Jean Paul
Biographische Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin
Dritte biographische Belustigung
eingestellt: 9.8.2007
Anfang der Historie - die magnetische Hand - das mütterliche Gespräch - das Echo bei Genetay
Der Graf Lismore aus Schottland, dessen Landgut dicht bei Rosneath liegt, hatte sich unter einem französischen Namen nach Frankreich und als eine Luftwelle mehr unter die Stürme geworfen, die im Frühlings-Äquinoktium des gallischen Freistaats wehten, anstatt daß sie sonst das Herbst-Äquinoktium
andrer Republiken begleiten. Als das Schicksal in Gestalt der Sphinx vor dieses Reich trat und ihm das Rätsel aufgab, wie ein Land aus einem vierfüßigen Tiere ein zweifüßiges werde, aus einem gebückten ein freies - - ferner als diese fürchterliche Sphinx wie die ägyptische jede irrige Auflösung mit Verschlingen bestrafte: so gab sich der junge Lismore gern für einen Gallier aus, um mit unter denen zu sein, die entweder errieten oder erlagen. Noch jetzt ruht die grimmige Sphinx mitten im Lande
und graset zugleich Arznei- und Giftpflanzen ab; aber im Jahre 93, diesem Stufenjahre der Freiheit, war sie noch hungriger: was konnte nun in jener blutigen Zeit - da der Statthalter des bösen Gottes, Robespierre, den Tempel der Freiheits-Göttin mit Gräbern unterminierte und da seine und fremde Mineurs sich unter der Erde in Katakomben feindlich begegneten - was konnte da ein edler, vom Laster und Schicksal zugleich Freigelaßner anders tun in der trüben Wahl zwischen Morden und
Sterben, als sein Angesicht bedecken, sein tätiges Herz bezähmen und so resignierend und verhüllt es auf dem zitternden Boden abwarten, ob das Erdbeben glückselige Inseln versenke oder erhebe?
Lismore wollte daher seine mißliche und unfruchtbare Rolle und Frankreich verlassen. Sein Landweg von Paris aus war zum Glück der gekrümmte der Seine und führte ihn, wie diesen Strom, dem Meere erst durch einen Umweg zu, nämlich durch Rouen.
Eh er in Schottland ankam, hielt
ihn in Rouen etwas auf - eine Mutter und eine Tochter, die mit verzognen Namen in einem armseligen Hause, das Diogenes nicht ausgeschlagen hätte, sich verbargen und sich grämten. Lismore hatte die Mutter - ich nenne sie Gräfin von Mladotta, ob das gleich nur der Name ihres Namens ist - schon in Paris gesprochen und sie ihrer Sicherheit wegen daraus vertrieben, zwei Tage vorher, eh ihren Gemahl die Menschen-Sägemühle der Guillotine ergriff. Sie war eine durch Philosophie, Welt
und Tugend veredelte Frau, die nicht wie ein Kind über jedes harte Anfassen des Schicksals schrie und die es aus einem langen Leben wußte, daß uns, eh wir es endigen und ehe der Tod uns zum zweitenmal säet, alle Flügel abgerissen werden müssen, wie dem Tannensamen, eh er in die Erde kömmt. Ihre zwei Flügel waren ihr Gemahl und ihre Tochter. Sie hatte also wenig mehr, was sie über der letzten Grube noch schwebend erhielt. Das Ertragen des Kummers ermüdet oft den Körper so sehr wie das Erliegen
darunter: die standhafte Gräfin reichte geduldig dem Schmerze ihr Haupt, das der Schlagfluß traf.
Als Lismore sie wiederfand: war ihr vom Schlage nichts geblieben als ein merkliches Zittern des Armes und die Gewißheit seiner Wiederkehr. Er zwang ihr - um es gleichsam gutzumachen, daß er unter der Fahne einer Partei gedient, die ihr soviel geraubt - das Versprechen ab, jetzt mit ihm nach Schottland zu fliehen, um da, wenn nicht glücklich, doch sicher zu sein.
Aber der Gram,
der nur in ihrem Herzen ruhte, war noch im Auge ihrer Tochter Adeline, die ihren geraubten Vater nicht vergessen konnte. Sie sah oft lange ihre Mutter an, und wenn sie dachte, sie weine vor Freude und Liebe, war es bloß aus Schmerz und Anteil. Ihre Trauer über den entrückten Vater machte ihre Liebe gegen die zurückgelaßne Mutter heißer; - und umgekehrt diese jene; und zuweilen hielt sie eine für die andre. Mit weniger Erziehung oder Tugend wäre Adeline zu sehr verschlossen, d. h.
versteckt geworden; aber beide hatten ihren schönen Gefühlen bloß die fehlerhaften Schleier genommen, nämlich die undurchsichtigen. In der Freude, im Gutestun sah sie einem Kinde ähnlich, das im Schlafe lächelt, weil es Engel erblickt. War auf des Grafen unglückliche riesenhafte Brust der Erdball wie ein Ätna gewälzt, daß sie nur unter fremden Erschütterungen und Verwüstungen sich recht zum Atmen aufhob: so trug Adelinens Busen das Leben geduldig wie ein Leichenstein, oder so wie eine
erblaßte Mutter den an sie gelegten bleichen Säugling trägt, gleichsam als schliefen beide aneinander außer dem Grabe: die einsinkende Brust geht sanft unter der stillen morschen Bürde auseinander.
So war sonst ihr Schmerz; aber der jetzige nicht: er war wohl nicht wild, doch romantisch: denn ihr Geschlecht hat die schweigende Geduld nur für die Schläge, die auf dasselbe im gewöhnlichen Kreise seines bürgerlichen Lebens fallen; aber der Verlust dieses Kreises und die Schreckbilder
außerhalb desselben martern es zu sehr, wie hier Adels-Verlust und Hinrichtung.
Dieses Übermaß eines hyperbolischen Kummers gab, zumal im Lärme einer Revolution, wo das Schwanken der bürgerlichen Scheidewände alle Gefühle mehr entblößt, ihrem so weiblichen Herzen einen männlichen Enthusiasmus, ihrer Zunge Beredsamkeit und ihrem kalten Auge Feuer, obwohl unter Tränen. - Und deswegen brach der Graf einen Vorsatz, den er so lange gehalten: nicht mehr zu lieben.
Bei ihm war ein
solcher Vorsatz unvermeidlich: er suchte ein Mädchen, das auch noch etwas anders wäre - ein Jüngling. Wir wissen vom Grafen noch zu wenig; ich muß wenigstens ein Brustbild von ihm aus der römischen Erde der Vergangenheit graben und hieher stellen:
Er hatte eine unzufriedne Seele, die in der vollen Blüte aller ihrer Kräfte stand, deren jede fast bei ihm eine eigne Seele war: so sehr gebot eine um die andre herrisch über ihn, gleichsam örterungsweise. Daher brach die üppige, berstende
Knospe seines Geistes, wie die einer überfüllten Nelke, ohne Ebenmaß der Reize auf. Bei dieser Kraft war ihm die genießende Untätigkeit des vornehmen Lebens - jener ekelhafte Wechsel zwischen geistigem und leiblichem Schlummer - ein Greuel. Ihm mangelte kein anderes Haus als ein Arbeitshaus und kein Konfekt-, sondern ein Arbeitstisch und einiger Hunger und Schweiß: eine arbeitsam Dürftigkeit hätte seinem treibenden Lebensbaum die Wasserschößlinge verwehrt und eben dadurch seinen ganzen Wuchs
geregelt. Hatt er weniger Zerstreuung - mehr Zeit - mehr Geduld - oder eine herrschende Kraft: so stand ihm für alles gewitterhafte Feuer ein herrlicher Ableiter bereit - die Schreibfeder: - wahrhaftig, das Feuer des Genies, das Länder entzündete, schlägt hundertmal nur ins Dintenfaß, und dann ist die Wolke erschöpft.
Daher behaupt ich, verschwendet ein Shakespeare und Garrick die Kräfte, womit er einem großen Mann hätte nachkommen können, in der Schilderung desselben. Man
nehme manchem Genie die Feder: so wird es den Freiheitsdegen, und manchem General diesen: so muß er jene ergreifen. Daher wird man in aufgeklärten Reichskreisen, wo man sich noch etwas aus echtem Freiheitsgeiste macht, diesen nie in Schriften dulden, sondern ihn wie Brunnengeist hermetisch in den Autoren verpetschieren, damit er nicht verrauche; sie sollen weniger frei schreiben, damit sie (hofft man) mehr frei handeln. Daher schadets einem Autor an der Moralität, wenn er zu tugendhaft
schreibt; wenigstens suchten allezeit Skribenten, die ein reines Leben führen wollten, wie Martial, Katull, Sanchez , die unreinsten Werke zu fertigen, um mit ihnen, wie mit gut angebrachten Ventilatoren oder Schiffspumpen oder Abzugsgräben, den Sündenstoff aus ihren Seelen abzuführen.
Was ohnehin die Moral anlangt: so kann man fodern, daß angesehene Adjunkten der philosophischen Fakultät auf ihren Kathedern, und unangesehene Adjunkten der theologischen auf ihren Kanzeln, da sie
keine frères servants, sondern schon Gebrüder-Redner der Tugend sind, daß sie, sag ich, als Kunstrichter der Tugend die höchsten Gesetze aufstellen, um deren Befolgung sich niemand als die Schöpfer guter Werke zu bekümmern haben: beide Adjunkten sind ihre eigne kantische Gesetzgeber und haben also in sich die gesetzgebende Gewalt vollkommen; von dieser aber kann in Menschen wie in Staaten die ausübende nicht genug gesondert werden.
Der Graf
streckte, wie alle idealische Leute seiner Art, mit gleicher Heftigkeit seine Hände nach der Wahrheit - nach der Tugend - und nach einem weiblichen Herzen aus und zog sie immer voll Schaum zurück. Dieser gute Leolin Lismore mutete einem Weibe alle Tugenden zu, auch seine, ja sogar die, die ihm mangelten. Wenigstens mußt er, wenn er sich auch im Handel noch einige Vollkommenheiten abbrechen ließ, doch durchaus auf zwei - oder es war sonst Läsion über die Hälfte - dringen: 1) auf ein
Herz, wie ein Engel trägt, zart, unschuldig und milde - 2) auf einen Kopf, wie er führt, voll beredten aufbrennenden genialischen Enthusiasmus für alles Edle und Große. Seine Täuschung fing allezeit beim ersten Artikel an, und dann war sie beim zweiten natürlich.
Einem Lismore verübl ich solche Foderungen nicht; aber was soll man sagen oder schreiben, wenn Libertins, die in ihrem ganzen Leben nichts taten, als gute Engel zum Abfall verlocken, am Ende als Gratial ihrer wohlverlebten
Jugend weiter nichts begehren als einen Seraphim, wenn der vierzigjährige Schöpfer schuldiger Mütter und unglücklicher Kinder bloß die Unschuldigste, wenn der Treuloseste bloß die Treueste als einen geringen Preis seines redlichen Wandels fodert, weil er nicht gern mehr am Trauungsaltar verlangen will, als etwan der rechtschaffenste Jüngling im Lande fodern kann? - Noch besser war, es, ein solcher Plus-Lizitans hauste in Paris: er könnte dann in die rue St. Martin ins bureau de confiance
Nro. 225 gehen und dieser Heirats-Börse, die in allen Provinzen die besten Unter-bureaux hält, folgende Affiche zu publizieren geben:
»Endesunterschriebener sucht eine Frau, bei der er alle die Tugenden haben kann, die ihm ausgegangen sind - die so lange in diesem Leben ein Engel ist, bis sie im andern einer wird - die alles erträgt, sogar einen Mann oder seine H. - die nichts vor ihm verbirgt als ihre Tränen und seine Kinder. - Dafür bringt ihr Sponsus seines Orts wieder (er
macht sich dazu anheischig) ein adliges Alter von 6000 Jahren und ein hübsches Warenlager von Sklaven, womit er in zwei Welten handelt, und die Hörner zu, die sonst erst nach der Hochzeit angeschafft werden müssen; wobei er aber fodern muß, daß die Person, mit der er sich in solche Heiratsunterhandlungen einlassen soll, entweder die heilige Jungfrau Maria selber, oder deren Base, Stieftochter oder Enkelin sei, weil niemand mehr an seiner Ehre gelegen ist als dem
Beelzebub.«
Ach! es war eine glückliche Zeit für den edlern Lismore, da zwei Tropfen, die aus zwei schönen jungen Augen fielen, noch sein mit ungelöschtem Kalk befruchtetes Schiff in Brand setzten - da er zu einer seligen, aber kurzen Idylle nichts vonnöten hatte als eine schöne Landschaft und eine schöne Schäferin, die zugleich das schöne Schaf darin war - und da er noch nicht sagte, eine Frau sei nichts als eine geborne -
Kastratin.
Er nahm es erst in Rouen zurück; aber bis ers tat, wie viele geistige Getränke für das Herz mußt er nicht auf verunglückende Weinproben setzen! -Wie viele versüßte Kapweine mußt er nicht mit seinem liquor probatorius oder der sogenannten sympathetischen Dinte untersuchen, bis er den schwarzen Niederschlag im Spitzglase vor Augen sah! - Ich will nur einen und den andern Wein nennen.
Z. B. die öden, lustigen,
gutartigen Mädchen, die statt des Kopfes nichts haben als zwei Füße, nichts können als lachen, singen und plaudern, und die nie beseelt sind, als wenn sie tanzen, wie die hölzernen Trommelschläger aus Nürnberg nur so lange trommeln und arbeiten, als das spielende Kind sie in der Stube herumzieht. -
- Oder die, die statt der Menschenliebe nur das, was sie oft damit verwechseln, haben, Männerliebe - die wie
Misogyne keine Frau lieben als die im Spiegel und die nicht bloß
hinunter-, sondern auch hinaufwärts hassen, wie die Affenweibchen unsre nicht ausstehen können. - (Ein Affe hingegen schätzet den Menschen stets, er sei von seinem oder vom zweiten Geschlecht.) -
- Oder die, die nur heiraten, um zu kochen - die gerade so gut und so böse sind, als ihr Mann sie haben will - für die ein Mann eine Erbschaft, eine quarta falcidia der Schöpfung, eine kleine Welt ist, und die nicht seine Liebe, sondern seinen Namen und sein Geld verlangen, und die die
Fortuna so abbilden würden wie die Römer: mit einem
Barte. -
- Oder die leidlichen, die so lange gut bleiben, als man sie einsperrt, und deren Gesang unter fremden Weibern und Männern wie der Kanarienvögel ihrer ausartet, wenn sie den Käfig mit dem Walde vertauschen. -
- Oder die, die die
Tugend lieben, aber einen
Tugendhaften noch ein wenig mehr - die mit allen guten Anlagen des Kopfes und Herzens gegen alle herumschleichende
Unter-Teufel recht gut gedeckt sind, nur aber gegen gute Engel nicht; wie man denn überall, selber in den höchsten Ständen, noch Weiber findet (freilich sind solche schöne Ausnahmen selten), die den Sklaven ihrer Reize, wie der Plantagenbesitzer den seinigen, nicht bloß nach äußerlichem Gehalt, nach Zähnen, Jugend, Gesundheit, aussuchen, sondern die auch wirklich, wie der Sklavenhändler, ein gutes Herz und einen guten Verstand mit im Kaufe drein haben wollen oder gar mit bezahlen. - -
- Oder die, die nicht sowohl weich als flüssig sind und die man wegen den weichen Knochen ihrer Seele wohl lieben, aber nicht heiraten kann - deren feines Gefühl der gutmeinende Mann von früh bis abends in einem fort beleidigt und ritzet, und in deren Herz er Scharten stößt, wenn er nur mit einem Barthärchen an solches streift, so daß der gequälte Schelm sie nur wie eine von der Kopfnaht bis auf die Ferse geschundne Person voll Empfindung handhaben kann. - -
Alle diese Mädchen sind
gut; nur nicht die besten.
Adeline war die einzige in Leolins Augen, die nicht unter jene, sondern unter diese gehörte. Ihre Mutter, die als eine Frau von Welt einen männlichen Schatz fast aus allen Wissenschaften besaß, hatte ihn auf ihre Tochter vererbt; und diesen Schatz trug sie nicht als ein prahlendes Schmuck-Gehänge, sondern als einen auf der Brust verborgen liegenden offizinellen Edelstein. Der Einfluß dieses Amuletts gab ihr - was bei ihrem Geschlechte ebenso reizend als
selten ist -ein bescheidenes Interesse an Dingen - und an den Gesprächen darüber -, die vielleicht einer Frau so wichtig wie Küchen- und Putztisch sein sollten, nämlich an der Natur, an allen Welten, an dem Vaterlande und allem Großen. Das Getöse der Revolution machte ihre sanfte Stimme, wie das Rollen der Wagen oder eine nahe Mühle die physische der nächsten Anwohner, ein wenig stärker. Kräftige Menschen jagen gerade ihren Ebenbildern am wenigsten nach; daher war das milde Öl, das statt des
Blutes aus ihrem Herzen in ihr sanftes Leben floß, die anmachende Nahrung des Feuers in Lismorens seinem.
Was braucht ein Mensch mehr, um auf der Stelle sich zu seinem ersten Liebesbriefe niederzusetzen, als eine Adeline mit dieser Milde - mit dieser Trauer über den Vater - mit diesem Herzen voll Gefühl und voll Teilnahme an Wahrheiten und Menschen - mit dieser Hülflosigkeit, die der Liebhaber halb verursachte und ganz heben will - - was braucht er mehr? frag ich. - Wenigstens fand
Lismore mehr: die treuste Tochter, die je an einem mütterlichen Herzen mit blinder Liebe hing; je sanfter und je
weiblicher eine Tochter ist, je fester sie einmal ihr Herz an ihren Gatten heften wird: desto lieber und näher ist ihrem dasjenige, unter dem sie einmal lag. O! warum müssen die stillen, anscheinend-kalten weiblichen Seelen so oft gemißdeutet werden, da sie doch gerade für die nächsten Menschen, für Mutter, Gemahl und Kind, die größte Wärme und die größten Opfer aufbewahren?
- Bloß deswegen: weil die meisten nur
eine Wärme glauben, nämlich die sichtbare, d. h. die Flamme.
Der Graf war genug unter Menschen und Jahren herumgeworfen worden, um es zu wissen, wie man das Herz voll Neigung mit der rechten Glastüre versperren müsse; auch war er schon längst gegen jene Treibhaus-Liebe eingenommen, die einen Tanz-Abend braucht zur Blüte und einen Vormittag zum Abfallen derselben. Ein unerfahrner Jüngling wäre durch Adelinens Kälte traurig und irre
geworden: er wurd es nicht; er dachte sich erstlich in das scheue Herz der Tochter, die jetzt so nahe und so mitten innen zwischen dem Tode des Vaters und der Krankheit der Mutter das Verhehlen ihrer frohern Empfindungen zu ihren kindlichen Pflichten machen mußte. Zweitens war ihm, der immer glücklicher bei Schönen war als sie bei ihm, oft aus Bitterkeit und selten aus Eitelkeit die Voraussetzung geläufig, daß eine ihn liebe. Drittens fragte er nach nichts, er konnte alles verwinden, alles
verlieren; »wenn Resignation« (sagt er immer) »als Resignation einen Wert behauptet: so macht die Größe eines Verlustes sie nur nötiger und edler - kurz der Mensch muß entweder nichts oder alles verschmerzen, sogar die Hölle und die Vernichtung.« Denn an letztere glaubt er fest. Er liebte also Adeline unaussprechlich; aber er schwieg, nicht weil sie schwieg, sondern weil sie zu schweigen zu sehr den Anschein hatte.
Dabei war er (im guten Sinne), wenn nicht ein Hof-, doch ein Weltmann:
der Steig vom Genie zum Weltmann ist kürzer, als die Leute sagen, die eines von beiden sind. Seine unbiegsamen Bestandteile hatten unter Weibern und Geschäften ihre Sprödigkeit abgelegt; aber der wenige Gift, der sie flüssig machte, war in der Einsamkeit wieder verflogen, und er hatte in zwei sehr entgegengesetzten Lagen nichts verloren als die Mängel derselben; so macht
Achard das spröde weiße Gold durch Arsenik so weich, daß man es in Gefäße formen kann; dann jagt er durch heftiges
Feuer den Arsenik wieder heraus.
Der Graf war so verwöhnt, daß er sogar in Sachen des Gefühls immer Plane und Modelle machte: er vermaledeite seine Plansucht und sein - Bewußtsein derselben: »Wenn ich nur wenigstens« (dacht er) »nicht wüßte, daß ichs auf etwas anlege.« Ihm fiel - zu seiner Ärgernis - gerade in die schönsten Täuschungen des Enthusiasmus, in die schimmerndste Beleuchtung der Opernbühne immer durch eine zufällig-aufgehende Pforte das Tageslicht der Besonnenheit ein. Ihn
verfolgte jetzt das Bewußtsein des Plans, daß er bloß die Freundschaft der Mutter zu gewinnen und zu erwidern brauche, um die Liebe der Tochter dreinzubekommen. Seine Absicht war schön und sein Mittel unschuldig; aber im 14ten Jahre liebt man doch ohne beide noch schöner.
Anfangs begreift mans nicht, daß das Herz der Mutter ihn an Sohnes Statt annahm: sie, eine von den höhern Ständen vollendete Frau, mit gleich feinen und strengen Sitten, mit Gefühlen, die sie mit ebensoviel Anstand
ver- als entschleierte, und von einer Erziehung, die ihren Geist und sogar den, der keine hatte, immer in engsten Schranken der Grazie und Tugend hielt. - Er hingegen, ein sogenannter »starker Mann« in genialischem Verstande, eine Sonne, aber umzogen von einem immerwährenden Ring oder Hof voll Stürme - unersättlich in Vergnügungen, obwohl in den edelsten, und ein Engel, aber nur in einem Himmel, und voll widerstrebender ungebändigter Kräfte, die den Weg seines Lebens wie einen römischen mit
lauter großen Ruinen zu überdecken drohten. - Gegen solche Männer haben die Mütter sonst zu viel Mißtrauen, wie die Töchter zu wenig: - - gleichwohl wars dasmal fast umgekehrt; und die Mutter wurde seine beste Freundin aus drei Gründen, die recht gut sind.
Erstlich in Revolutionszeiten, wo immer um die Arbeiter am Bau des himmlischen Jerusalems der Freiheit Blitze aus dem Boden schlagen, in Zeiten, wo man sich gegen die Gewittergüsse, gegen Kröten- und Blutregen unterstellen will,
sucht man nicht den zu einem Tier oder Menschen zierlich ausgeschnittnen Gartenbaum, sondern eine vollästige dickbelaubte Eiche, einen Lismore. Zweitens gibt es keine sanftere Periode bei einem Menschen wie Lismore, der eine weibliche Seele mit so vielem Ungestüm besitzet, als die, wo er sie erst sucht: man sieht kaum den starken eckigen Frakturbuchstaben vor lauter Zugwerk aus sanften Schönheitslinien. Der dritte Grund ist seine - rechte Hand: ich wills erzählen, ich sitze ja dazu da.
Adelinens Mutter hatte vom Schlagfluß einen zitternden Arm behalten: man sage, was man will, ein empfindungsloser wär ihr lieber gewesen als dieser oszillierende; warum soll ein vortreffliches Weib nicht in den Fällen ein Weib sein, worin Tugend und Sitte es erlauben? Als Lismore ihr das erstemal die Hand küßte, wars ihr, als schieße Eiswasser die Armröhre hinauf, und das Zittern nahm ab. Sie gab beim zweiten Kusse darauf acht; aber es war kein Zufall. Sie sagt es ihm; er merkte aber bald, daß
nicht seine Lippen offizinell wären, sondern seine Hand, deren Heilungskräfte durch Berühren einwirkten. Kurz durch einiges Bestreifen ihres stechenden Arms richtete er in wenig Minuten die bebende Magnetnadel in einen ruhigen, nach ihm gekehrten Stand. Wer den Grafen nicht gesehen und also zweifelt, den verweis ich auf den noch lebenden Grafen von
Thun in Wien - und umgekehrt verweis ich auf jenen, wenn einer diesen nicht gesehen -, welcher ebenso lahme Glieder durch Bestreichen
herstellt.
Ich glaube, der Arm der Mutter steckte das Herz der Tochter mit einem andern Zittern an; aber hier war der Graf weniger die Sanitätsanstalt als die Krankheitsmaterie, und seine klinische Hand voll Arzneifinger heilte gerade durch Berühren am schlechtesten. - - Lasset mich doch an ihren heiligen vier Herzenskammern, worin beinahe nichts als die vier Evangelisten, nämlich ihre Heiligenbilder, sind, die Nachtriegel zurückschieben und nachsuchen, ob ich nichts finde! -
Allerdings find ich etwas, nämlich den kleingeschriebnen und mit
sympathetischer Dinte gezognen Anfangsbuchstaben des Grafen, nämlich ein
L (wenns nicht auf den Evangelisten Lukas geht). Dieses
L ist der Dinte wegen den ganzen Tag
unsichtbar, außer abends, wo die
Wärme den Buchstaben ein wenig leserlich macht. - Jeden Morgen war sie ärgerlich, daß sie abends, von Lismorens geflügeltem Geiste angeweht, ein wenig wärmer gewesen, als sie nachher
wollte. Das reine weiße
Asbest-Blatt ihrer Seele, auf das sie jenes
L zuweilen schrieb, warf sie jeden Morgen in die Flammen, die alles auslöschten und wegbrannten, ohne den geringsten Nachteil des Bergflachses selber.
Aber die Myrte der Liebe gehet wie andre Gewächse gerade bei stürmischem Wetter am meisten in die Höhe. Adeline merkte viel später, welcher Blumensamen in ihr Keime treibe; aber die Mutter merkte es früher als der Graf, und dieser früher als die
Tochter: denn die erste Liebe verhehlt sich am wenigsten und kündigt sich immer, wie die Sonne im
Frühling, mit einer längern Aurora an. Ihr Herz hält sich gleichsam unter dem Zelte eines Schleiers für sicher: hebe den Schleier ab, so verstummt es, als Gegenspiel des schreienden Kanarienvogels, der zu singen aufhört, wenn man ihn überdeckt. -
Aber es kam ein Tag, der alle diese Rätsel endigte und meine biographischen Belustigungen anfing. -
Es war vormittags, wo
Adelinens Mutter fühlte, der nähere Tod spanne die von so vielen Schmerzen aufgeschraubten Nerven wieder zurück - die Saiten der zurückgedrehten Wirbel bebten schlaffer, aber tiefer und leiser - ungewöhnliche Tränen stiegen in ihre Augen, und sie wunderte sich nicht, daß ihr Herz, sondern nur, daß ihr Auge voll Tränen war. Ach! da mußte sie ja die treue Tochter ans berstende Herz ziehen und mit einem zweiten ihres verbergen und stillen. Sie sagte es niemand; aber sie wußt es, sie könne eher die
Erde als ihr Frankreich räumen, und indem sie sich gelassen zur Reise vorbereitete, setzte sie voraus, es sei die längere
aus der Erde, und sie gehe über ein stilleres Meer als über den Kanal. Sie dachte den ganzen Morgen an den Grafen - zumal da er nachmittags mit Adelinen ein nahe liegendes Echo besuchen wollte - und an ihren Tod und an die Hülflosigkeit der Tochter; und sie nahm sich vor, ihr die Mutter-Hand noch einmal zu reichen, eh sie erkalte und zerfalle.
Möge kein roher Mann der Zeuge von der weichen, zarten Umarmung sein, in der zwei weibliche gebildete Seelen in die Sphärenmusik einer milden, heiligen, melodischen Liebe, ohne den harten Durton einer männlichen, versinken! - Ja, ein Auge, das gern auf der Umarmung zweier Freunde ruht, muß sich noch mehr heiligen, um mit Entzücken auf das Umfassen zweier höherer Freundinnen zu blicken. -Und da ihr mein hartes Geschlecht kennet, ihr Teuren, so entrückt
ihr ihm so oft den Anblick eines mißverstandnen Werts, wie die verehrten Statuen der römischen Götter durch Vergraben dem Zertrümmern, oder Mosis Gestalt durch Verhehlen dem Anbeten entzogen wurde.
Julie - so hieß die Gräfin - blickte ihre Tochter lange und mit unbezwinglichen Tränen an, die mit dem Profil sich in ihre Näharbeit vertiefte. »Adeline!« sagte die brechende Stimme. Die Tochter kehrte sich zitternd zu ihr; und der Ton und die Wangen voll alter Tränen hatten ihr
alles gesagt, und sie fiel stumm, ohne eine einzige Frage, an den gequälten Busen - und sie küßten sich schweigend - und weinten schweigend - und gleichwohl blickten sie sich an und weinten noch mehr.
Julie drückte sanft die widerstehende Freundin von ihrem Herzen und zog sie endlich neben sich nieder auf ihren Sitz und fing an: »Tochter, wenn du einen Wunsch bisher hattest, so sag mir ihn jetzt: ich werd ihn gern erhören - sag ihn!« - »Meine Wünsche sind Ihre, weiter hab ich keine.«
- »Nicht so, Adeline! - wenn du etwas wünschest, so begehr es jetzt von mir; ach! du weißt ja nicht, wenn du mich verlierst.« - »Nein, nein - ich wünsche nichts, als daß Sie froher sind - - und daß ich Sie wieder umarmen darf, das wünsch ich, geliebteste Mutter!« -
Sie umfaßten sich, und unter dieser täuschenden Nähe der armen berauschten Sterblichen sagte die Mutter: »Tochter, rede anders! Wenn du einmal nach meinem Tode an mich dächtest und dich fragtest, ob ich irgendeine deiner
Neigungen nicht genehmigen würde: sage mir, was würdest du tun, wenn du dächtest, ich würde sie nicht? Gib mir deine Antwort heute.« - (Nach einem langen zitternden Schweigen:) »Nein, nein, ich werde schon vorher sterben - was könnt ich noch lieben? - Ach! teuerste Mutter, nennen Sie mir es jetzt, ich werde ja alles recht gerne fliehen, was Sie wollen.« - »Du sollst nichts fliehen; aber würdest du auch jeden Menschen lieben, den ich liebte?« - (Zu fein:) »Jeden, wie meinen
Vater, würd ich ihn.«
»Adeline, wie sprichst du! Du kennst mich heute nicht.« - (Ihr um den Hals fallend:) »O Gott! Mutter, wie verstehn Sie mich?« - (Sie an sich schließend:) »Bleibe nur so! Und sage mir heilig zu, als ständest du an meinem Sterbelager, versprich mirs, bald zu wählen. - Wähle, wenn dein Herz nicht zu viel dagegen hat, den Grafen.«.....
Aber hier mußte Adeline im Schwindel der Empfindungen, die sie umkreiseten, der doppelten Liebe, der Scham, der
Freude, des Erstaunens, sich an den mütterlichen Busen lehnen, der zugleich ihr Schleier war, und sie hatte nichts in der Gewalt als die süßesten Tränen, und kein Ja, sondern einen langen Kuß. - Zärtlich sagte die Mutter: » So sagst du mir doch dein Nein nicht«; und leise lispelte ihr ins Herz Adeline: »Nein!« -
Nur der weiche Finger der Mutter konnte den Harpokrates-Finger, den sich Adeline immer auf ihre Lippen drückte, wegschieben und dann die schöne Seele im
Nonnenschleier eilig an das Sprachgitter ziehen, damit sie da das Gelübde des weiblichen Schweigens noch schöner breche als halte. Aber allein die Mutter konnt es auch nur.
Warum nehmen euch, ihr Männer, solche Charaktere nur auf dem Schreibtische und nicht im Leben ein? Warum schont ihr nicht ein scheues frommes Zögern mehr, das ihr bloß lobt? und wenn ihr so viel Recht habt, ein solches moralisches schreckhaftes Auffahren, einen solchen heiligen Skeptizismus, ein solches
Mißtrauen gegen die zusammenkommenden Grenzen des Vergnügens und der Tugend zu begehren: so habt ihr eben darum weniger Recht, als ihr meint, die Gelegenheit zur Probe zu geben. - Ich sehe nicht ein, warum allemal ihr den Preis ihrer Siege oder die Beute ihrer - Kämpfe nehmen wollt und mit welchem Rechte ihr euch mit euern blutsaugenden Zungen an jede entblößte Stelle ihres Herzens anlegt, wie in Ost-Indien die Vampyre auf jeden Schlafenden, dessen Stirne nicht ganz zugedeckt
ist, niederfallen und sie blutig lecken.
Gehe nachmittags, Leser, mit unserm blühenden Paar, das nun eigne und mütterliche Wünsche vermählen und das sich von einem glücklichen in nichts unterscheidet als in der Hoffnung, gehe mit beiden nachmittags nach der St. Georgen-Abtei bei Genetay, die zwei Stunden von Rouen obliegt. Die Absicht ihres Lustganges ist, dem seltensten Echo zuzuhören, das noch als Kapellmeister die aufs Chorpult eines Berges gelegten Melodien
spielte. Es hat das Sonderbare , daß ein Sänger da nur seine Stimme, Zuhörer aber seine nicht, sondern nur den Widerhall derselben, oft zwei Stimmen statt einer, und alle sie anders, bald näher, bald weiter vernehmen.
Auf dem ganzen Himmelswege hielt auf Adelinens Angesicht eine lebhafte schüchterne Verwirrung an, deren heutige Quelle und deren schönste Bedeutung dem Grafen verborgen blieb. Der helle wehende Himmel des Nachsommers wiegte gleichsam die Erde in den Winterschlaf, und
unser Paar in den Seelenschlaf der Ruhe. Sie schwankten, auf dem bequemen Steige der Schönheitslinie, dem reizenden Echo entgegen und folgten Pfaden mit kleinen Krümmungen nach, so wie die Seine neben ihnen in großen dem Meere entgegenfloß.
Sie kamen an und durchstreiften die irdische Walhalla; aber fast so wie Lismore immer den Standpunkt verfehlte, auf dem seine Seele ihr Echo in Adelinens ihrer hören konnte, so ging es beiden auch mit dem Standpunkte des physischen Echo: sie fanden
ihn nicht. Der Graf tröstete sich leicht darüber: eine weißblühende Allee von seligen Minuten war bis an den Abend für ihn gepflanzt, wo die Gräfin Mladotta mit einem Wagen kommen und die Tochter abholen wollte. Nur mit halben Lauten flog sein Geist, der seinen verwandten suchte, furchtsam und schnell um die zugeschloßnen Knospen der schönen Gefühle, die in Adelinens Herzen noch ohne Farbe und ohne Sonne lagen, wie sich Bienen an Kornblumen, die noch nicht aufgebrochen, hängen. Wie wenig
brauchen zwei Menschen, deren Herzen voll sind, von der äußern Welt, wie wenig! Nur einige Blumen, keine englischen Anlagen - nur einen durchsichtigen Bach, keinen schiffbaren Strom - nur ein im Blauen flatterndes Wölkchen aus Silberfolie und die schwer aufgestellten goldnen Flügeldecken, womit ein beseeltes Flug- und Goldsandkörnchen aus dem ausgetrunknen Blumenkelche aufsteigt... Denn alsdann wird vom erwärmten Herzen nicht bloß die ganze Erde, sondern auch alles Kleine dankbar angezogen, wie
Edelsteine nicht bloß Licht, sondern auch Spreu an sich saugen. - - Aber nur ein zweites bewegtes Herz ist die dunkle Kammer, worin diese Natur in Bewegung sich abmalt - unser Papier ist nur steife Leinwand mit festen, gelähmten Figuren.
Einige Tagblumen falteten sich schon zu, und die Seele, die Nachtviole in dem Nachtleben, tat sich weiter auf und öffnete sich den Sternen. - Ach! gleich eingeschifften Negersklaven werden wir von der Sehnsucht nach unserm wärmern, schönern
Vaterlande am meisten zu nachts erweicht und gedrückt. - Aber beide erwarteten jetzt statt des Echo nichts weiter als die Mutter. Ein kühler Seewind, der sich mit Wimpeln und Brandungen müde gekämpft, trieb jetzt nur noch mit weichen Locken und Bachwellen sein letztes Spiel, und die Blumen wankten nach, da er von ihnen aufflog und mit den Vögeln sich in die Gipfel versteckte.
In solchen Stunden, wo die ganze Natur von ihren Blumen bis zum Abendrot, gleich den Blumen
im Morgenlande, ein großer Brief der Liebe voll schöner Zeichen ist, da wurde der von einem halben Leben voll Taten nicht gesättigte Lismore durch die Wonne besänftigt und bezähmt; und er stand mit einem von den Liebesarmen der Natur festgehaltnen Herzen, das keine epileptische Schläge tat, süß in die gleich ihm gemilderte Abendsonne verloren, ein wenig von Adelinen weg, abgesondert durch ein Orangeriegeländer. Sie blickte umgewandt zurück nach der erwarteten Mutter und er nach der Sonne, die
glimmend über dem Meere hing. Lismore begleitete sie mit einem Abschiedsgesange, den er, da er in allem ein Improvisatore war, eben selber machte. Der Inhalt davon war: »Kreise träger um, du goldnes Zifferblatt des Himmels! - Rolle nicht so schnell mit deiner Glut aus unserm holden Abend! Ach! zieltest du jetzt mit einem schönern Morgen über Amerika herauf? - Wirst du nur betaute Blumen, nicht auch nasse müde Augen aufschließen? Wirst du nicht, wie ein heißer Funke, auf manchen wunden Busen
fallen, dem du ein langes Tagewerk voll Qualen auflegst? - Schlummre lieber in unserm Abendrot und laß dem armen Negersklaven seine tröstende Nacht, seinen Traum von dem entrückten Vaterlande und seine ruhige kleine Minute voll Kühle und Glück.« - - Auf einmal stockte seine Begeisterung: er dachte an sich und fuhr fort: »Ach! ziehe nur hin, wartet denn nicht in jedem Winkel auf dein Verbergen ein Auge, das weinen - ein Herz, das sprechen - ein Jammer, der ruhen, und ein Geist, der den Tag
vergessen will?«
So sang er und glich der Nachtigall, die nach der Meinung der Perser allemal mit einer gegen einen Dorn gekehrten Brust zu schlagen pflegt. Adeline stand unwissend im Brennpunkte des Echo. Er hörte also nichts wie sich, aber sie hörte statt seiner bloß die zerteilte Engelszunge des Nachhalls, der die schöne Stimme in zwei zerlegte und damit wie mit zwei Armen das beste Herz gefangen nahm. Sie breitete, bis zum Weinen entzückt, ihre Arme auf die niedrige
Orangerie hinter seinem Rücken aus und stellte sich vor, er höre den Doppelgesang auch. Sie hatte das Echo vergessen, weil der Mensch lieber einen Menschen als ein Echo voraussetzt, so wie er im Winter lieber dem Gefühle der Wärme, die ihm die Bewegung gibt, als der Gewißheit der Kälte glaubt. Endlich, da alles aus war, sagte sie mit einem ungewöhnlichen Tone. »Wie himmlisch! was für ein Ton! Ach! solche Herzen muß man lieben.«
Lismore kehrte sich betroffen zurück, und ein weiter
heller Himmel voll Mondschein ruhte, von der schönsten Seele ausgemalt, auf dem schönsten Gesichte vor ihm. Sie fragte gleichsam sein Erstaunen: »Haben Sie das Singen gehört?« - Ihm war das Echo unvernehmlich geblieben; er sagte: »Ich weiß nur meines.« Sie wurde hochrot, sagte aber ebenso schnell als leise: »Ich habe Sie nicht gehört.« Ein Strahl beleuchtete jetzt das doppelte Rätsel, und Leolin verfiel auf den Maschinengott des Echo und sang, ohne weitere Antwort und von ihr abgewandt, die
Worte gegen die Abendsonne: »Sinke nur ein, o Sonne, das Echo und Adeline, und der Mond und Julie gehen in deinem Himmel auf, und du wirst nicht vermißt!«
Eilig drehte er sich zur irrigen Zuhörerin zurück und sagte bittend-beklommen: »Nehmen Sie darum alles zurück, was Sie gesagt haben?« - O! welcher begeisterte Genius lähmte die Irrlehrerin mit einer verwirrten süßen Unbeweglichkeit? Ihre weißen Arme blieben auf das Grün wie Schmetterlingsschwingen gedeckt - ihr bestürztes und
beglücktes Auge zog die ersten Blicke der überraschten Liebe zu langsam zurück - und die Beschämung über die Verwechslung nahm der Zunge die Kräfte des Widerspruchs. Die Sonne tropfte wie geschmolznes Gold in das nahe Meer - aber eh sie in den Fluten erlosch, flatterte ihr blendender Purpur vor Adelinens Auge und verdunkelte es - und in einer Träne wurde die augenblickliche Nacht und der Purpur größer - und nun kniete, in der flüchtigen Unsichtbarkeit ungesehen, ihr Freund vor sie hin und zog
ihre Hand über die kalten Orangen herab - - - und zum ersten-, erstenmal in seinem Leben war ihm, als zöge die Fahrt seines Lebens eine lange schimmernde Furche in die Vergangenheit, wie Schiffe ins Meer eine leuchtende Straße bahnen. - Alles Erhabne in seiner Seele stieg auf und sagte ihm: schweige nur heute und laß die Beklommne schweigen. - Er schwieg; aber die augenblickliche Nacht war die Amors-Binde, die Adelinen den schönen Verlust der Hand und des Herzens verdeckte, wie physische Glieder
nur mit verbundnen Augen abgenommen werden. Ihre Seele sank in seine glühende, wie einmal Planeten in die Sonne fallen. - Ach! da die Sonne hinunter war und da sie ihn anblicken wollte, da fühlte sie erst, wie viel sie ihm gegeben habe.
Nun ging auf der bleiche Mond und die - bleiche Mutter: ach! zwei glückliche Tränen und eine Wangenröte sagten ihr alles, und als die Tochter sie zitternd und heftiger als sonst umarmte, war ihr denn da die brennende, bebende Lippe auf ihrer
Hand zum Lösen des Rätsels noch nötig? - Aber der reiche Perlenfischer kehrte mit der hellsten und reifen Perle eines Weiberherzens, das sich aus dem reinsten Busen so schimmernd abgeschieden, geschmückt und glänzend nach Hause.
Drei himmlische Genien flogen mit den drei Menschen; aber ein einziger Genius weinte.