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Hugo Ball

Hermann Hesse. Sein Leben und sein Werk

Gaienhofen am Bodensee

eingestellt: 14.6.2007





Mit dem »Camenzind« beginnt, merkwürdig genug, die »bürgerliche Epoche« in Hesses Leben. Im Sommer 1904 heiratet er Maria Bernoulli aus altem Basler Mathematikergeschlecht. Sie ist neun Jahre älter als der Dichter und steht bei der Heirat fast in demselben Alter, in dem Hesses Mutter Maria stand, da der Dichter geboren wurde. Auch in der Statur, im Temperament, in der leidenschaftlichen Neigung zur Musik erinnert Maria Bernoulli an des Dichters Mutter. Für den Biographen ist sie vor allem diejenige Frau, der Hesse noch 1919, nachdem die Ehe schon getrennt war, die wundersame Erzählung »Iris« in den »Märchen« gewidmet hat; jene kleine Erzählung, die zum Schönsten gehört, was Hesses Werk enthält: die Erzählung von der blauen Schwertlilie, die, ein Symbol der streitbaren Romantik, im Heimatgarten der Mutter wuchs und erblühte.

Der Dichter erzählt in jenem Märchen die Irrwege durchs Leben, den Verlust der Kindheit und die Rückkehr zur Mutter, die Hinwendung zur Gattin. »Sie war älter«, heißt es da, »als er sich seine Frau gewünscht hätte. Sie war sehr eigen, und es würde schwierig sein, neben ihr zu leben und seinem gelehrten Ehrgeiz zu folgen, denn von dem mochte sie nichts hören. Auch war sie nicht sehr stark und gesund und konnte namentlich Gesellschaft und Feste schlecht ertragen. Am liebsten lebte sie mit Blumen und Gesang und etwa einem Buch um sich, in einsamer Stille, wartete, ob jemand zu ihr käme, und ließ die Welt ihren Gang gehen. Manchmal war sie so zart und empfindlich, daß alles Fremde ihr weh tat und sie leicht zum Weinen brachte. Dann wieder strahlte sie still und fein in einem einsamen Glück, und wer sie sah, der fühlte, wie schwer es sei, dieser schönen, seltsamen Frau etwas zu geben und etwas für sie zu bedeuten...«

»Wenn ich mit einem Manne leben soll«, sagt Iris, »so muß es einer sein, dessen innere Musik mit der meinen gut und fein zusammenstimmt, und daß seine eigene Musik rein und daß sie gut zu meiner klinge, muß sein einziges Begehren sein... Du wirst dabei«, so fährt sie fort, »wahrscheinlich nicht weiter berühmt werden und Ehren erfahren; dein Haus wird still sein, und die Falten, die ich auf deiner Stirn seit manchem Jahr her kenne, müssen alle wieder ausgetan werden...«

Der Dichter vernimmt diese Worte wohl; aber er will anderes vom Leben, und wenn er eine Frau haben würde, so müßte Leben und Klang und Gastlichkeit im Hause sein.

»Ach, höre mich wohl«, sagt Iris, »alles was dir jetzt Spielzeug ist, ist mir das Leben selbst und müßte es auch dir sein, und alles, woran du Mühe und Sorge wendest, das ist für mich ein Spielzeug, ist für meinen Sinn nicht wert, daß man dafür lebe.« Und dann das Muttermotiv: »Mehrmals hast du mir gesagt, daß du beim Aussprechen meines Namens jedesmal dich an etwas Vergessenes erinnert fühlst, was dir einst wichtig und heilig war. Das ist ein Zeichen, und das hat dich alle die Jahre zu mir hingezogen. Auch ich glaube, daß du in deiner Seele Wichtiges und Heiliges verloren und vergessen hast, was erst wieder wach sein muß, ehe du ein Glück finden und das dir Bestimmte erreichen kannst.«

So spricht eine Zauberin, vor der ein stürmender Jüngling, ein junger Dichter steht, der sich mit allen Problemen des Lebens herumzuschlagen gedenkt und den doch tief innen eine Fessel bindet und lauschen läßt. Er ist geneigt, die Aufgabe, die diese Frau ihm stellt, eine verrückte Weiberlaune zu schelten und wirft sie in Gedanken von sich. Dann aber widerspricht in seinem Innern etwas, ein sehr feiner, heimlicher Schmerz, eine ganz zarte, kaum hörbare Mahnung.

»Er begann zu schreiben«, fährt der Dichter fort, »er wollte Jahr um Jahr zurück, seine wichtigsten Erlebnisse niederschreiben, um sie einmal wieder fest in Händen zu haben...« Aber: »Erschreckend blickte er auf: war das das Leben? War dies alles? Und er schlug sich vor die Stirn und lachte gewaltsam.« Schließlich, im ferneren Verlauf des Märchens, findet er doch zurück, und das Leben schließt seinen Kreis, und der Traum ist wieder da, den er als kleiner Knabe geträumt: daß er in den Kelch der Iris hinabschritte, und »hinter ihm schritt und glitt die ganze Welt der Bilder mit und versank im Geheimnis, das hinter allen Bildern liegt...«

1902 war des Dichters Mutter gestorben. Nun heiratet er 1904 und zieht in das kleine, entlegene Dorf Gaienhofen am Bodensee. Er wohnt dort die ersten drei Jahre in einem einfachen Bauernhaus sehr bescheiden, dann baut er sich selbst ein Haus, in dem er bis 1912 bleibt, um dann nach Bern, abermals aufs Land, überzusiedeln. »In Gaienhofen«, so schreibt Hesse, »wohin mein Tübinger Freund Ludwig Finckh mir folgte, lebte ich acht Jahre, im Versuch, ein natürliches, fleißiges, der Erde nahes Leben zu führen.« Das ist der äußere Rahmen. Das zitierte Märchen aber zeigte bereits einen anderen Hesse, ließ einen Blick tun in die Seele des Dichters, und es waren da Erwartungen und Forderungen von Harmonie und Musikalität, denen seine unverbrauchte, zwiespältige Natur widerstrebte, ohne sich losreißen, ohne dem Zauber entgehen zu können.

Von den in Gaienhofen entstandenen Büchern läßt kaum eines diese Problematik ahnen. Die wenigen Skizzen vom Bodensee, die in das »Bilderbuch« aufgenommen sind, verraten mehr von der inneren Situation als die bekannten Novellenbände und Romane jener Zeit. Einen Aufschluß gibt auch der »Kurzgefaßte Lebenslauf«: »Jetzt also war«, so heißt es dort, »unter so vielen Stürmen und Opfern, mein Ziel erreicht: ich war, so unmöglich es geschienen hatte, doch ein Dichter geworden und hatte, wie es schien, den langen zähen Kampf mit der Welt gewonnen. Die Bitternis der Schul- und Werdejahre, in der ich oft sehr nah am Untergang gewesen war, wurde nun vergessen und belächelt – auch die Angehörigen und Freunde, die bisher an mir verzweifelt waren, lächelten mir jetzt freundlich zu. Ich hatte gesiegt. Mein äußeres Leben verlief nun eine ganze Weile ruhig und angenehm. Ich hatte Frau, Kinder, Haus und Garten. Ich schrieb meine Bücher, ich galt für einen liebenswürdigen Dichter und lebte mit der Welt in Frieden... Ich machte schöne Reisen in der Schweiz, in Deutschland, in Österreich, in Italien, in Indien. Alles schien in Ordnung zu sein.«

Bis zum Ausbruch des Krieges mußte es dem Dichter scheinen, als sei seine Entwicklung abgelaufen; tatsächlich war sie nur in eine Sackgasse geraten. Er faßt seinen Erfolg als einen Beweis dafür auf, daß er kein Taugenichts und Schlemihl sei; gerade dies aber zu sein, war einmal sein Ideal gewesen, oder er hatte den Chamisso und den Eichendorff nie ernstgenommen. Der junge Schriftsteller Hesse ist noch mit allem Für und Wider, mit seiner ganzen Lebenshaltung an die Beurteilung durch Eltern und Verwandte gebunden. Es gefällt ihm, denen zu Haus bewiesen zu haben, daß auch die Schriftstellerei einen goldenen Boden haben kann, wenn nur das helle, wache Talent nicht fehlt. Es schmeichelt ihm, soviel Widrigkeiten untergekriegt und dargetan zu haben, daß Dichter keineswegs Leute sind, die mit Schnurranten und Seiltänzern auf einer Stufe stehen. Es entgeht ihm, daß er sich zu einer Gesinnung verlocken läßt, die seinem besseren Wissen, seinem Artistentum, seiner abseitigen Verliebtheit in die Ironie und in entlegene Gefühle doch sehr widerspricht.

Vielleicht hätte er, statt zu heiraten, nach Paris fahren und sich in alle Strudel der Weltstadt stürzen sollen. Dort in Paris hätte er auch die romantische Philosophie noch lebendig und im Mittelpunkte der literarischen Debatten gefunden. Die Biographie Gottfried Kellers konnte ihn belehren. Auch dieser hatte, statt das Paris der Corot und Courbet aufzusuchen, sich in die Provinz, nach München abdrängen lassen, aber sehr bald die geschichtsphilosophischen Tableaus eines Cornelius mit der berlinischen Romantik vertauscht. Kellers beste Sachen (der »Grüne Heinrich« nicht ausgenommen) sind in der Umgebung der Bettina und des Varnhagen von Ense, nicht im friedlichen Hottingen entstanden. Es ist längst nicht ausgemacht, daß der Romantiker eine idyllische Umgebung braucht, um bestehen und sich entfalten zu können.

Hesses Interessen in Basel gingen über den Durchschnitt weit hinaus; in Gaienhofen scheinen sie zurückgedrängt, ja abgeschnitten. Er hat eine Vorliebe für die beiden größten deutschen Präzeptoren, für Goethe und Nietzsche, bekundet; in Gaienhofen scheint es mitunter, als hielte er seine Lehrjahre für beendet, obgleich das Thema der Erziehung und Selbsterziehung für Hesse gar nicht enden kann.

In Basel hatte er sich bereits mit der Moral seines Berufes, mit der Fragwürdigkeit des zeitgenössischen Dichters zu beschäftigen begonnen. Erstaunlich nahe hatte er das Schicksal des Isolierten und Psychopathen gestreift, das die späteren Schriften Nietzsches, die Schriften Strindbergs durchzieht. In Gaienhofen aber scheinen die philosophischen Akten geschlossen.

Und doch hat dieser kleine Ort für Hesse vielleicht den Sinn, daß jene aufrührenden Fragen ihm allzu nahe gekommen, bedrohlich geworden waren und daß er sich eben darum zur Natur und Gesundheit, in die Geborgenheit der Familie und des Bürgertums flüchtet. Ein Verlangen nach Ruhe und Stille, nach Harmonie und marmorner Glätte bestrickt ihn; und dies Verlangen trifft mit der Wesensart seiner Gattin, dieser seltsamen Bernoulli zusammen, in der er die geliebte und doch auch gefürchtete Stimme seiner Mutter zu vernehmen glaubt. Diese Mutter aber schätzte nicht, was der ein wenig flagellantisch veranlagte, allem Lockenden, Sinnenhaften, Verführerischen geneigte Sohn ihr an Proben einer unfrommen Denkart vorlegte. Ein einziges Wort, das den roheren Trieb verriet, hatte genügt, ihr die »Romantischen Lieder« und so auch »Eine Stunde hinter Mitternacht« abstoßend erscheinen zu lassen. Nun erwirkt ihre Platzhalterin, die Ehefrau, daß sich der Dichter vorzeitig um eine ausgeglichene, nicht ganz wahre Fassade bemüht; daß er von all den kritischen Fragen, die ihn ins breitere Leben führen mußten, sich lossagt und nur noch an Wohllaut und Weisheit zu denken scheint.

Bei näherem Zusehen ist es nicht ganz so. Hesse verzichtet zwar auf den intellektuellen Apparat; aber er ist weit davon entfernt, mit seiner neuen Situation zu paktieren. Das eine erweisen die damaligen Bücher, das andere die Bodensee-Berichte aus dem »Bilderbuch«. Da ist vor allem die Skizze »Im Philisterland« vom Jahre 1904, also gleich aus der ersten Gaienhofener Zeit. Der Autor spricht, siebenundzwanzigjährig, von »Jugendwonnen«, die vorüber sind. »Wie schön warst du!« Er muckt gegen die ihn umgebende neue Atmosphäre auf: »Sogar ein Fäßchen Wein liegt im Keller, mit einem freundlichen Hahnen im Spundloch, und in meiner alten Blechschachtel liegt beständig Tabak genug. Es geht mir also gut, sehr gut; selbst meine Katze wird fett, sie bekommt Milch, soviel sie mag.« Und er nimmt leise Mantel, Hut und Stock und verschwindet hinaus in die Nacht; und die »Lauscher«-Stimmung ist wieder, oder noch immer da. »Wir werden älter«, heißt es gar gesetzt und seniorenhaft, »tun den Kranz aus den Haaren und finden unsere Ruhe.«

Und aus derselben Zeit die Skizze »Wenn es Abend wird« (1904). Dann beleuchtet die verhängte Messinglampe die alte Wohnstube mit ihren matten Holzwänden, die schmale Wandbank, den starken Eichentisch, die bleichen Holzschnitte an der Wand. Auf dem Tisch liegt ein großer Quartband aus dem vorigen Jahrhundert, eine Übersetzung des Ossian (den auch Waiblinger gelesen hat). »Daneben stehen mein Glas und ein Krug Meersburger.« Und die Frau beginnt leise Klavier zu spielen in der Nebenstube. Erst kleine verwehende Stücke von Schumann, und da kommt »eine der närrischen Stunden, in denen wir rasten und nichts tun, während doch die Phantasie, das Gedächtnis, die Sehnsucht und hundert feine, tätige Nerven arbeiten und schaffen und fiebern«. Und auf einmal ist das nicht Schumann mehr. Was ist es doch? Ja, Chopin. Natürlich, Chopin, die erste Nocturne. Oder die dritte. »Glaszarte, scheue Töne, vermischte und traumwandelnde Takte, wundersam geschlungene, elegante Figuren, und die Akkorde erregend, wie verzerrt, Harmonie und Dissonanz nicht mehr zu unterscheiden. Alles auf der Grenze, alles ungewiß, nachtwandlerisch taumelnd, und mitten hindurch mit dünnem Fluß eine süße, milde, kinderselige reine Melodie, Chopin!«

Man könnte statt Chopin auch Hesse sagen. Es ist dieselbe Sehnsucht nach Festen und Dolchen; dieselbe Trauer, über dunkle, beglänzte Wasser gebeugt. Es ist dasselbe Sichverschuldetfühlen und Hinwegverlangen, bevor noch die Tat geschehen. Es ist die Erbsündenmusik aus dem polnischen Adelslande. Und da ist sie wieder, Hesses erschrockene Mondwelt, von Küssen und Tränen durchweht, mitten im Philisterland. Da ist er wieder, der großäugige Traum, und das Suchen beginnt, zurück zum Anfang und zur Herkunft, bis zu jenem Punkte, mit dem alles Leid und Lied begonnen hat. Und dem Dichter steigt die Frage auf: »Bist du eigentlich glücklich?« Und er sucht nach seinem »frohesten Tag«. Er wandert über Gletscher, wandert auf einer blühenden Odenwaldstraße mit einem Gesellen, der Knulp heißen könnte. Er ist eine Morgenstunde lang auf der Schwäbischen Alb, er kommt immer näher nach Hause. Er kommt zu dem Tag, »da ein Bote kam und grüßte und Geld heischte und die Botschaft daließ, daß fern in der Heimat meine Mutter gestorben war«.

Eine andere dieser Skizzen, aus dem Jahre 1907, aus demselben Jahre, da der Dichter sich ein eigenes Haus baute, spricht eigentlich nur von der Lust des Wanderns. »Lindenblüte« ist diese Skizze betitelt: »O ihr Wanderburschen, ihr fröhlichen Leichtfüße«, so klingt da die Sehnsucht des Knulp-Dichters an, »jedem von euch, auch wenn ich ihm einen Fünfer geschenkt habe, sehe ich wie einem König nach, mit Hochachtung, Bewunderung und Neid. Jeder von Euch, auch der Verlottertste, hat eine unsichtbare Krone auf; jeder von euch ist ein Glücklicher und Eroberer. Auch ich bin euresgleichen gewesen und weiß, wie Wanderschaft und Fremde schmeckt. Sie schmeckt, trotz Heimweh und Mangel und Unsicherheit, gar süß... Nicht daß ich alt oder ein Philister geworden wäre! Ach, ich bin vielleicht törichter und zügelloser als je, und zwischen mir und den klugen Leuten und ihren Geschäften ist noch immer kein Verständnis und kein Bündnis aufgekommen. Ich höre auch immer noch wie in den drängendsten Jünglingszeiten (er ist jetzt dreißig Jahre alt), die Stimme des Lebens in mir rufen und mahnen, und ich habe nicht im Sinn, ihr ungetreu zu werden.« Nein, diese Stimme, sie ist »leise und dringlich geworden« und führt den Dichter »immer einsamere, dunklere, stillere Wege, von denen ich noch nicht weiß, ob sie in Lust oder in Leid enden sollen, die ich aber gehen will und gehen muß«.

Es ist nichts mit der »bürgerlichen Epoche« in Hesses Leben. Er ist der Steppenwolf und Outsider, der Knulp und Wanderer, der Antiphilister und Leidende; auch in der Ehe. Auch im eigenen Hause ist er ein Fremder, den man beherbergt; ein fahrender Geselle, den man füttert und der sich der Hauskatze näher fühlt als all seinem schönen Besitz. Andere dieser Bodensee-Skizzen (im ganzen sind es sieben) sprechen vom Leben auf dem See, mit Angel- und Rudergerät; von den Hegau-Sommertagen, von Fischern und einsamen Mittagstunden. Sie sprechen davon ohne Aufregung; in einem schweren, langsamen Gestus; als seien schon hundert Jahre vorüber, und diese Skizzen sind doch soeben geschrieben.

Auch die Freundschaft mit Ludwig Finckh kann man nicht eben bürgerlich nennen. In der hohen Literatur zuckt man beim Namen des Dichters geringschätzig die Achseln. Auch sein bestes Buch, der Hesse gewidmete »Rosendoktor«, hat weder die europäische, noch die deutsche Sprache um eine neue Wendung, ein neues Wort, einen neuen Gedanken bereichert. Einmal aber hat ihn Bierbaum gerühmt und Walter Heymel ihn in seine »Chansons« aufgenommen. Er hat nicht die Schärfe eines Grammatikers, nicht jene Skrupel seines Handwerks, die dem Schriftsteller eignen müssen, wenn seine Stimme soll vorhanden sein. Er schreibt seine Sätze wacker und frisch heraus, wie sie der Dialekt seines Herzens und seiner Heimat ihm eingeben. Aber er ist, in gemeinsamen Gaienhofener Tagen, ein Landarzt, ein Tier- und Menschenfreund, wie es wenige gibt. Er liebt sein Reichsstädtchen Reutlingen, als sei die ganze Welt aus diesem Punkte zu kurieren. Er liebt seine Frau Dora, daß es eine Art hat, und wenn der »Rosendoktor« auch überfließt von Schatzi und Mausi und Herzi, so finden sich darin doch auch schöne Seiten einer frühesten Verehrung, die der Klingsor-Dichter erfahren hat.

Dieser schwäbische Landarzt Ludwig Finckh erreicht mitunter die originelle Lebendigkeit eines Justinus Kerner. Er ist kurzweg der Rosendoktor, il pazzo delle rose, und darin wird er von keinem andern übertroffen. Er ist mit seiner hohen Stirn, seinem eigensinnigen, ein wenig fetten, sinnlichen Kinn, mit seiner Samtjoppe und seiner »Fliege« unter der Nase eine Gestalt, die bei einiger mehr Selbsteingenommenheit, bei weniger Familienglück und Ahnenkult eine Art schwäbischen Tartarins und Charlie Chaplins hätte werden können. Nun, dieser liebe Ludwig Finckh, der seinen Bernhardinerhund »Isolda« nennt und seinen Esel »Lump« und den man nahezu zum Brettldichter gestempelt hätte, er ist Hesse von Tübingen her verbunden, und sie finden sich am Bodensee wieder und bauen sich beide in Gaienhofen hübsche kleine Villen und angeln und segeln und treiben Gartenbau und Kinderzucht.

Ja, und noch etwas mehr: sie suchen den Homer und den Ossian wieder lebendig zu machen. Sie haben es ziemlich indianerhaft; der ganze Untersee gehört ihnen: von Stein am Rhein bis Konstanz und von Radolfzell bis nach Steckborn hinüber. Es ist das Gebiet, in dem auch die Reichenau liegt, Susos mailichte Landschaft. Sie haben da ihre Segelboote und obliegen der Natur und dem Schmetterlingsfang. Sie führen ein Jäger- und Fischerleben wie nur Walt Whitman auf dem Michigan-See und Hamsun oben in seinen Fjorden. Finckh ist dabei sogar der Lebhaftere, Buntere; Hesse mehr der Zuschauer und Mitmacher, der scheue Prinz, dem der schwäbische Dialekt und die Kraftworte nicht ohne weiteres über die Zunge wollen; der gerne nach Möglichkeit Begeisterte, der aber Pausen kennt und, einmal einschnappend, in seiner tieferen Traumesweise sich gefährlich festbeißt. Während Finckh sein Gezerre mit Hunden und Eseln hat, hält Hesse sich lieber am grauen Sunde und Grunde auf als bei der schimmernden Spechthaftigkeit. Er hat eine Dimension mehr als der ungebrochen kindsköpfige Freund. Er weiß zugleich zu erleben und das Erlebnis zu registrieren, zu vergleichen, abzumessen und auf hundert andere delikate Dinge witzig oder verdrießlich zu beziehen.

Finckh sieht mit immer denselben Sonntagsaugen nur sein einzigartiges Schwabenland und hat das Bedürfnis, sein Glück an jede Glocke der lustigen Bodensee-Steamer, an jeden Wimpel, an jeden Kirchturm, an jeden grünen Vogelschnabel zu hängen. Hesse bezieht das Alemannische stets auf das Große und Ganze. Er ist nicht nur Schwabe, er ist noch etwas mehr. Er wird, wenn der Krieg ausbricht, nicht »Deutschland über alles« singen; er wird wissen, daß die Rotkehlchen und Kuckucke weder deutsch noch französisch, sondern daß sie eine Welt- und Völkergabe sind, gleich der Poesie. Er wird an seinem Alemannentum festhalten, aber auch die Schweizer und Elsässer dazurechnen und selbst diejenigen, die frankophil empfinden. Er ist treu, wenn er eine Parole einmal ergriffen hat, und es macht Schwierigkeiten, sie ihm wieder zu entwinden. Im Grunde ist er auch schwäbischer als Finckh, nämlich im alten deutschen, im universalen Sinn, der den Schwaben seit ihrer Staufenzeit eignet.

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