Frei Lesen: Das Kampaner Tal

Kostenlose Bücher und freie Werke

Kapitelübersicht

Vorbericht | 501. Station | 502. Station | 503. Station | 504. Station | 505. Station | 506. Station | 507. Station | Erklärung der Holzschnitte, unter den zehen Geboten | IX. Holzplatte des neunten Gebots | X. Holzplatte des zehnten Gebots | XI. Erster Freudenstock | XII. Zweiter und letzter Freudenstock |

Weitere Werke von Jean Paul

Biographische Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin | Museum | Der Jubelsenior | Der Komet | Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf |

Alle Werke von Jean Paul
Diese Seite bookmarken bei ...
del.icio.us Digg Furl Blinklist Technorati Yahoo My Web Google Bookmarks Spurl Mr.Wong Yigg


Dieses Werk (Das Kampaner Tal) ausdrucken 'Das Kampaner Tal' als PDF herunterladen

Jean Paul

Das Kampaner Tal

505. Station

eingestellt: 26.7.2007

Die Ephemere - über die relativen Schlüsse - Zweifel gegen die Länge der Wesenleiter - der Warzenfresser - die Kur

Die Sonne und das Tal fasseten uns mit lauter Brennspiegeln ein - und es war überhaupt gut, sich ein wenig satt zu sitzen und satt zu essen - und da gerade uns gegenüber ein Marmorbruch und dicht an der eisernen Felsenwand eine saftgrüne Trift und neben uns eine Ulmen-Gruppe um ein gleißendes vereinzeltes Häuschen war, so hielten wir darin um so viel Konsumptibilien an, als ein flatterhaftes sattes Quintett bedarf. - Die Frau vom Häuschen war allein (der Mann arbeitete wie die meisten Kampaner in Spanien) - vier Kinder trugen zu - es ging - unser Taschen-Eiskeller wurde aufgetan und damit die Seele erhitzt und der Magen gekühlt - der weißglühende Schlußstein des himmlischen Gewölbes weckte mit seinen Flammen den Mittagswind, der auf den kalten Gipfeln der Pyrenäen schlief. -

Dem armen Phylax schmeckte wenig oder nichts, ihm war daran gelegen, zu beweisen, daß er fortdauere. Glücklicherweise waffnete ihn der französische Wein immer besser gegen das französische System, und er fragte bei dem Baron höflich an: »Ich glaube dem Herrn Rittmeister noch manche Beweise der Unsterblichkeit schuldig zu sein: ich wünschte sie abtragen zu dürfen.« - Wilhelmi wies ihn an Gionen: »Hier fragen Sie!« Gione bewilligte die Bitte gern: »Warum sollen nicht Erinnerungen der Unsterblichkeit unsere Freuden ebenso verzieren als Sarkophage englische Gärten?« - Nadine warf die Frage dazu. »Wenn aber die Männer über die Hoffnungen der Menschen hadern: was bleibt den Weibern übrig?« - »Ihr Herz und die Hoffnungen, Nadine«, sagte Gione. »Die Eule der Minerva«, sagte lächelnd Wilhelmi, »soll wie andere Eulen Untergehen ansagen, wenn sie auf eine Dachung fliegt; ich hoffe aber, es ist nichts daran.« Ich setzte dazu: »An den Obeliskus der Unsterblichkeit ist ja das Leben aller unserer Geliebten, wie an Ramesses seinen , gebunden, damit die Gefahr die Kraft verdoppelt, und sie werden zerschmettert, wenn er zurückstürzt.«

Karlson hatte unterdessen von der nächsten Ulme eine feste Eintagsfliege gezogen, die sich daran eingeklammert, um die letzte Haut, den letzten Über-Körper vor dem Tode abzuwerfen. Die Ephemere sollte nicht ein Sinnbild unserer Vergänglichkeit, sondern unserer Entfaltung sein, da sie, wider die Art aller Insekten, sich noch einmal nach allen Verwandlungen, und schon mit Flügeln geschmückt, noch vor dem Sterben umkleidet. Er hielt sie uns vor und sagte: »Eine philosophische Eintagsfliege muß meines Erachtens so philosophieren: wie? ich sollte alle meine Entwicklungen vergeblich auf der Erde durchgelaufen sein, der Schöpfer hätte keine Absicht dabei gehabt, mich aus dem Ei zur Larve zu rufen, dann aus dieser zur Nymphe zu erheben und endlich zu einem fliegenden Wesen, dessen Flügel noch vor dem Tode einen vorletzten Überzug und ein Gehäuse sprengen, bei dieser langen Reihe von geistigen und körperlichen Entwicklungen hätte der Schöpfer nichts zur Absicht gehabt als ein sechsstündiges Sein, und die Gruft wäre das abhängige Ziel einer so langen Bahn?«

»Ihr Beispiel« - versetzte glücklich der Kaplan - »beweiset nur gegen - Sie: es ist ja eben petitio principii, bei der Ephemere die Sterblichkeit vorauszusetzen.«

Ich gestehe dirs, ich bin überhaupt relativen Schlüssen wie dem vorigen feind, weil sie der Wahrheit gerade so viel Abbruch tun als der Beredsamkeit Vorschub. Denn man kann damit gerade entgegengesetzte Sätze beweisen. Einen, den ein Sandkorn im Auge drückt, überführ ich, daß er sowohl glücklich sei, da es auf der Erde Leute gebe, die an Blasen-Sandkörnern und Gries und an Höllensteinen leiden, als auch unglücklich, da sultanische Augen nichts Härteres drücke als etwan zirkassische Augenwimpern oder zwei rosenrote Lippen. So mach ich die Erdkugel nicht nur groß - in Vergleichung mit Schnellkügelchen, Zibeth- und Giftkugeln und Bouillonkugeln -, sondern auch klein, wenn ich den Jupiter, die Sonne und die Milchstraße darnebenstelle. Wenn die Ephemere auf der Wesenleiter den glänzenden Entfaltungen der Wesen über ihr den Rücken kehrt und den unscheinbaren auf der restierenden Leiter unter ihr nachzählt: so schwillt sie wieder auf. Kurz unsere oratorische Phantasie hält überall den Unterschied von Mehr und Weniger für einen des Etwas und Nichts. Aber jedem relativen Unterschied muß etwas Positives zum Grunde liegen, das aber nur unendliche Augen rein abwiegen, die die ganze Reihe der unübersehlichen Stufen messen. Sogar etwas körperliches Großes muß es geben, und wär es am Ende die Welt: denn jede Vergleichung, jede Messung setzt ein unwandelbares Maß voraus. - Also ist die ephemerische Entwicklung eine wahre, und die Schlüsse aus jener sind völlig dieselben aus einer seraphischen: der Unterschied des Grades kann nicht entgegengesetzte, sondern nur relative Schlußfolgen gebären.

- Und hier will ich nur brieflich - denn gedruckt unterständ ichs mich nie - einen Zweifel bekennen. Die Sprossen der Wesenleiter über unserm Kopfe hat noch niemand gesehen, die zu unsern Füßen keiner gezählt: wie, wenn jene kleiner, diese größer wären, als man bisher dachte? Die unendliche Standeserhöhung der Geister von Engel zu Erzengel, kurz die neun philosophischen Hierarchien sind noch nichts weiter geworden als - behauptet, aber bewiesen nicht. Der gewöhnliche Beweis, daß eine Gebirgskette geistiger Giganten den Abstand vom Menschen zum Unendlichen füllen müsse, ist falsch, da ihn keine Kette verkürzt, geschweige füllt; die Kluft behält immer dieselbe Weite - und der Seraph - d. h. das höchste endliche Wesen nach menschlichem Sprachgebrauch - muß sich ebenso viele, wenn nicht mehrere Wesen über sich denken als ich mir unter mir. Die Astronomie - diese Säemaschine der Sonnen, dieses Schiffswerft und Laboratorium der Erden - schiebt uns die Verdoppelung der Welten und Wesen als eine Veredelung derselben unter. Aber am ganzen Himmel hängen nur Erdschollen und Feuerklumpen, und alles ist darin von Milchstraße zu Milchstraße kleiner als der Wunsch und Wuchs in unserer Brust. Warum soll denn unsere Kugel allein, warum nicht jede andere im Steigen sich befinden, warum soll der Vorlauf einer Inaugural-Ewigkeit (a parte ante) ihnen mehr als uns zustehen und zufallen? Kurz, es lässet sich disputieren, Viktor, ob es im vollen All andere Cherubim und Thronen gibt als Viktor und Jean Paul. - Es ist mir selber kaum glaublich; aber die melodische Fortschreitung zu sublimierten Wesen hinauf wurde bisher doch wahrlich nur - angenommen; ich glaube an eine harmonische, an ein ewiges Steigen, aber an keine erschaffne Kulmination....

Ich vermute, Karlson wollte mir antworten - nicht über die Seraphe, sondern - über die Eintagsfliegen, als Nadine, die von ihm sich die Ephemere hatte leihen lassen, diese zu nahe vor das Auge hielt und dadurch unser mendelssohn-platonisches Kolloquium dämmte und störte. Denn Madame Berlier - so vornehm schrieb sich unsere flüchtige Haus- und Gastwirtin - trat vor Nadine und sagte: »Es ist schade für den Schmerz; Sie müssen die Warzenheuschrecke nehmen: ich habe Proben.« Verstehest dus? - Es ist so: der sogenannte Warzenfresser - eine Heuschrecke mit brünetten Flecken - nimmt die Warzen durch einen einzigen Biß darein in kurzem weg; Frau Berlier, über die, wie über alle südliche Insassen, die Schönheit eine größere Gewalt als Geschlecht und Eigenliebe hatte, war im Irrtum gewesen, Nadine wolle ihrer reizenden Gestalt mit der Fliege den letzten Flecken nehmen. - Kaum hatte der Hauskaplan etwas vom Warzentöter vernommen, als er sich ins Grün verschoß und eine Vorjagd nach Warzenheuschrecken antrat. Ich ärgerte mich, daß ich das Heilmittel so gut gewußt wie die Frau und daß mirs nicht eingefallen war; aber zu einem lumpigen Gleichnis hätt ich mich recht gut auf das Mittel besonnen, nur zu keiner nützlichen Kur. Sein Glück erlaubte, daß er in kurzem mit einem geflügelten Warzen-Operateur wiederkam: er erregte meinen Neid. Als er ihn hingab in Nadinens Hand: hatte der eilfertige Phylax mit dem Brief- und Papierschwerer seiner Faust gleichsam in einer guten Glanzpresse den braungefleckten Gewächsschneider aus Versehen - totgeplätscht: das Kerbtier konnte in nichts mehr beißen. Ich lief sogleich nach einem zweiten Warzenfresser herum und sprang einem solchen Springer nach. Endlich bracht ich einen an den Flügelspitzen gefasseten und zappelnden getragen und sagte, ich wollte den kleinen Dentisten so lange über der Warze halten, als er operierte und bisse. Unter dem Aktus pries ich meine Tat. »Jede große Handlung«, sagt ich, »wird nur in der Seele in der Minute des Entschlusses getan - tritt sie heraus und wird vom Körper nachgespielt, der die Heuschrecke hält, so zerspringt sie in unbedeutende kleine Bewegungen und Terzien - aber wenn sie getan ist, wie hier der Biß, so wird sie wieder groß und strömt wachsend durch die Zeiten. So wirft sich der Rhein wie ein Riese von seinem Gipfel, zerreißet in Nebel, kömmt als Regen auf die Ebene, dann wächset er aus Wolken zusammen und zieht durch die Länder und trägt Sonnen statt der Regenbogen.«

Es braucht vor dir nicht verhehlt zu werden, daß michs angriff, da ich in zwei so lichte warme, gegen mich aufgetane Augen bis auf die Retina hineinschauen mußte, wobei ich des ganzen andern Kriegsschauplatzes von Locken und Lippen und Stirnen und der Waterloos-Landschaften der Wangen nicht einmal gedenke. Nadinens Ängstlichkeit vor den Zähnen des braunen Medikasters machte sich noch reizender und die Gefahr meiner Lage noch größer. Nach langem Halten, als ich dachte, die Operation sei schon vollendet, vernahm ich von ihr, die Heuschrecke habe gar noch nicht angebissen, weil ich sie drei oder vier Pariser Fuß zu weit von der Warze weghielt. Es ist wahr, ich hatte mich in ihre Netzhäute vertieft; aber es war noch wenig bemerkt worden, daß die Kur nicht zu vollenden sei, wenn ich nicht den Ballen der rechten Hand ein wenig auf ihre Wange aufsetzte und aufstemmte, um mit dem Warzenfresser fester über der Warze zu halten. Jetzt biß er die erfoderliche Wunde und ließ soviel von seinem korrosivischen Ätzmittel hineinlaufen, als er bei sich hatte. Ich lenkte Nadinens Schmerzen, die dem von einem Nadelstich beikamen, künstlich ab durch Philosophieren: »Der Mensch«, sagt ich, »findet die stoischen Trostgründe gegen alle Schmerzen wahr und stark; nur gerade gegen den jetzigen nicht; und wenn er aus Stichwunden blutet, denkt er, Quetschwunden schließen sich leichter. Daher verschiebt er den Besuch der stoischen Schulstunden, bis seine Kreuzschule zugemacht sein wird. Ach aber dann steht man und wartet am Strome und will nicht eher hinübergehen, als bis er vorbeigelaufen ist. Wahre Standhaftigkeit hingegen steht gern den Biß der Heuschrecke aus und freuet sich über ihre Erprobung.« -

Dann war die Kur glücklich überwunden, die aber in mir leicht zu einer Krankheit umschlagen konnte. Gewiß ist, daß ihr nahes Gesicht mir eine größere Wunde machte als ich ihm durch den Warzenfresser. Ich würde besorgen und untersuchen, ob ihr nicht das meinige, das ebenso nahe war, ebensoviel Schaden getan habe, wäre nicht Nadine - auf das lass ichs ankommen - außerordentlich jung: das Herz junger Mädchen lässet wie neue Wannen und Butten anfangs alles durchtropfen, bis es die Gefäße durch Schwellen behalten. - -

< 504. Station
506. Station >



Die Inhalte dieser Seite sind Eigentum der Öffentlichkeit.
Sollten trotzdem Urheberrechte entgegen unserem Wissen verletzt worden sein, bitten wir Sie mit uns Kontakt aufzunehmen.