Jean Paul
Das Kampaner Tal
XII. Zweiter und letzter Freudenstock
eingestellt: 26.7.2007
Die chymische Verwandtschaft des Traums, des Geburtstages, des Sterbetages und des Finis
Nichts schlägt mir elender zu und lässet mich matter zurück als ein Diskurs mit Leuten, die außerordentlich berühmt und gescheut sind, und ein halbstündiges Kolloquium mit Voltaire, mit Friedrich II., mit Lessing tränkte mir mein Magen gewöhnlich mit Säuere ein und mein Kopf mit Kongestionen. Besonders ist
mirs zuwider, wenn ich den berühmten Mann schon wirklich gehöret habe, der mich in meinem Bette besucht (denn ich rede von meinem bureau desprit in Träumen). Ich darf sagen, daß ich voriges Jahr täglich mehr Bitterklee (diese beste Präservationskur gegen künftige Migräne) kochen und trinken mußte und am Morgen gar nicht aus den Federn wollte, bloß weil Herr H. jede Nacht zu mir kam, als wäre mein Kopfkissen ein Besuchzimmer: denn ich mußte mich im Schlafe, wo die Natur ruhen will, nicht bloß
entsetzlich anspannen, um mich im Diskurse zu zeigen, sondern ich mußte auch Herrn H. jedes Wort eingeben, das er zu mir sagte. Und das ist (zumal im Bette) schwere Arbeit. Glücklicherweise kömmt ihm das niemals zu Ohren, was er zu mir sagt und was ich ihm einblase; aber lieber sprech ich mit ihm millionenmal auf seiner Stube als einmal in meinem Kopf, weil ich dort nur zu sagen brauche, was ich weiß, hier aber das übrige.
Dabei hingegen kann man bestehen, wenn
einem der Revisor erscheint: in der vorigen Nacht kam er vor mein Bette und schlich mit andern Träumen in mein Gehirn. Es kam mir nämlich vor, der Bettmeister hänge wie ein Eidotter in einer Phiole voll Weingeist (er hatte etwan die Länge eines Fötus) und fange im Spiritus an, mich anzureden. Es ist hier leicht zu bemerken, wie sehr meine Phantasie, die den ganzen Tag den Revisor nur auf den Holzschnitten in dem nonagesimo-sexto-Format eines winzigen Männleins besieht, das mehr in die Juwelier-
als Heuwaage gesetzet werden kann, auf meinen Traum einfloß und gleich Pedrillo ihm die Größe seines Miniaturbildes lieh. Das Bettmeisterlein sagte, es könne nicht ruhig in seinem Spiritus hängen, ohne mir gedankt zu haben, daß ich den zugemauerten Namen an seiner Ehrensäule wieder aufgekratzt, vorgescharrt und ausgeputzt und seine schiefhängende Statur wieder steilrecht gesetzt - daß ich in den Schleier Minervens (er spielte auf meine Schriften an) nach athenischer Sitte seinen Namen
eingewoben. Ich sah, daß der Fötus belesen war; und wollt es gleichfalls scheinen: »Lieber Intendant des lits er meubles,« sagt ich, »Ihre Werke blieben ewig wie der kleine Katechismus; aber die Bilder Ihrer eroberten Provinzen zogen, wie bei einem römischen Triumph, in die Nachwelt voran, und der Triumphator schloß, wie in Rom, den Zug und erschien erst anno 1797. Erst nach Abspielung des ganzen Stücks ruft das Parterre der Welt: Autor vor!« - Er ließ sich weiter heraus über die Absicht,
weswegen er mir im Weingeist erschienen sei, nämlich bloß um mich zu benachrichtigen, daß ich vielleicht aus einem geheimen Zuge seinen von Schmutz und Kirchenstühlen überbauten Leichenstein hervorgezogen und im Pantheon des Nachruhms aufgestellt, weil er mein Verwandter, und zwar mein Urur etc. großvater von mütterlicher Seite wäre, und aus den Wittenberger Kirchenbüchern könnt ich mir den Stammbaum extrahieren lassen. - Ich wollte den Spiritus-Schwimmer unterbrechen; aber der Wassermann fuhr
fort: »er versehe sich besonders von seinem Urur etc. enkel, daß solcher die 12te Holzplatte mit besonderem Feuer vertiere und illuminiere, denn diese hab er stets am meisten geliebt, am längsten befeilt: und das bloß darum, weil die Platte die Feier seines 34sten Geburtstages, der in den Frühlingsanfang traf, mit der Pantomime des Buchsbaums darstelle. Ja im Turmknopf der Höfer Michaelis-Kirche sei ein scharfer, nie gebrauchter Stempel dieser Platte statt einer alten Münze niedergelegt und
aufgebahrt, aus dem ein Urur etc. enkel tausend Sachen schöpfen könnte, die der Welt zu geben wären.« - Aber hier zerfloß mein Urur etc. großvater phosphoreszierend in seinem Weingeist - als wenn er lebte - und entzündete den rektifizierten Spiritus mit seinem sublimierten, und die ganze Flasche brannte lichterloh....
Ich erwachte, und bloß meine Nacht-Sparlampe flackerte ungewöhnlich vor mir.
Wie entsiegelt die Philosophie diesen plombierten Traum, diese hermetisch
verpetschierte Phiole? - Manches ist natürlich und erklärlich darin: da ich gerade heute meinen eignen Geburtstag begehe, so konnte die Phantasie des Traums, die gern rochiert und versetzt, leicht meinen Urur etc. großvater an die Stelle seines Urur etc. enkels verpflanzen. Ferner, da der Ururenkel glaubt, es gebe kein besseres Denkmal eines frohen Prima-Tages als eine Arbeit, die man daran tut - welches zugleich für eine schönere Danksagung an den väterlichen Wächter unsers
zerbrechlichen Daseins gelten kann als bloße, bald erkältende Rührungen -; und da ich deswegen gerade heute das 12te und helleste Stockwerk in Krönleins Leben (die 12te Platte) ausbauen und möblieren wollte: so kann der Psycholog auch darin nichts Übernatürliches verspüren, daß mir gerade für den heutigen Initial-Tag der im Weingeist konservierte Ururgroßvater anbefohlen, sein zwölftes Lebens-Stockwerk zu tapezieren.
Aber schwerer sind dem Psychologen die übrigen Auftritte des Traums
ungezwungen aus der Ideen-Epigenesis und Kristallisation zu erklären: ich bekenne mein Unvermögen. Es kann sein, daß ich irgendwo und irgendwann in frühesten Jahren etwas von einem Krönleinschen Stempel im hiesigen Turmknopfe und von meinem Ururgroßvater im Wittenberger Kirchenbuche aufgefangen und behalten habe: in jedem Falle, der Traum sei nun aus kindlicher Tradition oder aus unerklärlicher Inspiration erwachsen, ist er glaubhaft und schwer zu verwerfen. Ich für meine Person sage dem ganzen
18ten Lesejahrhundert, das mich geborgt oder gekauft, frei voraus, daß ich, wenn ich das zweitemal Wittenberg beziehe, weder in seiner Löffelkirche noch in der Kehle ihres Taufengels, sondern bloß in den Kirchenbüchern graben und grübeln werde, um hinter meine Aszendenten mütterlicher Seite zu kommen. Ebenso würd ich, wärs von der Inspektion der Höfer geistlichen Gebäude herauszubringen, daß man meines Traumes wegen den Wilsonschen Knopf und Kropf des Michaelis-Turms abnähme und aufmachte, um
die Öffnung nachsuchen; es ist aber nicht zu erhalten. -
Dem sei, wie ihm ist: ich übermale den Geburtstag meines guten Ururgroßvaters, der heute mit mir, wiewohl in einem andern Jahrhundert, das 35ste Jahr antrat, nach Maßgabe des 12ten Holzschnittes mit den besten Goldfarben und feiere sein Leben nach.... Es ist eines Ururenkels Pflicht der letzten Ehre. Das kann überhaupt kein guter Mensch sein, der nicht gern mit kindlicher Liebe und Freude der Archivsekretär und Altertumsforscher
seiner Ahnen und ihrer Antiquitäten wird. Und wüßt ich nur die Häuser anzutreffen, worin meine Aszendenten bis zu den von Tacitus beschriebenen hinauf sich gefreuet und betrübet haben, ich wallfahrtete zu ihnen allen wie zu Gnadenkirchen, zu casa santas und Mirakulatorien zu Zürch; ja ich würde darin unter den sanften Wallungen der Liebe meine kalten Ahnen-Schatten zum Repetierwerk und Nachspiel ihres ausgespielten Lebens nötigen und ihnen mit dem wehmütigen Wunsche zusehen: »Möget ihr nicht
viel beim ersten Spiele gelitten haben, und mög euch die Hoffnung eines liebenden Urenkels zuweilen begegnet sein!« - -
Aber weiter! Wer Danz Grundsätze der Reichsgerichtsprozesse, oder noch besser, wer Wetzlar selber durchgegangen, dem ist bekannt genug, daß die evangelischen Kammergerichtsassessoren, Pronotarien, Fiskalnotarien, Ingrossisten und Kopisten und die reitenden Boten und die zu Fuß samt dem 1 evangelischen Medikus und dem 1 Pedell alle Feiertage
reichsgesetzlich mitfeiern (d. h. zu Ferien machen), welche die katholischen Kammergerichtsassessoren, Pronotarien, Fiskalnotarien etc. samt dem katholischen Medikus und dem Pedell begehen; und diese erwidern die evangelischen Ferien. Sogar den darauf folgenden Tag feiern beide Religionsparteien einmütig unter dem Namen Postfest. Das Reich will dadurch die Parität der Religionen bewachen. Die größte Parität und Toleranz aller Religionen aber bleibt Höfen: keine Feiertage europäischer
Religionen fallen ein, die man da nicht begeht, erstlich mit dem Kammergerichte die reichsgesetzlichen samt den Postfesten, mit den Christen den Sonntag, mit den Juden den Schabbes, mit den Türken den Freitag. Nimmt man noch dazu, daß jeder heilige Tag seinen Vigilien- und Rüsttag vorher und sein Postfest und Sabbatchen nachher fodert: so langt gerade (wenn man mit den Stunden haushält) eine Woche zum Feiern zu, und der Latitudinarier hat in der andern zu den neuen sieben unbeweglichen Festen
wieder Zeit. Ein solches ausgebreitetes Religionsexerzitium ist überdies recht für diejenigen Posten im Staate gemacht, die nicht nur in der Höhe, sondern auch darin den Alpen gleichen, daß auf ihnen die kleinsten Bewegungen ungemein ermüden. -
Aber weiter! Erst die Bettmeisterin wurde die Ruhestatt unsers Artisten - sein Salzrevisorat war eine Salzlecke für ihn - und hier sehen wir ihn erst nach vielen Umwegen, Kurven, Krümmungen und Krummstäben im Sitze der
Seligen angelangt: das Schicksal führet nach der britischen Gartenregel uns auf krummen Alleen und Steigen in das Landhaus der Freude. -
Auf dem weimarschen Blatt hält der Intendant an der Rechten sein Söhnlein, das durch seine Adern und Bestandteile aus Lettern mir über die dunkelsten Stellen dieser Platte die Fackel vorträgt. Schon der Gedanke des Künstlers ist reizend, seinem Kommentator zum Wegweiser und Cicerone in seinem Miniatur-Himmel ein Kind mitzugeben. Diese
verkleinerten lieben anfangenden Menschen schlüpfen mit ihren sichtbaren Knospen und weichen Dornen so sanft in unser Herz und halten sich darin mit ihren kleinen Händen fest, daß ich die Diminutiv-Schuhe und Zwerg-Strümpfe dieser Inzipienten des Lebens nicht ohne eine liebende warme Rührung sehen kann. Berichte also nur, kleiner Gerg, was dein Vater hier auf dem zweiten Freudenstock teils vornimmt, teils darstellt! - Wo ein Kind ist, da schonen die Menschen gern die Eltern.
Das sagt die Natur allen Völkern: der malabarische Straßenräuber fället keinen Reisenden an, den ein vornehmes Kind eskortiert. und die alten Molossier schlugen dem, der mit einem Kinde im Arm sich flehend niederwarf, keine Bitte ab; und noch spricht in Italien die Verarmte unter dem Schleier schöner um eine Gabe an, indem sie ein Kind vorhält.
Der kleine Gerg, dessen Deszendent ich bin - er ist mein Urgroßvater -, tut kund, daß mein Ururgroßvater hier vor Tisch bete und daß er selber der kleine am Tisch stehende Junge sei (die Eltern sitzen schon), dessen Enkel ich, wie gesagt, nach dem Taufscheine des Traumes, bin. Schon in meiner Kindheit, da ich noch die Legende oder Randschrift dieser Platte auswendig lernen mußte, ging meine Phantasie vergnügt in dieser gezeichneten Stube auf und ab und
stieß ihr Fenster auf, dessen Flügelscheiben wie in Jena auswärts laufen. Und diese kosmopolitische Phantasie, die alle Menschen in meine Gevatter, Gebrüder, Geschwister, Zech- und Schmaus-Schwestern und Brüder, Konviktoristen und Litis-Konsorten verwandelt, geht noch bis auf diesen Geburtstag mit mir durch die Gassen und Dörfer. Ich wollt auch lieber sterben, als mich mit dem dünnen engen, keinen Grad langen Bogensegment von geliebten Menschen behelfen und beruhigen, das uns Schicksal und Wert
aus dem unermeßlichen Zirkel der Gebrüder Menschen ausschneiden. Oder darf ein Menschenherz so enge sein, daß nichts darin aufzustellen ist als ein Ehebette und eine Wiege samt einem alten Großvater-Stuhl? Und die Arme des innern Menschen sollten nicht mehrere Wesen umschließen als die Arme des äußern? Und es sollte keine Möglichkeit vorhanden sein, die Komitee oder den Ausschuß von 20 oder 30 Menschen, worauf unser Verhältnis bei dem Reichtum von 1000 Millionen Seelen unsern liebenden Anteil
einengt, wenigstens ansehnlich zu verstärken? - - Das find ich nicht: kann man denn nicht (es ist doch etwas) sich auf der Gasse zum Spill- und Schwertmagen und Vetter eines jeden, dem man begegnet, ernennen und jedem mit der Phantasie zwischen seine 4 Pfähle, auf seine 4 Stuhlbeine und in seine 4 Bettpfosten nachfolgen? Kann man nicht mit den Blau- oder Grünröcken, die mit Kommißbrot unter dem Arm vom Proviantbäcker herkommen, und mit dem Tuchmacher, der an einem so einträglichen Markttag sich
schon um 3 Uhr seinen Karpfen im Fisch-Hamen abholt, und mit dem vornehmen Schlafrocke, der sein Gartenbeet unter Aussichten eines erfrischenden Salats übersprengt, ungeladen und fröhlich essen im Kopfe und sympathisieren? - Geh ich wohl vor einem geputzten Lehrjungen, der heute Hoffnung zur Gradual- und Promotions-Ohrfeige hat und der mir morgen als vollendeter klassischer Lehrpursche begegnen wird, jemals vorbei, ohne mich mit ihm (phantasierend) zu seinem wohllebenden Abendgelag und Lustcorpo
einzufinden? Ich freue mich mit den Kindern, die aus der Schule herausbrausen, auf die erste Erholungsstunde nach einer so langen Sitzung; - mit dem gravitätischen Kindesvater auf den lärmenden Abend voll apokryphischer Taufwasser - mit der Magd auf das aus der Kirche zurückmüssende Taufgefolge zur genauern Kirchenvisitation eines jeden Lappen; - mit dem Schulmeister, der ein entsetzliches Dividierexempel anschreibt, das zuletzt durch Ziffern ein Haus, ein Schiff oder einen Esel geben soll, freu
ich mich auf die Entwickelung des Letztern; - mit der Fratschler- und Pfeffernuß-Frau, deren Sparofen, tragbare Küche und petit souper immer ein Topf ist, tret ich im Vorbeigehen in Handelskompagnie und bringe (in Gedanken) als ihr Associé und Maskopist schon einiges vor mir, wenn unsere Handlung nur 1 Pfennig reinen Profit von dem zurücklegt, was ich der Frau abkaufe - Und so laufen mir auf jeder Gasse Freudenströme und Paradiesflüsse entgegen - Lustwälder und Glückstöpfe tanzen vor
mir hin - und die Stadt Hof ist mein himmlisches Jerusalem und die Menschheit meine Duz- und Amtsbrüderschaft.
Nur hüte sich ein solcher Seliger, die Augen oder Phantasien einem aufstoßenden Exekutions-Pedelle in die Arbeitsstuben der Armut, oder einem Arzte in die Marterkammern der Krankheit nachzuschicken....
Aber weiter! Hier wird, wie gesagt, der zweite Freudenstock dem Leser aufgetischt, und auf dem Stock ist es gleichfalls aufgetischt. Es soll alles, nach Anleitung
meines Wurfbleies und meiner Leuchtkugel - nämlich des kleinen Lettern-Gergs -, besehen und beschrieben werden. Der Eßtisch ist ein zweischläfriger sogenannter Bettisch: das beweiset nicht nur die untere Tisch-Gardine, sondern auch der herrliche Faltenwurf und das Segelwerk des Bettfirmaments oder Palankins, womit der Gevatter Serenissimus meinem Ururgroßvater ein kleines Angebinde und zugleich ein Angedenken an seine Bettmeisterei - und vielleicht an den Kasus im 10ten Gebot - hat geben wollen.
So sagt Gerg. Hinter Gergen selber steht auf der Platte seine Spielkameradin, eine demütige niedergequetschte Lazarussin, die der wohltätige Künstler an einem so frohen Tage in die Tischnachbarschaft seines Sohnes gezogen. Ihr Hunger ist größer als ihre Andacht, und die Bewegungen ihres Herzens sind nicht so feurig als die peristaltischen ihres Magens. Gerg, der in reifern Jahren mein Urgroßvater wurde, hebt die betenden Hände zu hoch hinaus, weder aus Andacht noch Ziererei, sondern weil er
einmal, wie es Kinder machen, ein Bischof in partibus werden will und deswegen jeden Sonntag diesen Bett-Tisch besteigt und da herab ermahnt. Daher wurd er im ganzen Krönleinschen Hause nur der kleine Bischof genannt.
Nun schaue das Publikum meine Ururgroßmutter an, die Ex-Silberdienerin. O Regine, wärest du immer die Königin deiner Neigungen und treu und gut geblieben, so hättest du nicht nötig, meinen Ururgroßvater mit solchen abbittenden Blicken, mit diesem mehr
ihm als dem Himmel zugewandten Haupte anzusehen! Welche Flamme der Geburtstags-Wünsche! »Lieber Himmel! er halte mir meinen alten ehrlichen Bettmeister noch auf lange lange Jahre; raffe lieber mich weg als den Lorenz!« das betet sie vor der Suppenschüssel. - Besser, tausendmal besser als auf den vorigen Stöcken, das ist sie gewißlich auf diesem. Erstlich ist nur - ein Kind da. Zweitens ist mein kleiner Urgroßvater und das Tischbette so sauber angeputzt, der Vorhang so rein abgestaubt
und niedlich aufgebunden und das ganze Zimmer und Gedeck in solcher Ordnung, daß die gleiche des Herzens dadurch so gut wie bewiesen ist: in den Herz- und in den Stubenkammern räumen die Weiber miteinander auf. Drittens sieht mein Ururgroßvater ungemein fröhlich, und die Großmutter wie eine bereuende Magdalene aus: sie hat ihn - so leicht ihrs gewesen wäre - nicht einmal beredet, außer der pauvre honteuse und Pfründnerin einen Gast oder Gastfreund ihres Herzens zum Schmause zu laden, oder nur
einen lustigen Menschen und Schmarotzer, der dem andern so lange redlich anhängt und dient, bis er sich angefüllt, wie Schröpfköpfe von selber abfallen, wenn sie Blut genug gezogen. So wie meine Ururgroßmutter ihren Mann hier ansieht, tritt sie immer höher über jene Weiber hinauf, für welche die Hochzeitglocke gerade das Widerspiel des katholischen Wandelglöckchen ist und denen jene Glocke die Verwandlung des Gottes in einen Brotherrn ansagt, indes diese
die Transsubstantiation des Brotes in einen Herrgott verkündiget.
Ich bin darauf gefasset, daß die Rezensenten - und vorzüglich die Rezensentinnen - mir öffentlich vorwerfen: ich würde in der 12ten Platte Reginen ganz anders zensieren, wäre sie nicht meine Ururgroßmutter. Aber ich versetze: umgekehrt.
Auf dem Bettisch treffen wir zwei Couverts für das Kinderpaar, aber nur eines an für das Ehepaar. Wie hold! Schon Linné erzählt in seinem schwedischen
Reisejournal , daß man sonst in der Provinz Schonen einen Teller, so lang als die eine Tafelseite, ausgehobelt und daß man aus ihm - es konnte sich kein sonderlicher Unterschied zwischen dem prolongierten Teller und einem Troge ergeben - zu schmausen pflegte. Noch bekannter ist und noch schöner dazu, daß in der schönen erotischen Zeit der französischen Ritterschaft allzeit Geliebte und Ritter aus einem Teller aßen. - Und auf dem 2ten Freudenstock haben wir den neuesten Fall: meiner
Ururgroßmutter fehlt der Teller. Vom Speisopfer selber ist nichts herauszubringen als die Suppenschüssel und ein Vorleglöffel, der für mich eine Suppenschüssel wäre, und eine Semmel in Gestalt einer Brille oder 8.
Jetzt sehe man aber meinem kraushaarigen Intendant des lits et meubles noch einmal ins offne beglückte Gesicht und behalte, wenn das Buch aus ist, die aufrichtige Gestalt im Kopf, die wie ein Wiener Bankozettel außen nichts hat als was innen steht. Er verrichtet hier mit der
Mütze über der rechten Hand sein Dankgebet ganz aufgeräumt; er setzt immer voraus, er hab es nächstens noch besser, und wenn nichts daraus wird, hofft er gerade noch einmal so viel. Er hält das Leben und die Gesellschaft nicht für ein Whistspiel, bei dem eines verkehrten Blattes wegen neu gegeben werden muß, sondern für ein Piquetspiel, worin man das verkehrte Blatt ruhig nimmt und bestens ausspielt. Ihm ist Einsamkeit und Gesellschaft recht, ja nicht einmal unter der Menge ist er einsam, worin
man sonst am wenigsten Gesellschaft hat, wie man auf dem Meere am leichtesten verdurstet.
Was wird mein guter Ururgroßvater nach dem Essen an einem solchen Tage gemacht haben? Wahrscheinlich diesen zweiten Freudenstock. Dann wird er, vermut ich, mit meinem Urgroßvater nicht lange vor dem Abendessen ein wenig ins freie grüne Feld gegangen sein, um sich den zweiten oder dritten Appetit zu machen und überhaupt um den Zucker eines solchen frohen süßen Tages immer
dicker einzusieden und zu raffinieren. Er hat meinen Beifall, daß er auf den sogenannten Kirchberg (man sieht ihn und den Turm und einen Flügel von der Kirche recht gut aus der 12ten Platte) mit den beiden Kleinen wallfahrtet: dort auf dem Berge kann er die Sonne, die den ersten Frühlingstag vorübergeführt und verschönert hat, am schönsten und mit höhern und erhabnern Seufzern, als die tiefe Bühne verdient, hinter diese fallen sehen. Vom Kirchberge gleichsam über die gesunkne Sonne getragen,
konnt er leichter über das nachdenken, was dieses Theater und unsere Rolle und die fünf Akte eigentlich sind - was besonders der Johannis-Beerwein der hiesigen Freude ist, der, wie physischer, weder durch einen Weinheber noch Zapfhahn läuft, sondern aus einer engen Federspule rinnt und den man auf der Freiredoute des Lebens in die Körpermaske wieder mit einer Federspule auftrinkt. - - Letzteres passet auf einen Schreiber wie ich noch mehr, weil für ihn immer nur
Federspulen (eigne und fremde) die Saugestachel und Stechheber des Palmsekts und Glühweins des Lebens sind. Du konntest auf dem Kirchberge, zumal nach Sonnenuntergang, den Diameter deiner Vergangenheit, die zum Punkte der Gegenwart einkroch, übermessen und den ganzen weiten Nebel deiner Zukunft gleichfalls in diesen Punkt, in diesen Tropfen zusammendrücken und dein Ich gleichsam für eine feste Ewigkeit ansehen, an der die Zeit zerschmilzt - - O hast du das alles getan, nämlich gedacht? Hast du
erwogen, daß die irdischen Buchdruckerstöcke und Anfangsleisten und Finalstöcke unserer hiesigen Taten bald zerbröckeln, aber nicht der Geist, der sie gebraucht, und kein Gedanke, den sie reflektieren, und daß du, verstäubter Formschneider, für eine höhere Hand selber ein Formbrett bist? - hast du untergesunknes Geschöpf an diesem Tage und auf diesem Berge nicht bloß auf deinen jetzigen Hafen der Erden-Ruhe, dessen Sperrketten dein guter Genius zersprengte,
sondern auch auf die Goldküste des verhüllten Otaheite frohe Blicke geworfen, an das uns die irdischen Orkane und Wogen antreiben? - -
Aber du bist nun auseinander, oder vielmehr das Formbrett deines Leibes ist es - die Zeit hat dich, wie mein Traum, in ihrem Spiritus-Stundenglas geschmolzen - allein hab ich nicht jetzt selber über deinen Geburtstag meinen vergessen und der Leser seinen? Und haben wir daran gedacht, daß alle unsere Entzückungen und Hoffnungen nur
erquickende Töne sind, die uns im hiesigen absterbenden Leben umfließen, wie den Menschen, wenn ihm alle Sinnen brechen, oft Harmonien umringen, die nur dieser bleiche hört, damit vor ihm zugleich die Erde und der letzte Wohllaut hold-verbunden auseinanderzittern?