Bei Kriegsausbruch 1914 befindet sich Hesse in einer seelischen Verfassung, die patriotischen Begeisterungen denkbar ungünstig ist. Er hat 1912, nach seiner Rückkehr aus Indien, das Haus des Malers Albert Welti in Ostermundigen bei Bern gemietet. Das mittelalterliche Stadtbild Berns, das demjenigen Basels in manchen Stücken verwandt ist, hatte, als man die Einsamkeit von Gaienhofen aufzugeben entschlossen war, einen Vorzug
gegenüber dem mondänen Zürich. Das altmeisterliche Milieu des Welti-Hauses läßt den Dichter, der schon früher dort zu Besuchen weilte, in seinem Roman »Roßhalde« selbst als Maler (Johannes Veraguth) erscheinen. Stärker aber als zur Malerei ist in Bern zunächst noch sein Verhältnis zur Musik.
Des Dichters Gattin ist nicht nur eine vorzügliche Chopin-Spielerin; die Musik ist ihr, bis in wahnhafte Gründe
hinein, zur zweiten Natur, zur Lebensart geworden. Da ist ferner Othmar Schoeck, ein Reger-Schüler, dessen Klangbegabung die schweizerischen Heimatgrenzen weit überfliegt. Er vertont Eichendorff, Mörike, Lenau, und das sind für ihn nicht antiquierte Literaturgrößen, sondern das ist er selbst in so ursprünglichem, direktem Bezug, wie es nur in der Schweiz vielleicht noch möglich ist. Er hat nicht nur die Zartheit des Lyrikers, sondern auch die Gewalt
der Tragödie. Er wird Kleists »Penthesilea« bearbeiten und sich damit eines Tages in Dresden eine Bresche schlagen in die vorderste Reihe der deutschen Musiker. Er hat die schönsten Lieder Hesses vertont (»Ravenna«, »Frühling«, »Elisabeth«, »Kennst du das auch?«), und beide Künstler verbindet die Überzeugung, daß es die Melodie ist, die den Musikanten ausmacht.
Zu den Berner Freunden
gehört ferner Fritz Brun, der Dirigent des Stadtorchesters und der Sinfoniekonzerte. Und wenn man nach Zürich fährt, so trifft man dort den Meister Andreae, sei es, daß er in der Tonhalle dirigiert oder neue Talente entdeckt in dem von ihm geleiteten Konservatorium. Und man kann sowohl in Bern wie in Zürich, aber auch in Berlin, in Stockholm und Budapest die Durigo das »Ravenna«-Lied singen hören, das verschwiegene Siegellied unter Hesses
Gedichten, eine Reminiszenz seiner ersten Italienreise:
Ich bin auch in Ravenna gewesen, Ist eine kleine tote Stadt, Die Kirchen und viele Ruinen hat, Man kann davon in den Büchern lesen. Du gehst hindurch und schaust dich um, Die Straßen sind so trüb und naß Und sind so tausendjährig stumm, Und überall wächst Moos und Gras.
Das ist wie alte Lieder sind – Man hört sie an und keiner lacht Und jeder lauscht und jeder sinnt Hernach daran bis in die Nacht. |
Und wenn die Durigo das singt mit einer schwebenden Stimme, in die sich die Flügel von Möwen mischen, dann ist man gewiß in Ravenna gewesen und kennt die deutenden Goldfinger der Asketen und auch die Lasterglut, die beide hinter der Zeit versinken, und wird traurig über die
Öde und verstört über die Leere der Gegenwart, in der man wieder erwacht.
Und da hat Hesse in Bern noch einen andern Freund, der keinen Namen hat, der aber nicht fehlen darf: den städtischen Oberförster, einen Verehrer von Gaienhofen her. Dieser Mann verwaltet den Berner Stadtforst und wird für Hesse zu einer mythischen Figur. Denn es scheint mitunter in dieser ersten Berner Zeit, als habe sich der Dichter in seinem eigenen Zauberwalde verirrt und
bedürfe eines Fachmannes, der die Bäume und Pfade kennt; der ein gewiegter Forstmann und Wäldler ist, einer von denen, die man im Spessart auch finden kann; die lange und gut zu schweigen wissen und die sehr außerhalb, sehr jenseits leben. Und es ist in jener Zeit mitunter, als habe das totentänzerische Werk des Albert Welti den Dichter in seinen Reigen geschlungen. Man übernachtet nicht unberührt in einem Gespensterhause. Man wird aufgestöbert
werden um Mitternacht von den unerlösten Seelen, die da umgehen.
Um es geradezu zu sagen: der Dichter Hermann Hesse lebt, als der Krieg ausbricht, in einer todesseligen Trunkenheit; in Widerspruchsgefühlen, die nicht mehr zu unterscheiden sind, zerfleischt von einem dunklen Traumleid, dem er nachhängt, und zugleich von den Dissonanzen seines familiären Lebens. Seit seinem sechsten oder siebenten Jahre hat er, wie es in »Gertrud« heißt,
begriffen, daß ihn »von allen unsichtbaren Mächten die Musik am stärksten zu fassen und zu regieren bestimmt sei«. Es braucht nicht Beethoven oder Bach zu sein –: daß überhaupt Musik in der Welt ist, daß ein Mensch zuzeiten bis ins Herz von Takten bewegt und von Harmonien durchflutet werden kann, das hat für ihn »immer wieder einen tiefen Trost und eine Rechtfertigung alles Lebens bedeutet«.
Aber die
Musik ist ein verzehrender Trost und eine gefährliche Rechtfertigung. Schon in »Gertrud« führt dieser Höhen- und Tiefentaumel, dieser Hang zum Außerordentlichen, zur betäubenden Sensation –, schon dort führt er zu einer Art Erkrankung. Die »Wucht nach innen« läßt notwendig den Alltag und seine roheren, aber auch heilsamen Ansprüche zurücktreten. Die Musik, wo sie zum Sternspiel und zum Engelsflug wird,
nimmt dem mit ihrem Geheimnis Begnadeten die andre, die irdische Zuflucht; sie entmannt ihn und läßt ihn vergeblich in den Pausen die Hände ausstrecken nach Verständnis und warmer Nähe, nach Heimat hier unten und fröhlichem Zuspruch.
Und hier beginnt dem Dichter ein Mißverhältnis fühlbar zu werden, das seine folgenden Bücher in heftiger Schwankung durchzieht. Derselbe Künstler, dem das Paradies gehört, er ist
zugleich derjenige, der im irdischen Getriebe als ein Ausgestoßener, Zukurzgekommener, als Tor und als Krüppel belächelt wird. Der zärtliche Liebhaber der Sterne, er ist hier unten so sehr entrechtet und fremd, daß er aus Schwermut gleich Saul die Lanze schwingen, daß er aus Leid zum Brandstifter und Zertrümmerer aller Geborgenheit werden könnte. »Ich wollte ihn nur reden hören (sagt der Musiker in ›Gertrud‹ von einem
Freunde), seine Weisheit als machtlos erweisen und ihn für sein Glücklichsein und seinen optimistischen Glauben strafen.« Der so spricht, ist von Trostgründen schwer zu erreichen; das Leben ist ihm vergällt. Denn die Musik – man kann sie sich nicht, ohne zu verbluten, aus dem Herzen reißen.
Denn die Musik: das ist für den Romantiker das Wunder, die Heiligkeit, die unberührbare Höhe. Ihr Lichtabgrund erregt einen Schauder und
einen Schwindel. Sie ist die eigentliche Trug- und Illusionskunst, weil man in ihr und durch sie ums Leben betrogen wird. Sie ist die unfaßbare Geliebte, die trunken macht und nicht zu erlösen vermag; die den letzten Blutstropfen aufsaugt und für die Welt nichts übrig läßt. Die Musik: das ist die Kunst selbst und die Versenkung des Künstlers; jene gefährliche Selbstversenkung, die die Verbindung zur Umwelt abschneidet. Und nicht zuletzt: die Musik,
das ist der feinste, flüchtigste Ausdruck des Erinnerungsbildes; um diesem aber zu dienen, läuft man Gefahr, das wirkliche, greifbare, tastbare Bild zu verlieren.
Der Gegenpol zum Musiker ist der Maler, und so ist zu Hesses Musikerroman »Gertrud« das Gegenstück der Malerroman »Roßhalde«. Da Hesse »Roßhalde« zu schreiben beginnt, hat er die Gefährlichkeit der Musik erkannt, und er möchte los von ihr. Die
Könige unter den Malern, sagt Johannes Veraguth, die sind Brüder und Kameraden der Natur. Die Könige unter den Malern, so könnte man ergänzen, sie waren nicht nur Innenmenschen; sie waren gleich Leonardo und Buonarotti Handwerker, Baumeister, Erfinder von Kriegsmaschinen. Zwei Bilder malt Johannes Veraguth. Das kleine, das er malt, stellt eine Morgenfrühe am Fluß dar; einen Fischer mit seiner Beute. Das große Bild aber zeigt drei Menschen: Vater,
Mutter und Sohn. Das kleine, das Landschaftsbild, und das große Problem- und Charaktermalen, das Menschenbild –: beide Künste sind Hesse nicht fremd. Daß er sich aber in »Roßhalde« als Maler vorstellt, das ist neu und bedeutsam.
Es geht in »Roßhalde« um den innigsten, kindlichen Teil seiner Seele, um Pierre, und der Maler kämpft einen Verzweiflungskampf mit der musikalischen Mutter seines Kindes. Und dieses
Kind, Pierre, Peter genannt, wie auch Camenzind hieß, dieses Kind stirbt in »Roßhalde«. Es stirbt nicht zum wenigsten auch darum, weil der Vater als Maler ganz wie ein Musiker in seinem Werke versinkt. Und so sieht man, daß es doch nicht an der Art der Kunst, sondern an der Wucht nach innen und am Wesen des Dichters liegt, wenn er, ob als Musiker oder als Maler, der Umwelt nicht gewachsen ist.
Der Maler Veraguth in »Roßhalde« ist
so einsam wie der Musiker Muoth in »Gertrud« es ist: »Er litt, er trug einen schweren Schmerz, und er war von Einsamkeit ausgehungert wie ein Wolf. Dieser Leidende hatte es mit dem Stolz und dem Alleinsein versucht und es nicht ausgehalten, er lag auf der Lauer nach Menschen, nach einem guten Blick und einem Hauch von Verständnis, und war bereit, sich wegzuwerfen dafür.« Die Vereinsamung des Dichters, die 1910 in »Gertrud« bereits bis zur
Gemütskrankheit führte, ist durch die Indienreise nicht gebrochen worden; sie hat sich in »Roßhalde« noch verschärft. Das stille, zurückgezogene Leben im Welti-Haus kann darüber nicht täuschen.
1914, da »Roßhalde« erscheint, hätte ursprünglich auch der Gedichtband »Musik des Einsamen« erscheinen sollen. Das Copyright des bei Salzer in Heilbronn verlegten Büchleins zeigt die Jahreszahl
des Kriegsbeginns; der Umschlag aber zeigt die Jahreszahl 1916. Das Büchlein sollte also im Kriegsjahr erscheinen, mußte aber offenbar zurückgestellt werden. Dafür erscheint 1915 bei Georg Müller der Gedichtband »Unterwegs«, der auch eine Anzahl Zeitgedichte enthält. In einer dem Buche mitgegebenen Notiz liest man, daß es sich hier mit Ausnahme der »Zeitgedichte« um ältere Stücke handle; die neueren Gedichte seien in der
»Musik des Einsamen« enthalten.
Die Verwirrung in den Publikationen ist das erste Kriegsmalheur, das den Dichter ereilt, und es ist ein sehr bezeichnendes Mißgeschick: der Gipfel von Hesses Traumgebäude, seine Musik, ist getroffen. Gerade in den ersten Kriegsjahren konzentriert sich seine lyrische Produktion: sei es, weil er die Musik abschließen möchte, sei es, weil er sich zu bestätigen sucht, daß er, der Vogel im Käfig,
überhaupt noch zu singen vermag. 1916 erscheint »Knulp« mit seiner Betonung des Handwerks und entfaltet eine Welt, die außerhalb der Ehe und der bürgerlichen Sphäre liegt. 1917 erscheint, nach den beiden genannten Verssammlungen, auch eine Neuauflage der »Gedichte« von 1902. Der Dichter muß sich Lieder singen und in Gedanken wenigstens auf der Landstraße wandern, um das Leben noch erträglich zu finden.
Die
»Musik des Einsamen« ist von den genannten Publikationen die am meisten typische. Es ist begreiflich, daß ihr Autor für den patriotischen Freudentaumel jener Jahre wenig Sinn haben konnte. Er trägt den Feind im eigenen Innern, er kämpft mit den Geheimnissen der Form. Schon auf seiner Indienreise sieht ihn alles
... wild und teuflisch an, Weil er den Feind im eigenen Busen trägt. |
Ein Blick in die »Musik des Einsamen« läßt vollends begreifen, daß dieser Mann die blutigen Sensationen nicht mitzumachen vermag, ja, daß sie ihn peinigen müssen. Schon bei der Ausgabe seiner Anthologie von »Liedern deutscher Dichter« (um 1910) setzte er die poetische Tradition einer »augenblicklichen Verrohung unserer Kultur« entgegen. Es bedurfte keiner Kriegspresse, um ihn durch die Begeisterungen
hindurch auf den Grund sehen zu lassen.
Hesse schwebt, als der Krieg ausbricht, in einer Region, aus der ihn der leiseste Anruf zum Absturz bringen kann. Er ist ohne Ausblick von einer Schwermut umlagert, die ihn erschütternde Trostworte mit seinen eigenen poetischen Gestalten tauschen läßt. Man vernehme aus »Unterwegs« (1915) das Gedicht
Auf Wanderung
(Dem Andenken Knulps)
| Sei nicht traurig, bald ist es Nacht, Da sehn wir über dem bleichen Land, Den kühlen Mond, wie er heimlich lacht, Und ruhen Hand in Hand. Sei nicht traurig, bald kommt die Zeit, Da haben wir Ruh. Unsre Kreuzlein stehen Am hellen Straßenrande zu zweit, Und es regnet und schneit Und die Winde kommen und gehen. |
Ich wüßte nicht zu sagen, ob Goethens Lied von der Ruh über allen Wipfeln tiefer empfunden, ob es reiner gestaltet ist. Was Hesse, da ihn der Krieg aufstört, zu verteidigen hat, das umschreibt in der »Musik des Einsamen« ein Vers wie dieser:
Jahre ohne Segen, Sturm auf allen Wegen, Nirgends Heimatland, Irrweg nur und Fehle. Schwer auf meiner Seele Lastet Gottes
Hand. |
Sich eine Heimat zu schaffen, hatte er den »Camenzind« geschrieben. Aus demselben Grunde war er nach Gaienhofen gezogen. Um die Heimat, den Bund mit Frau und Kindern zu halten, war er vom Bodensee aufgebrochen nach Bern. Jetzt stellt ihn die allerorten hervorbrechende Wildheit vor neue Aufgaben und Qualen. Eine Überbürdung droht ihn gleich dem Schüler Giebenrath zu Fall zu bringen. Die beginnende politische Schule scheint
die harmloseren Seminaristenjahre von damals mit Pflicht und Gebot der Stunde und allen lauten Moralforderungen, die man an einen Musterdichter wie an einen Musterschüler stellt, wiederholen zu wollen.
In der Neuen Zürcher Zeitung läßt Hesse einen Aufsatz erscheinen, betitelt »O Freunde, nicht diese Töne!« (im Titel verrät sich der Musiker jener Jahre noch). Er beschwört darin, harmlos genug, die Künstler und Denker
Europas, das bißchen Frieden zu retten, das wenigstens in ihrer Region sollte bewahrt werden. Romain Rolland nennt den Verfasser in »Au-dessus de la Mélée« von allen deutschen Dichtern denjenigen, der »in diesem dämonischen Kriege eine wahrhaft goethische Attitüde aufrechterhalten habe«. Die alldeutsche Presse aber nimmt jenes Feuilleton zum Anlaß, denselben Dichter, dem sie ihre Hochachtung niemals versagt hatte, wie einen Buben
durch alle Gassen zu jagen. Eines von Hesses damaligen Zeitgedichten, Oktober 1914, lautete:
Sei willkommen einst, Erste Friedensnacht, Milder Stern, wenn endlich du erscheinst Überm Feuerdampf der letzten Schlacht. Dir entgegen blickt Jede Nacht mein Traum, Ungeduldig rege Hoffnung pflückt Ahnend schon die goldne Frucht vom Baum. Sei willkommen
einst, Wenn aus Blut und Not Du am Erdenhimmel uns erscheinst, Einer andern Zukunft Morgenrot. |
Der so dichtet, verträgt, übersensitiv, keine Reizungen mehr. Es geht ihm wie dem kranken Pierre in »Roßhalde«, der abwinkt, wenn man Musik machen will; durch dessen Zimmer man auf leisen Füßen gehen muß; dessen Fenster man mit dunklen Tüchern verhängt. Friede, nur Friede! Aber
er ist ein Verräter, ein heimatloser Geselle, wenn nicht ein »Gesinnungslump«. Eine gleichgültige kölnische Tageszeitung gibt die Parole aus; etliche zwanzig Konzernblätter drucken das Entrefilet mit entsprechenden Glossen nach; nur wenige Freunde wagen eine schüchterne Verteidigung. Noch 1926, da der Dichter eine Einladung erhält, in Stuttgart bei der Jahresfeier des Schwäbischen Schillervereins zu lesen, findet eine vaterländische
Zeitung nicht etwa in Bromberg oder Husum, sondern in Stuttgart die Einladung »unbegreiflich«, da es sich doch um einen Gesinnungslosen handelt und Schiller doch unser, freilich unser, der Dichter der Industrie und des Handels ist.
Man wird wissen wollen, wie sich denn Hesse nun mit den damaligen, durchaus noch nicht republikanischen Institutionen abgefunden habe. Das ist rasch erzählt. Er stellte sich, als der Krieg da war, dem zuständigen Konsulat zur
Verfügung. Da er als Halbschweizer und bei seinen mannigfachen Verbindungen zu einflußreichen Familien im Lande eine glückliche Akquisition schien, wies man ihn zunächst dem Zivildienst bei der Gesandtschaft in Bern zu. Dort fand sich Anfang 1915 der Zoologe Professor Woltereck ein, der mit Eidechsen und Fröschen wenige Zeit vorher noch in Positano eine zoologische Versuchsstation unterhalten hatte. Mit Woltereck zusammen, der mit Vorschlägen nach
Ostermundigen kam, richtete Hesse nun zunächst exterritorial eine Abteilung für die Versorgung der deutschen Kriegsgefangenen mit entsprechender Literatur ein; eine Gründung, die bis zum Kriegsende sich erhielt und zuletzt derart ausgebaut war, daß Hunderttausende von in Gefangenschaft geratenen Arbeitern, Studenten, Beamten und selbst Gelehrten mit Wissen und Unterhaltung hinlänglich versorgt waren.
Die Initiative und auch der
Verkehr mit der Legation lagen bei Woltereck; den belletristischen Teil leitete, mit sehr umfangreicher Korrespondenz und endlosen Listen, Hesse. Er leitete ebenso den »Sonntagsboten für deutsche Kriegsgefangene«, der alle vierzehn Tage erschien, und eine eigene »Gefangenenbücherei«, die je und je auch kurzweilige Erzählungen aus seiner eigenen Feder zu einem schmalen Bändchen vereinigte. Es ist mir bei der Nachfrage nach dieser nahezu vier Jahre
währenden Tätigkeit gelungen, ein sonst kaum auffindbares venezianisches Märchen Hesses, den »Zwerg«, zu Gesicht zu bekommen, ein Märchen, das den Vergleich mit einem ähnlichen aus Oscar Wildes »Granatapfelhaus« durchaus nicht zu scheuen braucht.
Mit den republikanisch gesinnten Emigranten (Schickele, Foerster, Mühlon) pflog Hesse kaum persönlichen Verkehr. Als ich 1917 nach Bern kam und Hesses »Traumfolge«
in den Weißen Blättern las, wußte ich nicht, daß der Dichter in der Nähe wohnte; in den politischen Zirkeln war kaum von ihm die Rede. Er lebte offenbar sehr zurückgezogen; das Kaffeehaus ist nicht seine Sache. Doch auch er konnte, wie es im »Lebenslauf« heißt, die Freude über die große Zeit nicht teilen, und so kam es, daß er unter dem Kriege von Anfang an »jämmerlich litt« und jahrelang sich »gegen
ein scheinbar von außen und aus heiterem Himmel hereingebrochenes Unglück verzweifelt wehrte«. »Und wenn ich nun«, so fährt er fort, »die Zeitungsartikel der Dichter las, worin sie den Segen des Krieges entdeckten, und die Aufrufe der Professoren und alle die Kriegsgedichte aus den Studierzimmern der berühmten Dichter, dann wurde mir noch elender.«
Bedenkt man die Nachwirkung, so war das schlimmste Erlebnis jener Zeit
unstreitig das mit der Presse. Man wird geneigt sein zu sagen, daß nur gekränkter Ehrgeiz eines vorher Verwöhnten sich in die rauhere Tonart der Kriegsläufte nicht zu finden wußte. Es war aber doch wohl etwas anderes. Es war die Erfahrung des Dichters, daß man ihn zwar gelesen, aber mit gläsernen Augen gelesen hatte. Es war die Enttäuschung, daß die musikalische Nation weder ihrem eigenen holden Wesen, noch ihrem Dichter treu war. Und es war,
weiterhin, ein Beweis, daß man auf unsicheren Grund gebaut, daß man an Fäden angeknüpft hatte, die die Kraftprobe nicht bestanden. Noch im »Steppenwolf«, ein Jahrzehnt später, hat Hesse jene Schmähungen nicht vergessen. Es verlohnte nicht, davon zu sprechen, wären sie für den Dichter nicht zum Ausgangspunkt einer neuen, gewitzigteren Ästhetik geworden.
Zur eigentlichen Auseinandersetzung mit den Kriegseindrücken
kommt es indessen erst um 1918. Zunächst drängen des Dichters persönliche Konflikte, von den Kriegsereignissen beeinflußt, zur Lösung. Erst nachdem die sehr scharfe, heftige Krise des eigenen Innern überwunden, nachdem die Befreiung aus lange gestauten Erlebnisreihen gefunden ist, wird sich der Dichter umsehen, in was für einer Welt er nun eigentlich stehe; wird er sich nach außen wenden und den Versuch unternehmen, sich in den inzwischen
eingetretenen Veränderungen, die einem völligen Zusammenbruch gleichen, zurechtzufinden.
Ich sagte bereits, daß es nur eines unbedeutenden Anstoßes bedurfte, um Hesses prekäre Situation zur Krise zu führen. Diesen Anlaß gab eine bestürzende Erkrankung seines jüngsten, kurz vor der Indienreise geborenen Sohnes Martin. Martin ist für Hesse ein lieblicher, von vielen Träumen umsponnener Name. Ich glaube die Wahl dieses
Namens auf die Lektüre von Bernoullis »Heiligen der Merowinger« zurückführen zu dürfen. Martin ist nach Gregor von Tours der Spezialheilige der ganzen Weit; besonders gegen das Ende des Mittelalters ist er das. Martin ist aber auch der Familienheilige des Protestanten, der deutsche Nationalheros. Für Hesse bedeutet der Name Martin die Vereinigung der beiden europäischen Konfessionen, und nicht nur sein Sohn erhält diesen Namen. Nein, auch
»Sinclairs Notizbuch«, das an den »Demian« anschließt, enthält einen Abschnitt, der »Martins Tagebuch« (Hesses Tagebuch in diesem Falle, nicht das seines Söhnchens) betitelt ist.
Nun, dieser zarte Namensträger Martin, Hesses Jüngstgeborener, erkrankt unter Symptomen, die schlimmste Befürchtungen erwecken. Diese mystische Erkrankung und der Umstand, daß heranwachsende Kinder den Eltern stets ihre eigenen
frühen Konflikte noch einmal vor Augen führen –: dies und noch einiges mehr bereitet dem Dichter eine schwere Nervenkrise. Auf Anraten seines Hausarztes sucht er das Kurhaus Sonnmatt bei Luzern auf. Dort empfiehlt man dem Vereinsamten einen jungen Luzerner Arzt und Analytiker, den damals etwa fünfunddreißigjährigen Jung-Schüler J. B. Lang, der rasch zu Hesses vertrautem Freunde wird. Es ist an dieser Stelle wohl angebracht, einige Worte
über ihn zu sagen; denn die Frucht der intensiven, alle Fragen der modernen Psychotherapie streifenden Gespräche ist ein Meisterwerk der deutschen Sprache: Hesses »Demian«.
Zuvor jedoch noch ein Wort über die Voraussetzungen, unter denen der Dichter nach Sonnmatt kam. Gelegentlich des »Lauscher« bereits zitierte ich ein Gedicht, das zeigte, wie innig der damals Dreiundzwanzigjährige die Philosophie des Unbewußten erfaßte.
Das ganze Lauscher-Büchlein durchbebte bereits das Thema des erregenden Urbildes der Mutter. Seitdem ist ein Zug von Schwermut und Selbstversunkenheit aus Hesses Büchern nicht geschwunden. Bald tief versteckt, bald offen klagend und werbend teilt sich die Sehnsucht nach einer Art Urheimat, nach dem Quellgrund alles Lebens mit; nach dem verbergenden Schoße der Wiedergeburt. Die Erinnerung selbst ist die Mutter des Dichters; immer wieder umkreist er jenen Bezirk des
Unsagbaren, der dem Bewußtsein entzogen ist. Immer wieder versucht er, in jene Weit zu dringen, die als die unterirdische Nacht des Grabes, des Todes und aller Lebenskeime getrennt ist vom lichten Götterglanze, vom Intellekt und seiner Irrfahrt.
Doch ein anderes ist das enthobene und geheiligte Bild der Mutter, und ein anderes das materielle, das physische. Mit dem letzteren verbindet sich die Neigung des Kindes in jenen ersten, frühesten Jahren, in denen noch
keine Trennung besteht zwischen irdisch und himmlisch, und zwischen Diesseits und Jenseits. Und doch wird eine Zeit der Scheu und des Gewissens kommen und mit ihr die Nötigung, das himmlische Bild vorn irdischen zu trennen, weil die erwachenden trüberen Leidenschaften sich einmengen und jene Trennung gebieten. Dann wird, in der Gärungszeit, eine schwere Verwirrung der Neigungen entstehen, die bei der Treue des Kindes bis zur Neurose führt.
Bleibt die
Vermischung der Bilder erhalten, so werden Beängstigungen und nächtliche Schrecken, Alpdruck und Blasphemie, giftige, stachelnde Skrupel von unbekannter Herkunft den Traumwandler entsetzen und scheuchen. Seine grübelnde Phantasie umgibt ein drohendes Geheimnis; umgibt eine Sphäre, die zur Absonderung und Melancholie, zur Revolte und Ausfälligkeit, zu feindlichen Handlungen führt. Alle Süße wird zur Bitterkeit. Das stetige Umkreisen des
unlösbaren Rätsels fesselt die sonst dem Leben zuströmenden Einfälle und Gedanken. Das Bild der Mutter saugt alle Symbolkraft, alle Zeichen, denen eine mütterliche Bedeutung beigelegt werden könnte, an sich. Das Bild der Mutter umgibt sich mit Fisch und Vogel, mit Sumpf und Abgrund; mit all jenen Ideogrammen, deren Schrift in den Tempeln der Mutterkulte zu finden ist.
Für den Dichter, dem diese Blätter gewidmet sind, erhielt dieser
allgemeinere Konflikt eine besondere Schärfe durch die äußerste Gewissensstrenge und Zucht seines Vaterhauses. Schon in frühester Jugend empfindet er sich als Greis; im Alter und mit der Lösung wird er sich jung empfinden. Sein ursprünglich heiteres und lebendiges Temperament fühlt unerklärliche Ketten. Kaum regt sich ein Streben nach Selbständigkeit, so ist er auch schon der Ausgestoßene, der eine imponierende Position erringen, sich
rechtfertigen und vor der Mutter sich wiederherstellen muß. Er vollendet 1902 seinen ersten, ihr zugedachten größeren Gedichtband; als er aber erscheint, hat die Mutter soeben die Augen für immer geschlossen.
Dann tastet er in seinem Romane »Gertrud« dem Rätsel seiner Vereinsamung nach. »Sie sind gemütskrank«, läßt er den Präzeptor Lohse zu seinem ehemaligen Schüler sagen. »Ja. Sie haben eine
Krankheit, die leider Mode ist und der man jeden Tag bei intelligenten Menschen begegnet. Die Ärzte wissen natürlich nichts davon. Es ist mit moral insanity verwandt und könnte auch Individualismus oder eingebildete Einsamkeit genannt werden. Es kommt auch vor, daß solche Kranke hochmütig werden und alle andern Gesunden, die einander noch verstehen und lieben können, für Herdenvieh halten. Wenn diese Krankheit allgemein würde, müßte die
Menschheit aussterben. Aber sie ist nur in Mitteleuropa und nur in den höheren Ständen zu treffen. Bei jungen Leuten ist sie heilbar, sie gehört sogar schon zu den unumgänglichen Entwicklungskrankheiten der Jugend.«
Als Hesse diese Sätze schreibt, 1909 oder vielleicht noch früher, hat er weder Jung noch Freud gelesen. Aber er kennt, von Basel her, die romantische Philosophie und hat einen Weg in sich selbst. Schon in »Gertrud«
weiß er, daß es gilt, eine Brücke zwischen Ich und Du zu finden; die allzu versunkene Innerlichkeit aufzuheben; den mystischen Protestantismus, das Erbe vom Vaterhaus her, zu durchbrechen. Sein Zustand ist ihm bewußt. Nur fragt er sich, für wen er seine Blätter beschreibe; »wer eigentlich so viel Macht über mich hat, daß er Bekenntnisse von mir fordern und meine Einsamkeit durchbrechen kann«. Also am Freunde und Arzte fehlt es. Und am
richtigen Weg, der dann zu gehen wäre; denn schon ist in »Gertrud« auch der Weg zu einer noch entschlosseneren Einsamkeit und Arbeitswut als falsch erkannt.
Erst mit dem Erlebnis des Krieges tritt der Dichter »über die Schwelle der Einweihung ins Leben«. Der Freund, der ihm in vielen Stücken dazu verhalf, war eben der erwähnte Arzt. Man darf sich unter dem intensiven Austausch der beiden Männer keine eigentliche
»Behandlung« vorstellen. Nichts wäre verkehrter. Hesse vermag schon in der »Gertrud«-Zeit sehr wohl dem Arzte selber eine Diagnose zu stellen. Er war seinem Luzerner Widerpart in der Dialektik und der sprachlichen Formulierung ohne Zweifel überlegen. Auch waren oder blieben ihm jetzt die Schriften der führenden Analytiker (Freud, Jung, Bleuler, Stekel) nicht mehr fremd; gerade die Schweiz war inzwischen zu einem Zentrum der neuen psychiatrischen
Theorien geworden.
Was Dr. Lang ihm brachte, war, vom medizinischen Wissen ganz unabhängig, ein lebendiger Aufschluß; war zum erstenmal eine aktuelle, phantastische Philosophie und Lebensform. Vor allem aber war es, entsprechend der katholischen Herkunft des Arztes, eine strikte Verwerfung der Selbstabsolution. Nicht umsonst hatte dieser Freund die Benediktinerschule in Einsiedeln besucht. Wenn er dort auch, gleich Hesse in Maulbronn, nicht eben als
Musterschüler bestanden hatte, so war doch, was ihn zur Psychoanalyse geführt, ein grundkatholischer Glaubenssatz: die Überzeugung nämlich, daß der einzelne für alle Vorkommnisse des äußeren Lebens die Erklärung und Verschuldung in sich selber trage.
Im übrigen war der junge Arzt, wie es der Analytiker sein muß, aber wohl selten ist, völlig ohne private Voreingenommenheit, ohne persönliches Interesse; bereit,
bis zur Selbstverleugnung die schweren Stauungen seines Patienten zu entfesseln. Er war der geborene Arzt für jene Symptome, die der Fachmann unter dem Begriff der »Zwangsneurose« zusammenfaßt; Symptome, die man durch ein Aufspüren und Zutagefördern der ursprünglichen, aber verdrängten oder verhohlenen Anlage zu beseitigen sucht. Hesse hinwiederum trug, von früher Kindheit her, eine religiöse Symbolwelt in sich, die, allzu lange vor
einer argwöhnischen und frostigen Umgebung verborgen, ihrer Auswirkung harrte. Vor allem mußte es dem Arzte wichtig sein, die Erstarrung und Vereinsamung seines Freundes zu lösen. Viel war gewonnen, wenn es gelang, die konventionelle Kruste zu sprengen, die schreckenden Traumbilder aufzunehmen und sie an traditionelle Symbolreihen anzuschließen.
Die Kladde des Arztes verzeichnet im Mai 1916 zwölf analytische Sitzungen, teils auf Sonnmatt, teils in
der Luzerner Wohnung. Anfang Juni bereits verläßt der Dichter das Sanatorium und begibt sich wieder nach Bern, wiederholt aber in der Folge öfters seine Besuche, die jeweils etwa drei Stunden währen. Im ganzen verzeichnet das Merkbuch noch etwa sechzig Sitzungen, die sich vom Juni 1916 bis November 1917 erstrecken. Die Frucht dieser Unterhaltungen sind teilweise Hesses »Märchen« und völlig der »Demian«; der letztere entstand 1917
vehement, wie übrigens fast alle Schriften des Dichters. In wenigen brennenden Monaten war das Buch niedergeschrieben.
Man wird nun in der Gestalt des Pistorius aus dem »Demian« leicht den ärztlichen Freund erkennen; und doch gibt dieser Pistorius keine getreue Kopie. Das Urbild hat gar keine musikalische Neigung, dagegen eine sehr starke zur Malerei. Wenn man die Rollen einmal vertauschen will, so könnte man sagen: des Dichters Patient, der Luzerner
Arzt, ist es, von dem es im »Klingsor« (1919) heißt: »Ich male Krokodile und Seesterne, Drachen und Purpurschlangen, und alles im Werden, alles in der Wandlung, voll Sehnsucht, Mensch zu werden; voll Sehnsucht, Stern zu werden; voll Sehnsucht nach Verwesung, voll Gott und Tod«. Die untersten Schichten der Phantasie sucht diese Malerei zu erfassen: urweltliche Landschaften; seltsame hieratische Tiere; längst vergessene und ganz neue Symbole, in die sich
beschwörende Schriftzeichen mengen. Der Pistorius der Wirklichkeit ist ein wahres Kind an üppig wuchernder Phantasie; durchaus kein Antiquar. Er trinkt auch nicht, wie man meinen könnte; sondern liebt seinen Luzerner Pilatus, und ebenso den andern, den biblischen.
Auch literarisch versucht sich dieser merkwürdige Arzt, und ich kann es mir nicht versagen, einige seiner Sätze aus der »Demian«-Zeit hier aufzunehmen:
»23.
X. 17. Du wirst hören die Stimme, die aus den Urtiefen der Erde ruft, verkünden werde ich Dir die Gesetze des Magmas, in dessen Quellen ich throne, vernehmen sollst Du von mir die Gesetze der Toten, welches sein werden Satzungen der neuen Zeit.
25. X. 17. Wo bist Du heut?
Dir unbewußt arbeite ich in Dir, durchbrechend die harte Kruste, die auf meinem Verliese lastet, damit ich das Eis Deiner Seele durchdringen kann. Gehe ruhig zur Ruhe, ich bin
Dir immer nahe, sende aber oft des Tages und während der Nacht die Strahlen Deiner Gedanken in den finsteren Schacht Deiner Seele, wo ich mich Dir zu nahen suche, um Berührung zu gewinnen.
26. X. 17. Was willst Du mir heute sagen?
Ich hämmere in meinem Schachte, der mich einschließt und mir noch kein Licht gibt, das ich nicht selbst ausstrahle. Du hörst mein Hämmern im Rauschen Deines Gehörs. Dein Herzschlag ist das
Hämmern meiner Arme, die nach Befreiung lechzen.
28. X. 17. Ich bin die Gerechtigkeit des linken Schächers, desjenigen, der seine Sünden auf sich nimmt. Der Dich einmal beten lehrte: verschon mich armen Sünder nicht. Ich hämmere in Deinem Schachte, einmal wirst Du verstehen und lesen die Runen, die ich im Gestein Deiner Seele herausgeschlagen habe, die Urschrift der Menschen, die Du sie lehren mußt, die Gesetzestafeln des Kommenden.«
So spricht ein großer Verführer zum Leben, und seiner überredenden Stimme gelingt es, den Freund in allen Tiefen sich finden und erschöpfen zu lassen. So spricht eine dionysische Stimme, und eine apollinische antwortet ihr. So entsteht eines der seltsamsten und tiefsten Bücher unserer Literatur: ein hohes Lied vom Freunde, der in die Mysterien eingeweiht und Züge der Vorsehung in seinem rätselhaften Gesichte trägt. So entsteht ein hohes
Lied der Mutter, das hohe Lied der »Frau Eva«, doch einer sehr geläuterten, verflüchtigten, einer vom Tod und allen Schauern des Jenseits umwitterten Frau Eva. So löst sich jene Welt, die der Dichter durch Jahrzehnte in sich ausgetragen und verschwiegen hatte. Und das Buch, das die Frucht ist, schwebt zwischen Musik und Malerei, zwischen Diesseits und Jenseits in allen Klängen und Farben, deren Finesse ein großer Artist sich in unermüdlichen
Stilübungen errungen hat.
Die Umstände müssen sehr günstig, die Erlebnisse außerordentlich sein, um solch ein Buch zu ermöglichen. Jeder Satz vermittelt den heftigen, sicheren Griff eines Intellektes, der lange Zeit auf der Lauer lag, die Qual des Innern ins helle Licht zu drängen und zu binden. Der Dichter spricht von seiner damaligen »Besessenheit durch Leiden«; von einer »Höllenreise durch sein Selbst«. Der
Bann ist jetzt gebrochen. Eine Heimat, eine Verknüpfung des Ichs mit den »ewigen, außerzeitlichen Ordnungen« ist gefunden. »Man kann, so heißt es im ›Lebenslauf‹, jederzeit wieder unschuldig werden, wenn man sein Leid und seine Schuld erkennt und zu Ende leidet, statt die Schuld daran bei andern zu suchen.« Nicht nur bei den Menschen, bei Gott selbst hatte der Dichter noch in der »Musik des Einsamen« die Schuld gesucht. Er
nimmt die Schuld nun auf sich. »Und siehe, es war in der Tat eine große Unordnung da. Es war kein Vergnügen, diese Unordnung in mir selber anzupacken und ihre Ordnung zu versuchen...«
»Demian« ist ein Durchbruch des Dichters auf der ganzen Linie; ein Durchbruch zu sich selbst, bis hinab in eine Urverflochtenheit. Und ist ein Sang von der Gewalt des Muttertums; ein Sang von den Wurzeln des Menschenwesens. Die Sprache ist durchsichtig hell, und
doch so sehr in eine makabre, mohnhafte Sphäre getragen, daß sie gleich Gertrudens Stimme alle wilde Süßigkeit der Leidenschaft und sogar einer inzestuösen, einer kainitischen Leidenschaft zu tragen weiß und doch ganz rein von menschlichen Gedanken und Stürmen zu leuchten vermag. Denn auch die Zeit ist in diese Sprache eingegangen, und welch eine Zeit! Eine brudermörderische, eine rebellische, eine gesetzwidrige Zeit.
Und doch siegt
Abel zuletzt, doch siegt das Licht; denn mit dem Wissen um die Schuld beginnt schon die Helle. Bernoulli in seinem Bachofen-Werk hat »Frau Eva« als Beweis für Bachofens bekannte These vom Ursprung aller Kultur aus den Mutterreligionen zitiert. Die Bachofen-These kann man bestreiten; aber man kann nicht bestreiten, daß alles irdische, bild- und triebhafte Leben, daß alles kreatürliche und phantastische Wesen der Welt bei den Müttern seinen Ursprung hat
und seinen Beschluß. Der Ich-Kult und seine Ergänzung, der Déraciné, Dinge, auf die in Frankreich Barrès die Aufmerksamkeit lenkte –, im »Demian« sind sie der Leistung nach überwunden; durch die Bindung an das Mutterbild. Ein religiöses Urerlebnis ist gestaltet.