Nach Basel kommt Hesse mit zweiundzwanzig Jahren 1899 als angehender Dichter und Literat. Bei Pierson erscheinen bereits seine in Tübingen entstandenen »Romantischen Lieder«, bei Diederichs die von Rilke mit Hochachtung aufgenommenen Skizzen »Eine Stunde hinter Mitternacht«. Seines äußeren Zeichens ist Hesse noch immer Buchhändlergehilfe. In Tübingen hatte er achtzig Mark Salär, hier in Basel
werden es hundertfünfzig bis zweihundert sein. Damit kann man sich immerhin rühren. Damit kann man an freien Sonn- und Feiertagen an den Vierwaldstätter See hinüberfahren und sich Tribschen anschauen. Damit kann man sogar in ausgedehnteren Urlaubstagen eine kurze Bogenreise durch Oberitalien riskieren. Staat machen kann man mit solchem Einkommen nicht, und gesellschaftlich wird man sich etwas gedrückt fühlen. Aber das literarische Talent, an dem es nicht fehlt
und das sichtlich gesegnet ist, wird etwaige Beklommenheiten der Garderobe gleichgültig erscheinen lassen.
Daß Basel auf Tübingen folgt, ist kein Zufall. Die schwäbischen Theologen waren mit Basel, der Mutterstadt der Mission, immer in enger Verbindung. Der junge Hesse folgt darin nur dem Zug seiner Väter. Auch sie schon hatten eine Art alemannischer Gemeinschaft empfunden, und man kann der Ansicht sein, daß sich diese Gemeinschaft auch auf die
Interessen eines Romantikers und Humanisten ausdehnen läßt. So ist es nur konsequent, wenn Hesse das Studium der Universalien, das er in Tübingen mit Goethe begonnen hat, in Basel mit Jacob Burckhardt und Nietzsche fortsetzt.
Auch sind von den Eltern her noch Beziehungen lebendig. Basel ist die Stadt, in der sich die Mutter viel glücklicher fühlte als in Schwaben. Nach Basel kamen immer wieder die Väter und ihre Freunde herüber: zum Besuch
der Missionsanstalt; um einem in die Ferne ziehenden Kameraden noch rasch die Hand zu drücken; um einen Zurückgekehrten um die neuesten Erfahrungen zu befragen. An der Missionsanstalt waren die Schwaben Josenhans und Christoph Blumhardt Inspektoren, war Hesses Vater Präzeptor gewesen. Schon 1883 notiert die Mutter: »Herziger, lieber Umgang mit Frau Professor Wackernagel und ihren erwachsenen Kindern, auch mit Pfarrer Laroches und anderen, die in der Nähe einige
Wochen wohnen.« Sie notiert das gelegentlich eines Landaufenthaltes auf dem Rechtenberg, wo Ratsherr Sarasin ein Gut besaß.
Sowohl mit der Familie Rudolf Wackernagels, dessen Büste man vor kurzem in der Universitätsbibliothek aufgestellt hat, wie mit der Familie jenes Pfarrers Laroche tritt der junge Hesse wohl bald nach seiner Ankunft in Verbindung. Im »Lauscher« die Doktors sind die Wackernagels im Wenkenhof zu Riehen. Dieser Wackernagel,
sagte mir Hesse, ist nicht zu verwechseln mit dem bekannten Sanskritisten. Nein, das ist er wohl nicht. Rudolf Wackernagel, damals etwa fünfundvierzig Jahre alt, ist der »unvergessene Staatsarchivar und Geschichtsschreiber unserer Stadt«; er ist Poet und gerühmt auch als gastlicher Hausherr und prächtiger Vater; seine vielfachen Begabungen vereinigen sich »im Feuer eines wachen Geistes«. Bei Wackernagel konnte der junge Dichter gelegentlich auch dem
Rheinländer Jennen begegnen, dem Architekten des neuen Basler Rathauses, dieses gar frohmütigen Rathauses mit seinem buntgestreifelten Ziegelschmuck. Oder Heinrich Wölfflin, dem Kunsthistoriker, der damals Professor der Universität war. Auch Karl Joël verkehrte im Wackernagelschen Hause; sein Buch über »Nietzsche und die Romantik« erschien, wenn ich nicht irre, 1906, also wenige Jahre nachdem Hesse Basel verlassen hatte.
Wichtiger
aber als diese gelehrten Connaissancen wurde für Hesse die Beziehung zum Hause Laroche. Ich weiß nicht, ob ich eine Indiskretion begehe, aber man flüsterte in Basel, schon als der »Lauscher« erschien und erst recht nach der Publikation des »Camenzind«, das Urbild der in beiden Büchern hold und weh vorüberziehenden »Elisabeth« sei ein Fräulein Laroche gewesen. Elisabeth ist ein hoher mütterlicher Name, dessen Mythus nach
der Wartburg weist. Die süßeste Gestalt der deutschen Heiligenlegende, jene Frau, die den Armen das Brot bringt, hieß so. In ihrem verhohlenen Korbe, da man brutal das Geheimnis entschleiern will, duften die Rosen. Sie könnte sehr wohl, diese lächelnde Frau, das Gegenbild sein zum getreuen Eckhart, zum Manne mit dem Wunderkrug. Ihr sind außer den Prosasätzen im »Lauscher« und im »Camenzind« einige der schönsten Verse aus
seinen 1902 bei Grote erschienenen »Gedichten« gewidmet. Im »Buch der Liebe« stehen sie, gleich obenan.
Wie eine weiße Wolke Am hohen Himmel steht, So weiß und schön und ferne Bist du, Elisabeth. Die Wolke geht und wandert, Kaum hast du ihrer acht, Und doch durch deine Träume Geht sie in dunkler Nacht. Geht und
erglänzt so silbern, Daß fortan ohne Rast Du nach der weißen Wolke Ein süßes Heimweh hast. |
Der »Camenzind« enthält auch die Geschichte dieser weißen Wolke, die ursprünglich einem Bilde des Malers Segantini entflogen ist. Und hier wäre nun ein ganzes Kapitel über die Wolken in Hesses Büchern zu schreiben; aber ich muß das leider einem Philologen
überlassen.
In Basel wird zunächst der »Hermann Lauscher« beendet, der 1901 erscheint, und es wird ersichtlich, daß Hesse sich, auch um das Büchlein zu schließen, in die Missionsstadt gemeldet hat. Von den drei Teilen habe ich die »Kindheit« schon früher, die »Tübinger Erinnerung« im vorigen Kapitel erwähnt. Der dritte, in Basel geschriebene Abschnitt ist eine tagebuchartige Folge von sehr
zerbrechlichen Aufzeichnungen. Hesse beschäftigt sich vorzüglich mit romantischer Poesie. Tiecks »Sternbald«, Hoffmanns »Brambilla«, die Hymnen des Novalis und der »Ofterdingen«, auch Keller und Heine werden genannt. Von Philosophen hat er Nietzsche (den »Zarathustra« schon in Tübingen) gelesen und spürt seinen Quellen und Lehrern nach.
Hier in Basel hat ja der fünfundzwanzigjährige Nietzsche, der
ebenso wie Hesse aus einem frommen Protestantenhause und von der romantischen Schule herkam –, hier hat ja der Dichter des Prinzen Vogelfrei den Homer und den Pindar erklärt. Hier war er in Freundschaft mit Jacob Burckhardt verbunden. Von hier reiste er – und Hesse folgt ihm verehrend – nach Tribschen hinüber, um Frau Cosima die »Unzeitgemäßen Betrachtungen« vorzulegen. Hier in Basel schrieb er die »Geburt der Tragödie aus
dem Geiste der Musik«, dies übersensitive und doch unheimlich diesseitige Buch eines Ekstatikers, der morgen zum Narren werden, eines fliegenden Henoch, den morgen ein Katzenjammer aus allen Sternen herabstürzen kann.
Vergleicht man den »Lauscher« mit den Frühwerken des Naumburgers, so ergeben sich interessante Parallelen. Ähnlich wie bei Nietzsche auf die romantischen Rauschzustände derbere Einsichten folgen, so klingt bereits bei
Hesse manch skeptischer Passus an. Bald schon, und ehe man noch davon vernommen hat, wird der »Camenzind« die morbide Schwermut eines Spätgeborenen, die leichenhafte Herbstlichkeit des jungen Dichters durchbrechen. Hier wie dort mahnt eine robustere Stimme, über der Verzärtelung des Empfindens die leicht lügenden Instinkte nicht zu vergessen. Sie führen zu dekorativen Gefühlen, zur seelischen Ausflucht; zu maßlosen Ohrenschmäusen und
musikalischen Zechgelagen; man verinnerlicht Appetite, die sich gefährlich und überraschend können nach außen wenden.
Heine schon und der ältere Goethe traten dem Mißwesen und irren Geschwärme mit allen Mitteln der Ironie entgegen. Sie betonten das Handwerk, das Zeichnen, die schöne Gestalt. Sie suchten das einzelne aufzustöbern; sie suchten Genauigkeit. Eine ähnliche Skepsis lernt Hesse in Basel. Gerade vor Nietzsche konnte
man Anlaß nehmen, über den Takt des entfesselten Herzens nachzudenken. In solchem Nachdenken mag die Erklärung liegen, weshalb zwei der Zeit nach einander so nahe Bücher wie »Lauscher« und »Camenzind« doch ihrem ganzen Gepräge nach voneinander verschieden sind.
Der »Lauscher« in seinem Basler Teil ist durchaus ein Bekenntnis zu Unmut und Traurigkeit; zu versunken schluchzenden Tönen. Er gehört einer
Generation an, die sich wehklagend nach rückwärts wendet, den Anfängen der Seele zu. Er enthält Worte, die ebenso vom jungen Nietzsche, von Hoffmannsthal oder George, von Maeterlinck oder Trakl könnten geschrieben sein. Auch der Gegensatz von dionysischer Sturmflut und apollinischer Bemeisterung, der Gegensatz von aufgewühlter dunkler Unterwelt und leichter Verlorenheit an Lektüre, an Landschaft und Alltag –: auch dieser Gegensatz ist sehr
vorhanden.
»O diese Seele«, sagt Lauscher, »dieses schöne, dunkle, heimatliche, gefährliche Meer! Während ich ihre schillernde Oberfläche unermüdlich prüfe, liebkose, befrage und bestürme, spült sie zuweilen immer wieder wie zum Hohn ein fremdfarbiges Rätsel aus bodenloser Tiefe vor mir aus, Muscheln, die von unermeßlichen, fremden Räumen reden, wie ein Stück uralten Schmuckes vereinzelte,
unsichere Ahnungen einer versunkenen Vorzeit beschwört.« Oder ein anderer Passus:
»O diese Nacht! Zehn Stunden ohne Schlaf, jede Minute ein Kampf meiner unterdrückten Seele mit dem grausamen, gewaltherrischen Gedanken, ein Kampf mit Zähneknirschen und Schluchzen, ein Ringen ohne Waffen, Brust an Brust, mit allen Listen und Grausamkeiten der Verzweiflung. Alle Dämme und Grenzen, die ich meinem inneren Leben gezogen hatte, alle mühsam
vorbereiteten Saaten, alle gelegten Grundsteine sind in diesen Stunden zertreten und vernichtet worden. Ich sah vom Bette aus die Hammetschwand in den bleichen Himmel stechen... und nun wußte ich plötzlich, daß nichts mehr zu retten wäre; freigelassen taumelte die ganze untere Welt in mir hervor, zerbrach und verhöhnte die weißen Tempel und kühlen Lieblingsbilder. Und dennoch fühlte ich diese verzweifelten Empörer und Bilderstürmer mir
verwandt, sie trugen Züge meiner liebsten Erinnerungen und Kindertage.«
Hier sind sie, Apollo und Dionysos; nur beziehen sie sich statt auf Kultur und Geschichte auf die eigene, die persönliche Welt. Sie gehen durch Hesses ganzes, in Basel beginnendes Lebenswerk. Bald wird die zierliche Flöte ertönen, und die Menge wird sich entzückt an die Fersen des Dichters heften; bald wird die faunische Zymbel grellen und der gesetzlose Trieb ausbrechen,
wohlgeformt auch er, aber umstürzend und furchteinflößend, zerreißend die Lieblingsbilder, demianisch und steppenwölfisch.
Man hat gegen Hesses Bücher der Frühzeit den Vorwurf bukolischer Selbstgenügsamkeit erhoben. Ich weiß nicht, ob das ein Einwand ist. Eine gewisse Ängstlichkeit (nicht vor dem Publikum und der Auseinandersetzung) hielt Hesse lange Zeit zurück. Es wäre aber eine Torheit zu glauben, daß
dieser Dichter aus zwei Hälften besteht, von denen die eine von der andern ein Jahrzehnt lang nichts wußte. »Ziehen wir das Fazit«, so schreibt bereits der Dreiundzwanzigjährige mit vollkommener Selbstironie: »Mir bleibt bei leidlich jungen Jahren der noch respektabel konservierte Rest einer ehemals ansehnlichen Phantasie, eine gewisse, wenn schon etwas abgenutzte Fähigkeit zum Genießen und Arrangieren schillernder Stimmungen, sowie ein kleiner
Fond von ›Seele‹, der bei vorsichtigem Gebrauch eventuell noch eine und die andere Liebe leichteren Genres zu inszenieren und zu überdauern vermag. Rechnen wir dazu eine durch lange Gewohnheit erworbene Fähigkeit im Tragisch-Idealischen und in der souverän duldenden Pose, so muß ich mir selbst zu so schönen dichterischen Fähigkeiten gratulieren und habe keinen Grund, um meine Zukunft als Autor besorgt zu sein. Ich werde Niels Lyhne nicht ohne
persönliche Note imitieren und die sublimsten Wiener in Ekstasen übertreffen. Das heißt auf deutsch: Pfui Teufel! Aber wozu habe ich Neudeutsch und Wienerisch gelernt?«
Neben der Gedankenwelt Nietzsches steht immer wieder die Beschäftigung mit Goethe. Beide treffen sich nicht nur im Humanismus, sondern auch in der Befürwortung der Aristokratie, des Vornehmen und Erlesenen. Basel, die Patrizierstadt, bringt diese, die beiden Erzieher verbindenden
Züge auf Schritt und Tritt zu Bewußtsein. Wenn Hesse als »Kurgast« von seinem Arzte einen Rest jenes Humanismus erwartet, zu welchem »die Kenntnis des Lateins und des Griechischen und eine gewisse philosophische Vorschule gehören«, so weist diese Forderung auf die alte Humanistenstadt am Oberrhein zurück. Nach Basel aber deuten auch die ersten Versuche des Dichters in jener »Kunst der Geselligkeit«, von der Hesse noch in der
»Nürnberger Reise« (1926) gesteht, daß er noch immer in ihr Dilettant und Anfänger sei.
Schon im »Wilhelm Meister« fanden sich Sätze, die erkennen ließen, daß die Lebensart überhaupt eine Kunst sei; daß es nicht nur darauf ankomme, die halbe Weltliteratur zu kennen und sich mit schönen Gestalten phantastisch zu umgeben. Es erschien vielmehr wichtig, die schönen Gedanken und Gestalten in das eigene
Wesen aufzunehmen und darzuleben. Im Kreise der Adligen seiner Zeit fand Wilhelm Meister ein neues Ideal: die harmonische Ausbildung der Persönlichkeit. »Er sah das wichtige und bedeutungsvolle Leben der Vornehmen, so hieß es da, in der Nähe und verwunderte sich, wie einen leichten Anstand sie ihm zu geben wußten«, und er faßte den Entschluß, »sich zu der vornehmen Welt emporzubilden«.
Der junge Hesse hat diese
Sätze wohl gelesen; ich sprach von gelegentlicher Nobilitierung in seinen Schriften. Im »Lauscher« aber ist er noch der Dépressé mit allen typischen Anzeichen innerer Überlastung und äußerer Unbeholfenheit. Er hat vom Vater Gewissensstrenge, von der Mutter Choräle gelernt. Vom Schwarzwaldstädtchen aber haftet ihm eine gewisse Überbetonung der Manieren an; eine Vernachlässigung der Krawatte, eine linkische Scheu, ein Mangel
an Beweglichkeit. Er kann nicht tanzen, nicht plaudern, keine Verbeugung machen. Er weiß nicht die Hand einer jungen Dame zu küssen, ein rasches Billett zu schreiben; jede Geste bekommt Zentnergewicht. Die Weltferne der schwäbischen Kleinstadt hängt ihm an, und das Autodidaktentum, das alle Zeit frißt, die man auf Tennisspielen und andere Kunststücke verwenden sollte, vermehrt noch diese Schwierigkeit. Man braucht sich nur in eine elegante Dame zu verlieben,
um die verflixte Ironie solch kleinstädtischen Angebindes gewahr zu werden. Auch dies ist ein Wesenszug des Romantikers; Goethe wußte es wohl. Viele typisch romantische Züge sind in solchen Verlegenheiten begründet und schwinden mit ihnen. Manche mißglückte Liebe – weder in Hesses Büchern, noch bei Gottfried Keller, noch bei den übrigen Romantikern fehlt es daran – hat hierin ihren Grund.
Hermann Lauscher gibt sich
zunächst gar preziös und verwöhnt. Gelegentlich Tolstoi: »Etwas von der trostlosen traurigen, rohen, schrecklichen Luft dieses Russen drückt mich – es ist körperlich ungesund, solche Sachen zu lesen... Bei den Heiligen Martin und Franziskus ist Person und Lehre ebenso hell, elastisch und erfreuend, wie bei Tolstoi dunkel, spröde und niederdrückend.« – »Vielleicht, sagt er, kommt von dorther die Erneuerung der Welt, aber ehe
aus diesen herben, frischen, rohen Keimen Kunst werden kann, müssen sie noch hundert Jahre und länger reifen.« Man hört Nietzsche und Goethe zugleich; beide, wo sie vom Germanen sprechen, der noch einige Jahrhunderte tüchtig müsse kultivieren, ehe man würde sagen können, es sei lange her, daß er ein Barbar gewesen.
Die Neigung zum Erfreulichen, zum schönen Glanz und Schein ist indessen vorerst noch eine Maske. Hesse wird im »Camenzind« nicht zu den frischen Gröblichkeiten eines Brahms und Keller greifen, um seine Schwäche zu bemänteln; aber auch Hesse wird im »Camenzind« vom Berg den Hirtenknab gegen die urbanen Manieren ausspielen. Er ist noch weit entfernt von jener Position des späten Nietzsche, der die aristokratischen
Hände und Gesten der Kardinäle empfiehlt. »Das ist mein Fluch und Glück«, läßt er Lauscher sagen, »daß ich keine Schönheit grob und froh genießen kann... Nur zuweilen kommt das alte schwere Wesen, das ich so konsequent von mir abstreifte, für Augenblicke anklingend wieder über mich.« Schon bedenkt er, daß für den »toleranten Idealisten« ein höchster komischer Reiz im Untersinken eines
Helden zum Gemeinen liege. Aber noch gehört es »zu den Opfern, die wir dem Ideale schuldig sind«, auch diesen überaus verführerischen Reiz zu töten.
Dann steht er eines Abends am Kasino, um das Publikum (darunter Elisabeth) aus dem Konzertsaal kommen zu sehen. Warm und fröhlich schreitet sie, in Begleitung, über die beleuchtete Treppe herab, immer dieselbe Elisabeth, das Traum- und Wunschbild, in dem alles Ungesagte zur Oberfläche
und zum entdeckten Mysterium wird. Der Dichter aber steht vor dem erleuchteten Festsaal im Regen, sein Hut ist in die schmerzende Stirn gedrückt, sein grauer Mantel flattert im Wind. Wenige Tage später schon hat er mit »Hesse« einen »Klub der Entgleisten« gegründet, in den er auch seinen Tübinger Freund Elenderle mit aufnehmen würde, wenn dieser sich nicht im Tübinger »Walfisch« erschossen hätte. Und siehe da: bei Hesse
und Lauscher, »bei uns beiden... derselbe Mangel an Plastik, derselbe Zug... zum Schillernden, Flackernden und Unfesten... dieselbe Verwandtschaft mit der Musik, dieselbe Tendenz zur Auflösung der Prinzipien, zur künstlerischen Ironie«.
Um aber das religiöse Leitmotiv nicht aus dem Auge zu verlieren: auch hierin löst Nietzsche den versöhnlicheren Goethe ab; fürs erste wenigstens. Hesse vertritt einen leidenschaftlich zum Kult
gesteigerten Ästhetizismus. »Hatte ich nicht zuweilen an meinem Stern gezweifelt, sagt Lauscher, und war geneigt, einigen landläufigen Angriffen gegen die ästhetische Weltanschauung recht zu geben? Ich weiß nun, daß meine Religion kein Aberglaube ist, daß es sich lohnt, alle körperlichen und geistigen Dinge nur in ihren Beziehungen zur Schönheit zu betrachten, und daß diese Religion Erhebungen schenken kann, die an Reinheit und
Seligkeit denen der Märtyrer und Heiligen nicht nachstehen.« Eine interessante Äußerung; denn sie zeigt, daß die Welt der Goethe und Nietzsche, daß Ästhetizismus und Lebensart mit einer dritten Welt in Konflikt geraten sind. Von Heiligen war schon einmal, weiter oben, die Rede. Hesse hat den Sabatier und Bernoullis 1900 erschienenes Buch »Die Heiligen der Merowinger« gelesen. Vielleicht kennt er auch des Pietisten Arnold »Leben der
Altväter und anderer gottseliger Personen« schon; desselben Arnold übrigens, von dessen »Ketzerhistorie« sich Goethe in den Katholizismus einführen ließ.
Und nun entscheidet sich Hesse dieser ihm neuen Welt gegenüber völlig anders als seine beiden humanistischen Lehrer. Zwar findet er einstweilen noch, daß diese wahrhaft Frommen »für uns Ästheten die einzigen würdigen Feinde« sind. Warum? Weil
sie allein »ebenso tief wie wir die Abgründe des täglichen Lebens, das Leiden unter der Gemeinheit, das Auf-Knien-Liegen vor dem Ideal; die Ehrfurcht vor der Wahrheit und die schonungslose Konsequenz des Glaubens« kennen. Den Nietzscheschen Gegensatz von Christ und Ästhet, von Kreuz und Thyrsos, von Frömmigkeit und Schönheit teilt er also; aber er sieht im frommen Gegenüber doch den Ebenbürtigen auf einer anderen Linie. »Seit dem
Untergang der Antike sind immer diese beiden Wege über das Gemeine hinausgegangen, denn nach meinem Gefühl ließen sich die Wege der Ästheten und der Christen durchaus auch in der Geschichte der Philosophie nachweisen.«
Dank Sabatiers freierer Darstellung, und wohl auch dank der Legende, der Dichtung, mag Hesse den Heiligen gegenüber weder die indifferente Haltung Johann Wolfgangs teilen, noch jene völlig intolerante Nietzsches, der hier
nur Schauder und Grauen empfindet. Auf seiner ersten Italienreise (1901) sieht Hesse die Toscana fast völlig mit franziskanischen Augen; in Ravenna und Venedig befällt ihn ein orientalisches Staunen vor den Asketengestalten der byzantinischen Kunst. Im »Camenzind« belebt er Umbrien und Assisi, ohne daß er noch dort gewesen wäre, während Goethe, als er nach Assisi kommt, nur den Vitruv und den Palladio im Kopfe hat.
Der Name des heiligen
Franziskus ist auffällig in Hesses frühen Büchern. Auch in seiner Schreibweise, in seiner persönlichen Schlichtheit, in seiner verhohlenen Symbolkraft mag man den Einfluß des Poverello erblicken. Hesse hat seinem Vorzugsheiligen 1904 (entweder noch in Basel oder gleich in Gaienhofen) ein eigenes Büchlein gewidmet. Er hat zwar auch den Boccaccio so bedacht, und doch hebt das eine das andere nicht auf. Franziskus ist der Herold des großen Königs. Er
kommt, da er noch ein Dandy war, aus der Schule der Troubadouren und schreibt ihren dolce stil nuovo, auf den sich auch Hesse versteht. Franziskus ist in seinem (italienischen) Sonnengesang ein Vokalalchimist, wie es bis zu Mallarmé und Ungaretti keinen zweiten mehr gegeben hat.
Aber er ist, und für Hesse besonders, noch vieles andere. Er ist der Schutzpatron der Goldammern und der braunen Hasen auf dem Felde; der verunglückten Knulpleute und vielleicht sogar
der Wölfe auf dem Alverno. In Franziskus lebt für Hesse nicht zuletzt die Brüdergemeinde seines Vaterhauses weiter. Dem »Camenzind« ist zu entnehmen, daß der Dichter sich eine Zeitlang sogar damit trug, eine »Geschichte der Minoriten« zu schreiben. Es ist dies heute eine Reminiszenz an Basler Geschichtsstudien, aber sie zeigt doch, wie tief der junge Hesse in das hagiographische Gebiet eindrang. Zu denselben Studien gehört auch die
Lektüre des Cäsarius von Heisterbach und der »Gesta Romanorum«.
Gegen das Ende seines Basler Aufenthaltes befindet sich Hesse auf dem Weg einer Verbrückung der protestantisch-katholischen Gegensätze. Der Ausgleich liegt im romantischen Ideal. Die Romantiker kamen ja zum großen Teil aus Pietistenhäusern, und der Pietismus selbst ist ein Zwischenglied zwischen den beiden Konfessionen. Franziskus besonders scheint dem modernen
Natursymbol näher zu stehen als andere. Es ist dies ein Mißverständnis, aber ein sehr liebenswertes, legendäres. Gleichviel, auch der katholische Minderbruder steht dem Dichter nahe, wenn sein Paradies nicht nur den Geist, sondern auch die Kreatur umfaßt.
Die Spötter werden lächeln: Hesse kennt im »Camenzind« auch einen »Bruder Wein«, nicht nur den Bruder Sonne. Aber zuletzt und in einem seiner schönsten
Gedichte ist es doch der Bruder Tod, den er liebt, und diese brüderliche Liebe wird die andere, die hie und da in seinem Werke auftaucht, überdauern. Und also sei das Gedicht zitiert, das in keinem deutschen Lesebuch fehlen sollte:
Auch zu mir kommst du einmal, Du vergißt mich nicht, Und zu Ende ist die Qual, Und die Kette bricht. Noch erscheinst du fremd und fern, Lieber Bruder
Tod. Stehest als ein kühler Stern Über meiner Not. Aber einmal wirst du nah Und voll Flammen sein. Komm, Geliebter, ich bin da, Nimm mich, ich bin dein. |
Doch es ist an der Zeit, daß ich vom »Peter Camenzind« spreche, der Hesses Namen mit einem Schlage durch ganz Deutschland trug. Dies ist die verlegerische Vorgeschichte: ein dem Dichter persönlich nicht nahestehender
Herr, der Romanschriftsteller Paul Ilg, hatte den Berliner Verleger auf den Basler Literaten Hesse aufmerksam gemacht. Fischer las das spärliche »Lauscher«-Büchlein und lud den Dichter in herzlichster Weise ein, dem Verlag etwaige künftige Dichtungen zur Prüfung vorzulegen. »Es war die erste literarische Anerkennung und Ermunterung in meinem Leben«, schreibt Hesse. »Ich hatte damals den Camenzind begonnen und Fischers Einladung spornte mich
sehr an. Ich schrieb ihn fertig, er wurde sofort angenommen. Ich war arriviert.«
Nun, nicht nur arriviert. Hesse stand jetzt dort, wo er hingehörte: auf dem Forum, weithin vernehmbar. Und diese Verbindung war noch in anderem Sinne für ihn bedeutsam. Auch während der schlimmsten Jahre verstand es Fischer, eine Art von Gesellschaft und geistiger Elite aufrechtzuerhalten; einen Zirkel, der dem Werke, noch eh es geschrieben ist, eine Realität und
gesellige Signatur verleiht. Dieser feste Wille des Verlegers, dieses starke Bewußtsein einer Führung und Würde war es vielleicht gerade, was für Hesse zur Bedingung eines stetigen Sicherschließens wurde. Es ist sehr möglich, daß nur dieser Verlag dem Dichter jenes Gefühl von Sinn in seinem Tun und jenen Zustrom von Erwartung bieten konnte, ohne die Hesses Werk, wie wir es heute kennen, vielleicht nicht vorhanden wäre.
Der
»Camenzind« ist so oft gedruckt und besprochen worden, er ist so weithin bekannt, daß ich mir eine Analyse erlassen kann. Ich möchte den Roman mehr vom Biographen aus betrachten. Da erscheint er zunächst als ein vehementer Versuch des Dichters, sich eine Heimat zu schaffen. Die Eltern Hesses waren ebensosehr Russen als Engländer, ebensosehr französische Schweizer als Inder, und all dies mehr denn Schwaben. Der Dichter selbst war zwar in den deutschen
Staatsverband aufgenommen; bis zu seinem dreizehnten oder vierzehnten Jahr aber war er Schweizer gewesen. Da ihn mit Basel die frühesten, auch die menschlich bedeutsamsten Erinnerungen verbanden, so ist es nur natürlich, daß er sich in späteren Jahren (nach dem Krieg) in der Schweiz wieder naturalisieren ließ. Immerhin blieb das Problem einer Doppelheimat, da der Dichter ja in Calw geboren ist und seine glücklichste Knabenzeit dort verlebte.
Im
»Camenzind« möchte nun Hesse am liebsten als Mistral aus den Bergen gelten. Als Flaggenschwinger und Sturmposaune. Goethes Attachement an die Natur, Nietzsches Mistrallied und Rousseaus Paradiesesträume –: das sind die Ideen, die Traditionen des Buches. Der Büchermarkt scheint in die Ecke geworfen. »Was ist mir Plato! hieß es schon gegen den Schluß des »Lauscher«. Elende Scharteke! Ich muß Menschen sehen, Wagen fahren
hören... auch sehne ich mich danach, Nächte in kleinen Weinschenken zu verbringen, mit gemeinen Mädchen gemeine Gespräche zu führen, Billard zu spielen und tausend Nichtigkeiten zu treiben, die ich mir selber als tausend Gründe dieses Jammergefühls aufzählen kann, das ich ohne Gründe und Betäubung nicht länger ertrage.«
Die Künstlichkeiten machen ihn jetzt lachen; er ist der schwere Bursche aus dem Oberland, der
den Teufel nach Schopenhauer und Nietzsche frägt; der jodeln kann und diese Begabung – von der ich nicht weiß, ob sie der wirkliche Hesse jemals besessen hat –, bis zur Parodie treibt . Er ist der stämmige Bursche aus Nimikon, der die Firnen in die Tasche steckt und mit Eiszapfen die jungen Mädchen an der Nase kitzelt. Er ist der Troll und verhaltene Faun aus den Bergen, der sackermentisch kräftige Muskeln hat, ein wenig ein »wild
Säuding«, wie sich Keller nennt, aber doch wieder zart und franziskanisch gemengt in kleinen abseitigen sentimentalen Abenteuern, von denen die Modepinsel und die Salonhumanisten, die Tüftler und schmachtenden Damen nichts zu sehen bekommen.
Er ist durchaus nicht mehr der Exseminarist und Buchhändler oder gar der über drei Treppen in verstaubten Schmökern wühlende Antiquar seiner letzten Basler Zeit. Er ist durchaus nicht der Sohn des
Missionsschriftstellers Johannes Hesse in Calw und seiner halb indischen, halb französischen Gattin –: nein, er ist ein schlichter Gastwirt aus Nimikon, der, ehe er hinterm Ausschank resigniert, ein kunterbuntes Leben drunten in den berlinisch infizierten Kantonsstädten hinter sich hat und noch sonst allerlei, wie man munkelt. Es gibt in der Schweiz noch solche Camenzinds, nicht nur dem Namen nach. Es gibt sie noch, die romantischen Hoteliers, die plötzlich aus dem
geleckten Getriebe verschwinden und eine Zeitlang irgendwo in Mexiko oder Hinterindien eine zweite Existenz führen. Es gibt hier noch Beamte und einfache Handwerker, die eine apostolische Lebensfülle mitten im Alltag bergen. Hesse hat sie immer geliebt, und insofern ist auch sein »Camenzind« echt.
Nur ist das Berliner- und Parisertum ein wenig dünn und unerlebt ausgefallen. Gekannt hat Hesse vom internationalen Getriebe, als er den
»Camenzind« schrieb, nur jenen Ausschnitt, den man mit einem Euphemismus Basler Boheme nennen könnte. Die Bergwelt aber, die er aufstellt, diese unberührte, gewaltige, noch lange nicht genug Philosophie gewordene Welt der Ureindrücke und Urgefühle; der großen, langsamen, tragischen Bewegung; der Schneefahnenreinheit, der unbeweglich ruhenden Chimären –: sie kennt Hesse, schon damals. Sie hat er studiert vor der Hammetschwand und dem
Pilatus, vor dem Bürgenstock und dem Rigi. Hier in dieser Urwelt beheimatet er sich. So möchte er sein: wie die Berge sind und der Föhn; wie der kristallene See, in dem die Riesenhäupter sich spiegeln; wie die kärgliche Einsamkeit, die sich da oben abspielt. Von hier aus möchte er hinuntersteigen zu den Menschen und ihren mancherlei Schicksalen. Nein sagen und ja sagen, den Kopf schütteln über all der Narretei und wieder zurückkehren auf seine
Matte, in sein kleines Nimikon, wo er jeden Regentropfen und jedes Sonnenstäubchen, jeden Dachziegel und jede verirrte Krähe kennt.
Dies alles ist »Camenzind«. Aber er ist noch etwas anderes. Er ist auch ein ergötzlich zu lesender Aufschneider-Roman. Es wird viel renommiert und bramarbasiert in dem Buch; es wird flott geflunkert, in einer Weise, die zu Hause in Calw unerhört gewesen wäre. Man muß oft lachend an den Schelmuffsky
denken; an den »brav Kerl, dem was Rechts aus den Augen schaut«. Ein artiger Lügenroman von altbewährtem Schrot und Korn. Wie man von einem Sichausleben spricht, so könnte man davon sprechen, daß der uns bekannte frühere Pfarramtskandidat sich hier in diesem Buche von Herzen ausmären mag und darf. Er braucht das. Die Fabulierlust wurde allzu lange unterdrückt.
Die ergötzliche Renommage im »Camenzind«, das
Weitgereistsein erinnert ein wenig an Auerbachs Keller; an den Münchhausen. Es ist die unbekümmerte alte Poetenmanier, die von den Zauberromanen des Lukian über den Don Quichotte und den Gil Blas bis zu eben diesem »Camenzind« führt. Mitunter mutet das Buch, wenn man es heute liest, wie eine Persiflage auf den urchigen Schweizer an; so weit ist die Frische getrieben. Richard Wagner in Tribschen wird allen Ernstes das benachbarte Jodeln als Antithese zum
»Tristan« entgegengesetzt. Das ist der Humor des Buches; das ist die Ironie schon des älteren Hesse. Das ist ein Stück allerbester Laune.
Keine Depressionen mehr; keine Belastungen. Die Alpen sollen den inneren Alp erdrücken. War »Lauscher« der Nachklang notdürftig bemeisterter Erschütterungen, so soll mit »Camenzind« das Thema wechseln und die Gesundheit beginnen. War »Lauscher« das Echo bibliophiler
Studien, so ist »Camenzind« der Schritt ins Leben, in eine andere, schwere Natur. Eine Vergröberung, wenn man will, und eine Selbstverschuldung, aber auch eine Selbstentdeckung und ein Herausschreiben dessen, was nicht mehr an Beispiel und Vorbild gebunden ist. Im »Camenzind« gibt es keinen Pietismus mehr, kein Elternhaus mit Gebot und Lehre; hier herrscht die pura natura. Hier ist ein Werk, das von der Maxime ausgeht, daß Bildung erst könne beginnen,
wo keine Verbildung mehr vorhanden.
Vom Wesen Gottfried Kellers übrigens finde ich in diesem Buch sehr wenig. Die Becherszenen und der schrullige Onkel Konrad aus Nimikon können ebensowohl den Großvater aus Weißenstein zum Urbilde haben wie den Zürcher Stadtschreiber, der den politischen Gästen und Interessen seiner Heimat ganz anders erschlossen war als der durchaus unpolitische Dichter des »Camenzind«. Freilich, jener
Großvater aus Weißenstein und der Dichter Keller haben in manchem Punkte eine frappante Ähnlichkeit. Eher aber als Keller könnte der Dichter Stifter in seiner Abneigung gegen eine Menschen tragende Welt Pate gestanden haben, wenn – ja, wenn ihn Hesse damals schon gelesen gehabt hätte.