen, dem Architekten des neuen Basler Rathauses, dieses gar frohmütigen Rathauses mit seinem buntgestreifelten Ziegelschmuck. Oder Heinrich Wölfflin, dem Kunsthistoriker, der damals Professor der Universität war. Auch Karl Joël verkehrte im Wackernagelschen Hause; sein Buch über »Nietzsche und die Romantik« erschien, wenn ich nicht irre, 1906, also wenige Jahre nachdem Hesse Basel verlassen hatte.

Wichtiger aber als diese gelehrten Connaissancen wurde für Hesse die Beziehung zum Hause Laroche. Ich weiß nicht, ob ich eine Indiskretion begehe, aber man flüsterte in Basel, schon als der »Lauscher« erschien und erst recht nach der Publikation des »Camenzind«, das Urbild der in beiden Büchern hold und weh vorüberziehenden »Elisabeth« sei ein Fräulein Laroche gewesen. Elisabeth ist ein hoher mütterlicher Name, dessen Mythus nach der Wartburg weist. Die süßeste Gestalt der deutschen Heiligenlegende, jene Frau, die den Armen das Brot bringt, hieß so. In ihrem verhohlenen Korbe, da man brutal das Geheimnis entschleiern will, duften die Rosen. Sie könnte sehr wohl, diese lächelnde Frau, das Gegenbild sein zum getreuen Eckhart, zum Manne mit dem Wunderkrug. Ihr sind außer den Prosasätzen im »Lauscher« und im »Camenzind« einige der schönsten Verse aus seinen 1902 bei Grote erschienenen »Gedichten« gewidmet. Im »Buch der Liebe« stehen sie, gleich obenan.

Wie eine weiße Wolke
Am hohen Himmel steht,
So weiß und schön und ferne
Bist du, Elisabeth.

Die Wolke geht und wandert,
Kaum hast du ihrer acht,
Und doch durch deine Träume
Geht sie in dunkler Nacht.

Geht und erglänzt so silbern,
Daß fortan ohne Rast
Du nach der weißen Wolke
Ein süßes Heimweh hast.

Der »Camenzind« enthält auch die Geschichte dieser weißen Wolke, die ursprünglich einem Bilde des Malers Segantini entflogen ist. Und hier wäre nun ein ganzes Kapitel über die Wolken in Hesses Büchern zu schreiben; aber ich muß das leider einem Philologen überlassen.

In Basel wird zunächst der »Hermann Lauscher« beendet, der 1901 erscheint, und es wird ersichtlich, daß Hesse sich, auch um das Büchlein zu schließen, in die Missionsstadt gemeldet hat. Von den drei Teilen habe ich die »Kindheit« schon früher, die »Tübinger Erinnerung« im vorigen Kapitel erwähnt. Der dritte, in Basel geschriebene Abschnitt ist eine tagebuchartige Folge von sehr zerbrechlichen Aufzeichnungen. Hesse beschäftigt sich vorzüglich mit romantischer Poesie. Tiecks »Sternbald«, Hoffmanns »Brambilla«, die Hymnen des Novalis und der »Ofterdingen«, auch Keller und Heine werden genannt. Von Philosophen hat er Nietzsche (den »Zarathustra« schon in Tübingen) gelesen und spürt seinen Quellen und Lehrern nach.

Hier in Basel hat ja der fünfundzwanzigjährige Nietzsche, der ebenso wie Hesse aus einem frommen Protestantenhause und von der romantischen Schule herkam –, hier hat ja der Dichter des Prinzen Vogelfrei den Homer und den Pindar erklärt. Hier war er in Freundschaft mit Jacob Burckhardt verbunden. Von hier reiste er – und Hesse folgt ihm verehrend – nach Tribschen hinüber, um Frau Cosima die »Unzeitgemäßen Betrachtungen« vorzulegen. Hier in Basel schrieb er die »Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«, dies übersensitive und doch unheimlich diesseitige Buch eines Ekstatikers, der morgen zum Narren werden, eines fliegenden Henoch, den morgen ein Katzenjammer aus allen Sternen herabstürzen kann.

Vergleicht man den »Lauscher« mit den Frühwerken des Naumburgers, so ergeben sich interessante Parallelen. Ähnlich wie bei Nietzsche auf die romantischen Rauschzustände derbere Einsichten folgen, so klingt bereits bei Hesse manch skeptischer Passus an. Bald schon, und ehe man noch davon vernommen hat, wird der »Camenzind« die morbide Schwermut eines Spätgeborenen, die leichenhafte Herbstlichkeit des jungen Dichters durchbrechen. Hier wie dort mahnt eine robustere Stimme, über der Verzärtelung des Empfindens die leicht lügenden Instinkte nicht zu vergessen. Sie führen zu dekorativen Gefühlen, zur seelischen Ausflucht; zu maßlosen Ohrenschmäusen und musikalischen Zechgelagen; man verinnerlicht Appetite, die sich gefährlich und überraschend können nach außen wenden.

Heine schon und der ältere Goethe traten dem Mißwesen und irren Geschwärme mit allen Mitteln der Ironie entgegen. Sie betonten das Handwerk, das Zeichnen, die schöne Gestalt. Sie suchten das einzelne aufzustöbern; sie suchten Genauigkeit. Eine ähnliche Skepsis lernt Hesse in Basel. Gerade vor Nietzsche konnte man Anlaß nehmen, über den Takt des entfesselten Herzens nachzudenken. In solchem Nachdenken mag die Erklärung liegen, weshalb zwei der Zeit nach einander so nahe Bücher wie »Lauscher« und »Camenzind« doch ihrem ganzen Gepräge nach voneinander verschieden sind.

Der »Lauscher« in seinem Basler Teil ist durchaus ein Bekenntnis zu Unmut und Traurigkeit; zu versunken schluchzenden Tönen. Er gehört einer Generation an, die sich wehklagend nach rückwärts wendet, den Anfängen der Seele zu. Er enthält Worte, die ebenso vom jungen Nietzsche, von Hoffmannsthal oder George, von Maeterlinck oder Trakl könnten geschrieben sein. Auch der Gegensatz von dionysischer Sturmflut und apollinischer Bemeisterung, der Gegensatz von aufgewühlter dunkler Unterwelt und leichter Verlorenheit an Lektüre, an Landschaft und Alltag –: auch dieser Gegensatz ist sehr vorhanden.

»O diese Seele«, sagt Lauscher, »dieses schöne, dunkle, heimatliche, gefährliche Meer! Während ich ihre schillernde Oberfläche unermüdlich prüfe, liebkose, befrage und bestürme, spült sie zuweilen immer wieder wie zum Hohn ein fremdfarbiges Rätsel aus bodenloser Tiefe vor mir aus, Muscheln, die von unermeßlichen, fremden Räumen reden, wie ein Stück uralten Schmuckes vereinzelte, unsichere Ahnungen einer versunkenen Vorzeit beschwört.« Oder ein anderer Passus:

»O diese Nacht! Zehn Stunden ohne Schlaf, jede Minute ein Kampf meiner unterdrückten Seele mit dem grausamen, gewaltherrischen Gedanken, ein Kampf mit Zähneknirschen und Schluchzen, ein Ringen ohne Waffen, Brust an Brust, mit allen Listen und Grausamkeiten der Verzweiflung. Alle Dämme und Grenzen, die ich meinem inneren Leben gezogen hatte, alle mühsam vorbereiteten Saaten, alle gelegten Grundsteine sind in diesen Stunden zertreten und vernichtet worden. Ich sah vom Bette aus die Hammetschwand in den bleichen Himmel stechen... und nun wußte ich plötzlich, daß nichts mehr zu retten wäre; freigelassen taumelte die ganze untere Welt in mir hervor, zerbrach und verhöhnte die weißen Tempel und kühlen Lieblingsbilder. Und dennoch fühlte ich diese verzweifelten Empörer und Bilderstürmer mir verwandt, sie trugen Züge meiner liebsten Erinnerungen und Kindertage.«

Hier sind sie, Apollo und Dionysos; nur beziehen sie sich statt auf Kultur und Geschichte auf die eigene, die persönliche Welt. Sie gehen durch Hesses ganzes, in Basel beginnendes Lebenswerk. Bald wird die zierliche Flöte ertönen, und die Menge wird sich entzückt an die Fersen des Dichters heften; bald wird die faunische Zymbel grellen und der gesetzlose Trieb ausbrechen, wohlgeformt auch er, aber umstürzend und furchteinflößend, zerreißend die Lieblingsbilder, demianisch und steppenwölfisch.

Man hat gegen Hesses Bücher der Frühzeit den Vorwurf bukolischer Selbstgenügsamkeit erhoben. Ich weiß nicht, ob das ein Einwand ist. Eine gewisse Ängstlichkeit (nicht vor dem Publikum und der Auseinandersetzung) hielt Hesse lange Zeit zurück. Es wäre aber eine Torheit zu glauben, daß dieser Dichter aus zwei Hälften besteht, von denen die eine von der andern ein Jahrzehnt lang nichts wußte. »Ziehen wir das Fazit«, so schreibt bereits der Dreiundzwanzigjährige mit vollkommener Selbstironie: »Mir bleibt bei leidlich jungen Jahren der noch respektabel konservierte Rest einer ehemals ansehnlichen Phantasie, eine gewisse, wenn schon etwas abgenutzte Fähigkeit zum Genießen und Arrangieren schillernder Stimmungen, sowie ein kleiner Fond von ›Seele‹, der bei vorsichtigem Gebrauch eventuell noch eine und die andere Liebe leichteren Genres zu inszenieren und zu überdauern vermag. Rechnen wir dazu eine durch lange Gewohnheit erworbene Fähigkeit im Tragisch-Idealischen und in der souverän duldenden Pose, so muß ich mir selbst zu so schönen dichterischen Fähigkeiten gratulieren und habe keinen Grund, um meine Zukunft als Autor besorgt zu sein. Ich werde Niels Lyhne nicht ohne persönliche Note imitieren und die sublimsten Wiener in Ekstasen übertreffen. Das heißt auf deutsch: Pfui Teufel! Aber wozu habe ich Neudeutsch und Wienerisch gelernt?«

Neben der Gedankenwelt Nietzsches steht immer wieder die Beschäftigung mit Goethe. Beide treffen sich nicht nur im Humanismus, sondern auch in der Befürwortung der Aristokratie, des Vornehmen und Erlesenen. Basel, die Patrizierstadt, bringt diese, die beiden Erzieher verbindenden Züge auf Schritt und Tritt zu Bewußtsein. Wenn Hesse als »Kurgast« von seinem Arzte einen Rest jenes Humanismus erwartet, zu welchem »die Kenntnis des Lateins und des Griechischen und eine gewisse philosophische Vorschule gehören«, so weist diese Forderung auf die alte Humanistenstadt am Oberrhein zurück. Nach Basel aber deuten auch die ersten Versuche des Dichters in jener »Kunst der Geselligkeit«, von der Hesse noch in der »Nürnberger Reise« (1926) gesteht, daß er noch immer in ihr Dilettant und Anfänger sei.

Schon im »Wilhelm Meister« fanden sich Sätze, die erkennen ließen, daß die Lebensart überhaupt eine Kunst sei; daß es nicht nur darauf ankomme, die halbe Weltliteratur zu kennen und sich mit schönen Gestalten phantastisch zu umgeben. Es erschien vielmehr wichtig, die schönen Gedanken und Gestalten in das eigene Wesen aufzunehmen und darzuleben. Im Kreise der Adligen seiner Zeit fand Wilhelm Meister ein neues Ideal: die harmonische Ausbildung der Persönlichkeit. »Er sah das wichtige und bedeutungsvolle Leben der Vornehmen, so hieß es da, in der Nähe und verwunderte sich, wie einen leichten Anstand sie ihm zu geben wußten«, und er faßte den Entschluß, »sich zu der vornehmen Welt emporzubilden«.

Der junge Hesse hat diese Sätze wohl gelesen; ich sprach von gelegentlicher Nobilitierung in seinen Schriften. Im »Lauscher« aber ist er noch der Dépressé mit allen typischen Anzeichen innerer Überlastung und äußerer Unbeholfenheit. Er hat vom Vater Gewissensstrenge, von der Mutter Choräle gelernt. Vom Schwarzwaldstädtchen aber haftet ihm eine gewisse Überbetonung der Manieren an; eine Vernachlässigung der Krawatte, eine linkische Scheu, ein Mangel an Beweglichkeit. Er kann nicht tanzen, nicht plaudern, keine Verbeugung machen. Er weiß nicht die Hand einer jungen Dame zu küssen, ein rasches Billett zu schreiben; jede Geste bekommt Zentnergewicht. Die Weltferne der schwäbischen Kleinstadt hängt ihm an, und das Autodidaktentum, das alle Zeit frißt, die man auf Tennisspielen und andere Kunststücke verwenden sollte, vermehrt noch diese Schwierigkeit. Man braucht sich nur in eine elegante Dame zu verlieben, um die verflixte Ironie solch kleinstädtischen Angebindes gewahr zu werden. Auch dies ist ein Wesenszug des Romantikers; Goethe wußte es wohl. Viele typisch romantische Züge sind in solchen Verlegenheiten begründet und schwinden mit ihnen. Manche mißglückte Liebe – weder in Hesses Büchern, noch bei Gottfried Keller, noch bei den übrigen Romantikern fehlt es daran – hat hierin ihren Grund.

Hermann Lauscher gibt sich zunächst gar preziös und verwöhnt. Gelegentlich Tolstoi: »Etwas von der trostlosen traurigen, rohen, schrecklichen Luft dieses Russen drückt mich – es ist körperlich ungesund, solche Sachen zu lesen... Bei den Heiligen Martin und Franziskus ist Person und Lehre ebenso hell, elastisch und erfreuend, wie bei Tolstoi dunkel, spröde und niederdrückend.« – »Vielleicht, sagt er, kommt von dorther die Erneuerung der Welt, aber ehe aus diesen herben, frischen, rohen Keimen Kunst werden kann, müssen sie noch hundert Jahre und länger reifen.« Man hört Nietzsche und Goethe zugleich; beide, wo sie vom Germanen sprechen, der noch einige Jahrhunderte tüchtig müsse kultivieren, ehe man würde sagen können, es sei lange her, daß er ein Barbar gewesen.

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