Jean Paul
Der Jubelsenior
Fünfter offizieller Bericht
eingestellt: 30.7.2007Morgenmilch der Freude - Kirchgang - die funfzehn Strophen oder Stufen der Himmelsleiter - Weissagungen - Predigten - die Landkarten - der Buchdrucker - über das Schnupfen der Weiber - Goldschleien - neuer Akteur - Ende mit Schrecken und Freude
Den Kunstrichtern, die ihren Eiszapfen als einen Feuermesser an meine und andere Sonnen legen, wie Lavoisier und de la Place aus wahrem Eise Pyrometer machen, steh ich nicht dafür, daß ich
mit dem Zentralfeuer, das ich in diesem Kapitel anschüre, nicht ihren Calorimetre und sie gänzlich zerstöre. Ich beleidige ihren Stolz, daß ich ihnen keine Langweile mache - denn moralisch und physisch sind Ausdehnen und Gähnen beisammen -; allein ich muß darhinter sein, daß ich mir einen ewigen Namen erschreibe; das brauchen sie hingegen nicht. Die gelehrten Zeitungen sind, gleich den politischen, Monatskäfer, nämlich Mai-, Junius-, Juliuskäfer, und können nicht schnell
genug einander erstatten durch Nachwuchs; ihr längstes Leben ist vor ihrer Erscheinung, und man kann fünf Jahre lang von einer Rezension sprechen, die man - erwartet: ist sie heraus, so lebt sie noch einen Monat. So wühlt z. B. der Maikäfer unter dem Namen Engerling als Larve fünf Jahre unter der Erde und Saat; steigt er entpuppt, und fliegend heraus, so frisset er noch einen Monat, und dann ists um das Kerbtier getan. - Ich hingegen bin auf eine der längsten Unsterblichkeiten aus, da
die körperliche Sterblichkeit jährlich so wächst. Man rennt jetzt so schnell durch die kurzen Jahre, daß man kaum Zeit hat, im Laufe seinen Namen an eine Buchhändlertüre oder auf einen Leichenstein anzuschreiben: vom Autor und der Tugend bleibt selten mehr übrig als der Name. Noch besser und feuriger aber würd ich geschrieben haben, wär ich wirklich dahin gezogen, wo ich mich einmal ansiedeln wollte - nach Paris: dort hat man nicht Zeit, sich durch drei Meisterstücke zu verewigen, durch
eines muß man es erringen, weil dort die ewigen Freudenfeuer des Genusses den Lebensfaden versengen und die Guillotinen ihn zerschneiden, besonders als Robespierre über das Land mit dem Kometenschweif ging und ihnen jährlich fünf Festtage und David Schirmerischen Wanzentod zuwarf, so wie der Komet Whistons aus seinem Schweif Schwaden und Sterblichkeit und fünf neue Tage über die Jahre der Menschen schüttelte.
Und eben diese Kürze des sterblichen Lebens, in der man das
unsterbliche erangeln muß, sollte für mich (so scheint es) bei Rezensenten das Wort reden und es exkusieren, daß ich nicht nur so viel schreibe, sondern auch so gut. - -
Um 4 Uhr läutete Scheinfuß schon die Gebetglocke und machte ganz Neulandpreis irre und wach - denn um 5 Uhr gehörte sichs -; aber er war selber beides und hatte so nahe am Proludium des Jubeltags keinen Schlaf und unter dem Morgensegen keine Andacht. Meinen Kopf klingelte er auch vom Kissen ans Fenster: es war noch
nichts zu hören und zu fühlen als der Küstenwind des Morgens, der die Goldküste der Aurora kühlte, und nichts ging noch im Pfarrhause herum als das Nachtlicht, wahrscheinlich mit Alitheen. Ich schlug mir ein Morgenlicht und setzte mich vor meinen Dintenbock und sein Herz und streckte den Legestachel des gegenwärtigen Appendix aus: denn hab ich solche Geschichten unter der Feder, die noch nicht ganz vorgegangen sind, so mach ich so lange, bis sie sich begeben, Ausschweifungen, Schalttage,
Hirtenbriefe. Gerade als man die Fensterläden aufstieß, war ich mit dem vorstehenden vierten Zirkelbriefe zustande. Da die Arbeitsstube das schönste Vorzimmer in dem Pavillon und der Sommerstube der Freude ist: so sollte ein Gast durch eine Arbeit, es sei eine nürnbergische oder Lyoner, wie durch ein dissonierendes Intervall die harmonischen Grundtöne des Vergnügens lieben - unser Herz verwirft so gut wie unser Ohr (Lebens-)Fortschreitung durch Oktaven oder Geigen-Quinten. Ich setze daher in
jedem Sinne über jeden prunkenden Festtag einen halben Feiertag; nur muß sich die Rangordnung umwenden und die Feier nachmittags anfangen.
Mit dem Morgengewölke legt ich zuletzt das Frührot auf meiner Stirne auf, den bekannten Esenbeckschen Zodiakalschein, die rote Zorn- und Zündrute. Es war ein besonderes Glück, daß ich, da diese feurige Zunge ein wenig rechts überschlug, das noch wußte, nachdem ich mich schon abgewaschen hatte: sonst hätt ich mich mit einem linken Klinamen des
Penduls nicht bloß ungemein lächerlich machen können, sondern auch verdächtig.
Dennoch sah Gobertina, als der Schönfärber vor ihrem Kaffeebrett erschien, mir lange auf die Stirn und deren Rötelzeichnung: »Ich weiß es recht gewiß,« (dacht ich und sah in den Spiegel) »der Strich flektiert sich rechts.« - Ich war heiterer als gestern, sie auch; sie dachte an ihren heutigen Glanz, ich an meine heutigen Verdienste. Auch war es mir von Herzen lieb, daß ihr Lebens- Monodrama sich
einem britischen Trauerspiel näherte, das, trotz alles Blutens und Weinens in der Mitte, doch nicht nur einen lustigen Prolog voraus-, sondern auch einen ebenso spaßhaften Epilog nachschickt: ich hatte das Verdienst dabei. Gerade als wir uns beide zum Abzug in die Pfarre anschickten, als ich schon meinem Menschen anbefohlen hatte, creme de Bretagne von Hampe nicht zu sparen, sondern die Stiefel und den Schwanzriemen tapfer zu wichsen und unter der Kirche die Schaugerichte und die Goldschleien
ins Pfarrhaus zu schaffen: so schritt Scheinfuß herein und invitierte uns dahin. Der Schuldiener hatte heute, statt der Biersuppe im Magen, warmes Bier im Kopf und hielt sich im ganzen für den - Jubilar selber: die Promotion war zu schnell, der Mann zu schwach - ach der innere Mensch schwindelt wie der äußere, wenn er sich zu hurtig aufrichtet. Der Schulherr fing langsam an: »An einem solchen feierlichen Tage werd ich aus dem hochehrwürdigen Pfarrhaus abgesandt, Ew. beide Gnaden einzuladen zu
einer Tasse Kaffee, und nachher dem heiligen Werk in dem Tempel mit uns allen beizuwohnen und zu vollenden. Ein wichtiges Jubelfest! ein exzellentes! - Und für Kirchenmusik hab ich in etwas gesorgt - der junge Hasler, gnädiges Fräulein, paukt, und der Schmieds-Tobias schlägt die Orgel: denn ich muß den Takt schlagen und bin der Bassist und dirigiere alles, weil ich die Partitur vor mir habe.« - Gobertina fragte ihn menschenfreundlich nach der Tonart und dem Musikschlüssel im Pfarrhaus; er
versetzte: »Jubel hinten und vorn! Aber freilich die Pfarrmamsell (Alithea), die greint erbärmlich! Mamsell, sagte ich heute zu ihr, es gibt ja alte Jungfern, die noch immer auf ihren Mann aufsehen: warum bricht denn einem so jungen Blut wie Ihr das werte Herz? - Und dann sagt sie allemal: sie verließe sich gern auf mich, ich tröstete.«
Der Schuldiener und -meister harrte auf unsern Mitgang: wir traten ihn an, nachdem vorher das Fräulein einen blonden weißfarbigen Frönersbuben als
Großalmosenier und Kollator ihrer milden Stiftung eingesetzt und ihm eine papierne Armenbüchse, mit einem Pfennigkabinett gefüllt, gelassen hatte, damit er mit dem Gelde das Bettelvolk dotierte unter der Kirche.
Der Schulherr entsprang uns am Bache in sein Haus, er sagte, er müsse auf den Turm laufen, um herabzublasen. Ingenuin kam uns im Pfarrhaus entgegen, dessen Hühnerviehe und Hofhunde der Hof verboten war, damit die Beichtkinder leichter aus- und eingingen. Durch die Sternbilder
froher neugieriger Enkel-Gruppen kamen wir endlich ins Zimmer vor den im bunten Hof aus Kindern strahlenden Sonnenkörper neben seiner blassen Luna. Feierlich lächelnd, aber mit einer abwesenden und an höhern Gedanken hängenden Seele empfing uns der Greis, und er machte alles um sich her so ernst, daß ich nicht begriff, wie der Petschierstecher einen Kuchentriangel anbeißen konnte, und mir war, als äß er in einem Kirchenstuhl. So sieht, sagt ich zu mir, ein unerschütterlicher Freund aus! Diese
breite gewölbte Brust wankte nie am geliebten Herzen, dieses dunkle, aber scharfe Auge schlug sich nie beschämt nieder, diese steilen Augenknochen sind das steile hohe Ufer eines tiefen, aber hellen Sinnes. Diese Gestalt hat ein Mann, sagt ich, der im magischen Kreise der Tugend, ohne aufzustehen, fortkniet, wenn die gaukelnde Nacht ihm mit überrennenden Wägen und mörderischen Larven droht. Die zweite Welt hatte ihn mit der ersten befreundet, und das Alter bückte seine Seele, mehr wie sonst die
Jugend, nach den letzten Blumen der Erde nieder. Sein Amt und sein Herz hatten ihn mit dem großen festen Land hinter dem Leben und hinter dessen Fluten so einheimisch und vertraut gemacht, daß er sich jetzt wie der Demokritus vorkam, der achtzig Jahre aus seinem Vaterland weggewesen, um Kenntnisse einzutragen.
Nur er verdiente die funfzigjährige Liebe seiner Lebens-Genossin: er war ihre erste Liebe gewesen und wurde jetzt ihre letzte, bloß den Zwischenraum hatte die mütterliche
erfüllt. Jetzt da ihre Sorgen geendigt und ihre Kinder gesegnet waren: so kam sie im stillen Nachsommer des Lebens mit der Herbstrose der erneuerten Liebe an die unvergeßliche Brust zurück und drückte im Gatten alle ihre Kinder ans Herz; bloß von ihren zwei Töchtern, die der Tod in seinen eisernen Armen hielt, wandte ihr innerer Mensch die weinenden und liebenden Augen nicht ab. - Die Morgenuhr ihres Lebens hatte den Schatten auf schwärmerische Stunden, auf den Blumentau süßer Tränen,
auf Morgenträume, auf überirdische Hoffnungen geworfen, und ihre Seele war emporgestiegen, um auf das ferne Grab herabzusehen, das noch nicht geöffnet ist: jetzt da die Abenduhr vor der ebenso tiefen Sonne einen ebenso langen Schatten wie am Morgen und auf die Ziffern desselben Namens wirft, jetzt rücken die gefärbten Schatten der alten Vergangenheit wieder vorüber, aber in Heiligenbilder verkehrt, und sie schmachtet nach der Sargmuschel unter dem Meer, in der ihre
Träne, nämlich ihr Herz, zur festern Perle reift, und die Seufzer der ersten Tage voll Liebe wachen als Gebete auf.
O so soll es euch auch sein, geliebten Freundinnen **, wenn die Nachmittagsstunden des kurzen Namenstags eueres Lebens ausgeschlagen haben! Frei, weit und klar blicke abends euer Auge um sich, wenn das Leben gelichtet und entblättert ist, wie man im physischen Herbste weiter und mehrere Dörfer sieht, weil das gesunkne Laubwerk keine mehr
verbauet! - Ach es ist keine unter euch, die ich nicht oft in den Stunden der verheimlichten Rührung mit der Hoffnung angesehen habe: »O wie zauberisch werden einmal diese Tage zu deinem langsamem gelähmten Herzen umkehren! O wenn deine Lebens-Frühregen davongezogen oder herabgefallen sind, wenn dein Himmel und dein Abend blau über dir ruht und die letzte Gewitter-Wolke erkaltet ist, wenn dein Weg durch die flüchtigen Freuden nahe an der ewigen abbricht, dein Flug durch die 11 beweglichen Himmel
am festen : so werden die Verklärungen deiner Jugend von neuem entglimmen und die jugendlichen Erhebungen deines Herzens die veraltete Brust bewegen. O wie weich, aber nicht wund wirst du jeden Frühling besuchen und wirst sagen: willkommen, schöne Zeit, jetzt erinnerst du mich nicht wie sonst an den stummen stechenden Herbst des Lebens, sondern nur an den Frühling, den ich verlebt habe, und an den schönern Frühling, der mir nie verblüht.«...... Und dann wenn sie sanft weinend und träumend vom
Spaziergange nach Hause kömmt, so fall ihr dieses Blatt in die Hand und erinnere sie weicher an den Freund ihrer vorigen erhabnen Stunden, und sie leg es hin, von hohen Erinnerungen innigst bewegt, und schaue die stumme Vergangenheit an mit großen warmen Tränen nicht nur der Wehmut, auch der Freude! -
Alle Gesichter der Söhne schmückte und verjüngte eine feierliche Freude und eine erneuerte Liebe: nur die bange Alithea verbarg sich mit ihrem weinenden Herzen unter einsame entfernte
Geschäfte. Die Söhne - ausgenommen Ingenuin, dem die Nachfeier des Amts näher als die der Hochzeit lag - wurden durch die schöne Nachkirchweih des elterlichen Vermählungsfestes wärmer und dichter an die ehrerbietige Empfindung ihres Ursprungs und ihrer kindlichen Pflichten gerückt, und die Erwachsenen wurden zu hülflosen dankenden Kindern verjüngt. Und aus demselben Herzen stieg die elterliche und eheliche Flamme neben der kindlichen auf: die Silbervermählung der Eltern machte ihnen ihre Kinder
und ihre Weiber lieber und zeigte ihnen auch weit draußen im Alter, mitten unter dem Auskehrig und den Scherben der Jahre, einen reparierten geputzten Traualtar.
Endlich fing die bunte Reihe den frohen Kirchgang an. Ich sah mich unter dem Ziehen draußen vergeblich nach dem ausgehenkten Gliede, das aus dieser beglückten Wesenkette fehlte, um, nach Alithea - und ich sah die Zurückbleibende einen Schritt vom Fenster mit freudigen Augen, deren rinnende Tränen sie zu trocknen vergaß, und mit zusammengelegten, gleichsam zum Gebete für alle Geliebte gefalteten Händen stehen, und als das Geläute anfing, wurde ihr der Schmerz oder die Freude zu schwer, und sie wandte sich um.
Auf dem Turme wurden alle Glocken und auf dem Chore alle Orgelregister gezogen - und aus dem Schalloch zielte und schauete Scheinfuß als Hornist mit einem Parforcehorn in die heraufsteigende Sonne hinein (er wollte vergeblich unter dem Blasen niedersehen), und innen neben dem Glockenstuhl rührte zu seinen Füßen sein Ripienist eine schwache Pauke. Die geputzten Enkel kamen zuerst, dann die Kinder mit ihren Vermählten und dann Vater und Mutter, und die zwei Hinterräder wurden von dem Freudenmeister und dem alten Fräulein formiert, und beide machten als das einzige Zölibats-Paar einen erbärmlichen Absatz. Mehrere Beichtkinder gingen in einiger Entfernung gleichen Schrittes mit den ordentlichen Kindern; aber die meisten hatten sich am Kirchentore angelegt und angehäuft, und das rote Meer lief auseinander, um den Kindern dieses Israels den Durchgang zu lassen: das hohe unvermählte Paar sah wie der nachsetzende Pharao aus. Ich habe meine guten Gründe, anzuführen, daß ich unter der Jubelpforte einen scharfen Blick auf die gedruckte Liedertafel tat und daß ich auf dem einblätterigen Register den stählernen, wie an ein Abcbuch gebundnen Griffel, den spitzen Zeigefinger des jedesmaligen Liedes, heute in dem bekannten »O daß ich tausend Zungen hätte« eingestochen sah, ein langer Gesang von 15 langen Strophen.
In Sackenbachs Kirchenloge war sowohl aus Höflichkeit geheizt als des Septembers wegen, über den die Römer wie über eine zweite Venus den Vulkan zum Herrn erhoben. Unter den Vorerinnerungs- und Initialliedern und Ermahnungen macht ich imgeheim den Flachsenfinger Esenbeck und Amanden lächerlich und mehr als einen Hof. Indes der mittlere und niedere Stand die Surpluskasse, die Verlagskasse der Menschheit ist, gleichsam das Schiffswerft des politischen Schiffs: so ist der obere die wüste Region, der Brachacker der Menschheit und weiset wenig andere Kinder auf als moralische im Handeln oder physische aus Alter. Doch ist es billig, auf der andern Seite auch einzuräumen, daß ein Hof einem schönen englischen Garten, worin keine Bäume gelitten werden, die etwas tragen, näher komme als einer vollen Kernschule; und daß überhaupt die Menschen den Birnen gleichen, von denen die Obstgärtner bemerken, daß gerade die Kerne der feinsten nicht aufgehen, aber die der Holzbirnen gern.
Die betende Alithea kam nicht aus meinem Kopfe und zum Unglück nicht in die Kirche, oder vielmehr zum Glück. Ich schäme mich nicht, es zu berichten, daß ich aus der Kirche hinauswollte - und es auch tat -, um mit der Guten ein vernünftiges einsames Wort zu reden. Es war mir freilich so gut bekannt als einem, daß nicht nur das 24. Kapitel des vierten karthagischen Konziliums jeden in den Bann tat, der unter der Predigt herausläuft, sondern auch der Pfarrer, der sie hält. Aber ich konnte auch von den Karthagern und den Predigern fodern, daß sie Vernunft annehmen und bekennen, etwas ganz anders sei es, wenn einer nur aus dem Hauptlied läuft, um vor dem Kanzellied wieder da zu sein. Und das war mein Fall. Das Lied »O daß ich tausend Zungen hätte« war lang, wenn mans durchlas, geschweige durchsang.
Es war ohnehin vorauszusehen, da Scheinfuß jede Strophe um einen Ton höher anstimmte, daß man sich mit diesem crescendo wie Gläser auseinanderschreien müsse. Da es noch dazu keinen ersten oder zweiten Sänger gibt, der nicht besser singt als ich, der gleich dem Papagei mehr ein Sprach- als Sangvogel ist, und da ich überhaupt nicht so lange über eine Zeile denken kann, als man an ihr singt (daher les ich allezeit das Lied aufmerksam voraus durch und höre still der unverständlichen Gemeinde zu): so marschiert ich frei aus der Loge ins Pfarrhaus und wollte als Paraklet mein Trostamt antreten.
Alithea hatte durch die offnen Fenster eine stete Kommunikation mit der kirchlichen Singschule unterhalten, um leise einzufallen. Ich fiel auch ein, aber ins Haus. Ich sagt ihr sogleich (vor Schrecken arbeitete sie fort und stark), ihre Augen voll Tränen, die ich unter der Prozession gesehen, hätten mich hergebracht, weil ich wüßte, ich könnte ihr unter dem Hauptliede einige davon nehmen und trocknen. »Christus hat«, sagt ich, »(nach Robert Holkoth) in seinem Leben siebenmal geweint; ich weiß leider, daß Sie es in einer Woche ebensooft getan, an jedem Tage einmal. Aber Fräulein von Sackenbach hat sich Ihrer angenommen, und Sie haben große Freunde in der Residenz, wovon hier einer zu stehen die Ehre hat.« Ich hätte mein negligé raffiné darum gegeben, hätt ich ihr zersprungnes Herz aus dem Briefschwerer und Preßbengel der drückenden Vexier-Vokation mit der Nachricht der wahren ziehen dürfen; aber der Fürst litt es ja nicht. Etwas tat ich doch. Ich bat sie, mir zuzutrauen, daß ich auf Träume wenig hielte, und mich nicht für abergläubig anzusehen, wenn ich meinen Traum in der vorigen Nacht nicht ganz verwürfe. »Es träumte mir,« sagt ich, »die heiligen drei Könige wären ins Pfarrhaus gekommen und hätten Gold hingelegt und Hochzeitmusik aufgespielt und gesungen: › Sie darf nicht fort, sie soll nicht fort.‹ Auf solche Nachtwinde der Seele gibt sonst wohl niemand weniger acht wie ich; aber das werden Sie, Mademoiselle, so gut wissen wie ich, daß alles, was man in einem Hause träumt, worin man das erstemal schläft, wunderbar eintrifft.« - Vor großen Entscheidungen des Verhängnisses ergreift alle Menschen der Aberglaube: ich ersuchte sie um ihre Hand zu einer kleinen chiromantischen Visitation und Übersicht. Ich schlug die linke aus und bestand auf der größern - das ist die rechte bei Leuten, die damit an größern Tischen arbeiten als an Spieltischen -, weil ich alle Züge, woraus etwas zu nehmen wäre, sagt ich, lieber mikroskopisch und entwickelt studierte. Ich hatte nicht lange in die hohle Hand und deren prophetische Handzeichnung geschauet, als ich Alitheen mein Erstaunen über diesen Fingerkalender der Zukunft, über diese auf der Chaussee des Lebens Weg-weisende Hand nicht recht mehr verhehlen konnte. »Gut,« (sagt ich vor mir hin unter dem Examen und Tentamen) »der Berg Jovis, der Berg Veneris und selber Mercurii haben ihre Höhe - aber wahrhaftig Ehrenlinien von dieser Länge kamen mir selten vor, Ihre läuft über den Ballen heraus - und gerade so lang ist allezeit bei Mädchen die Glückslinie.« Ich schüttelte freudig den Kopf und hielt ihr meine Hand hin, damit sie darin meine elende kurze Wolle von Glücks- und Ehrenlinien vergliche mit ihrer langen: »Bloß die Lebenslinie« (setzt ich dazu) »zieht sich auf meiner Rechten ungemein weit aus; das kann aber ebensogut bloß die Schriften, die ich damit mache, als mich selber bedeuten.« Ich sah nach ihrer Heiratslinie: »Sie haben sich heute verlobt?« fragt ich. Sie schüttelte. »Unmöglich« (sagt ich) - »die 12 himmlischen Interpunktionszeichen der Hand setzen hier recht deutlich die Verlobung auf den 18ten September, und den haben wir.« Sie beteuerte Nein. »Nun,« (sagt ich kalt) »er ist noch nicht vorbei; denn der Verlobung entkommen Sie wohl heute nicht.«
»Ich kann es gleich heraushaben«, fuhr ich fort und ersuchte sie, den Ring, den ihr bekanntlich der Verfasser der Pseudo-Evangelien und -Vokationen gemauset, an ihre rechte Hand zu stecken. Darauf zog ich sogenannte chiromantische Temperamentsblätter hervor, die, wie bekannt, das Temperament dessen, in dessen Hand sie liegen, durch Aufrollen bezeichnen; je feuriger er ist, desto mehr krümmt sich das Blatt. »Ein solches Zauberblatt, Mademoiselle,« sagt ich, »ringelt sich immer mehr zusammen, je mehr die Hand, worein man es breitet, sich bald verloben und beringen will.« Ich legt es vorher in meine halb erfrorne: das Blatt warf sich kaum so krumm, als ihre Augenbraunen waren; »ich werde noch«, sagt ich, »zu passen haben auf ein hohes Beilager.« Ich drückte das sibyllinische Blatt in ihre von der Arbeit geheizte Hand: es rollte sich wie Rolltaft oder eine Schlange zusammen. »So sah ichs noch nie zusammenfahren«, sagt ich - »es stehen Ihnen heute die wichtigsten Dinge bevor, aber äußerst liebe und traute.« Ihre Augenwimpern waren ohnehin von jeher Saussuresche Feuchtigkeitsmesser aus Haaren; auch die Sonne des Glücks und der Freude zog bei ihr Wasser, und dieses Morgenrot und der vorige Nebel mußten in warme Tropfen zerrinnen.
Sie war nur vom heutigen Tage übermannt: sonst hätte sie alle meine Weissagungen mit einem kalten Schweigen bestritten. Ihre Seele und ihre Zunge glichen der hebräischen Sprache, in der nicht einmal ein unreines Wort vorhanden ist - Theodosia war, was in Nürnberg ein Patrizius ist, die Kronenhüterin der Reichskleinodien ihrer Seele -; sie war gegen alle Menschen weich, und ihre Armenbüchse hatte statt der engen Bresche eine offne Türe, und sie hätte gern (das sah ich heute unter dem Liede) dem bleichen Handwerkspurschen nicht bloß die Almosenkasse, sondern auch die Almosenbüchse dazu gegeben und ihm den Opferstock geopfert; - nur hatte sie den einzigen Fehler, daß ihr nicht alles zu glauben war; sie brauchte vor dem andern nichts lieber als einen Schleier, einen Räuchopferaltar und ein Hörrohr. Die Mädchen halten die Lebens-Partie oder den bal paré und déparé des Lebens für eine Freiredoute und gehen, wenn nicht in einer masque en chauve-souris oder in einer noble masque, doch mit einer auf dem Hute oder am Ärmel herum und schreiben einem oft kein wahres Wort - in die Hand. Sie war indessen (wie es meistens ist) ebenso sanft als - falsch nicht sowohl als wie scheu. Sie trauete meinem Temperamentsblatt mehr wie meinem Gesicht, und meinen Weissagungen mehr als meinen Schwüren. Denn ich leistete einige der letztern ab, daß es ihr wohl gehen werde und daß mir das von Herzen lieb sein würde.
Es kann nicht mit Stillschweigen übergangen werden, daß das Liederbuch aufgeschlagen auf der Fensterbrüstung lag und daß ich von Zeit zu Zeit wie auf ein Zifferblatt hinsah, um zu wissen, wie weit sie drinnen dieses hohe Lied für mich, dieses canticum canticorum, schon herabgesungen hätten. Vom Mandel Verse war schon die Halbscheid fort - beim 15ten mußt ich wieder in der Loge stehen, weil der Jubelsenior die Kanzel heraufkam und sich gegen die Herrschafts-Empor verbeugte - ich hätte gewünscht, der Liederdichter hätte diesem Gelegenheitsgedicht die mäßige Länge eines Heldengedichts erteilt.
Wie gesagt, ich tat Haupteide, sie werde heute noch jubilieren: ich unterstützte alles noch mit einigen Vernunftschlüssen in Festino und Ferison und gab ihr zuletzt ohne Bedenken mein Wort, ich harrete so lange in Neulandpreis aus, bis ich sie glücklich sähe statt reisefertig, und beteuerte, ich bliebe, um zu beweisen, daß sie nicht ginge.
Die Neulandpreiser singen sich offenbar wie erfrorne Kurrentschüler oder laufende Leichensänger mit solchen kursorischen Galoppaden durch ihre Hauptlieder, daß sie jetzt schon - denn ich ließ mein Opernbüchelchen nicht aus den Augen während meiner hohen Oper - den 12. Versikel anstimmten. Der 15te zog mich, wie ein alter Zaubergesang den Mond, aus meinem Himmel herab:
Mit ihren langen Augenwimpern zog sie mich gefänglich ein wie ein Federbuschpolype seinen Wurm: ich wurde von diesen schwarzen Spitzen durchschossen, sooft sie zuckten, es waren Froschschnepper für mich. Dea war erstlich ungemein hübsch, und zweitens sah ich sie nie mehr allein unter einem Hauptlied: das war ebenso klar.
Meine Sing- und Konzertuhr im Tempel drüben schlug 13, nämlich den 13ten Vers. »Verdammt!« sagt ich halb laut. Sie sah mich an. »Schön, verdammt schön! mein ich,« (sagt ich) »ich singe ihnen drüben innerlich nach, jetzt haben sie den Leibvers.«
»Drum reiß ich mich jetzt aus der Höhle.«
Ach mein tausendjähriges Reich, d. h. mein tausendaugenblickliches, stand noch auf den schwachen zwei Füßen von zwei Versikeln, und dann war der hohe Fest- und Pfingst-Sonntag in einen matten Fastensonntag umgesetzt. Ich drückte ihre Hand und sagte eilig: »sie solle nur die größten Beweise meines Anteils und der Wahrhaftigkeit, die sich daraus ergibt, abfodern; ich wäre erbötig.« Sie stotterte und sagte: »sie
wüßte gar nicht, womit....«; sie wollte gar hinaussagen: womit ihre Wenigkeit eine solche kosmopolitische Menschenliebe von einem Flachsenfinger Herrn und maitre de plaisirs verdienet hätte. Aber ihr mangelte Diktion.
Jetzt ließ sich die Leichenmusik und der Konduktgesang des 14. Versikels hören, und nun war weiter nicht mehr zu passen: in meinem erotischen Siechkobel lagen zwei Kranke, die ich herstellen sollte, Alitheen vom Stammeln, den Freudenmeister vom Reden. Es war mir bei meiner pragmatischen Aufmerksamkeit in der Staatengeschichte gar nicht entgangen, womit sonst die österreichischen Erz-Herzoge leicht das Stammeln heilten - nicht durch Berühren wie die fränkischen Könige, sondern durch Küssen. Der Minutenzeiger der poetischen Zeilen lief, der Sekundenzeiger der Silben flog - kurz ich eilte und prophezeiete: »Gerade so viele (zählen Sie selber) gibt Ihnen heute noch ein Bräutigam.«
»Ja wenn der Mund wird kraftlos sein, So stimm ich doch mit Seufzen ein.« |
Diese zwei letzten Zeilen des 14ten Versikels sucht ich bei ihr so zu skandieren, daß ich ihnen einige poetische Härten benahm.
Dann ging ich in die Kirche - und das Fräulein von Sackenbach war gerade vom Singen aufgestanden, um vor dem Jubilar, der noch gebückt an der Kanzeltreppe betete, sich zu einem Wechsel-Bückling zuzurüsten.
Mir entfiel vorhin ein Wort vom zweiten Patienten, von mir. Ich meine nämlich ganz ernsthaft so, daß ein Mensch, der unter dem Hauptliede »O daß ich tausend Zungen hätte« den Wunsch äußert: o daß ich tausend Lippen hätte, nicht besser herzustellen ist, als wenn er letztere brauchen darf, wie er nur will. Hundertmal hätte eine hoffnungslose Liebe abgewendet oder die Verwandlung (der Anthropomorphismus) der Liebe in Freundschaft vollendet werden können, wenn die Geliebte nicht lauter verbotene Früchte, verbotene Blätter, verbotene Zweige gehabt, ich meine, wenn die Freundin dem Freunde nicht das versagt hätte, was ihm ein Freund gegeben hätte, wenn sie nicht auf Küsse und Worte einen Wert geleget hätte, der einen größern in Gefahr setzte. Aber leider versagen die meisten nur darum zu viel, weil sie entweder fürchten oder wünschen, nachher zu viel zu geben.
Ich sah, der Jubilar war auf der Kanzel so einheimisch wie in einem Großvaterstuhl, und er verrichtete darauf nur seine Hausandacht. Er legte sich unbefangen seine Kanzelbibliothek zurecht und sah unter den Galerien herum, was drinnen sei, und zog die Brille aus dem Futteral zum Lesen. Dann fing er an. Ich hatte vorausgesetzt, er werde sich nach dem Kirchenrat Seiler richten und seinen Affekt nach der Menge der anwesenden Auskultanten steigern und ihn mit jedem neuen Kopf, der nachkam, schüren ; aber sanft hob er an, und heiter und sanft ging er weiter. Im Evangelio des 17ten Trinitatis, das vom Wassersüchtigen handelt, lag seine Proposition von der Demut des Menschen, wenn man es ein wenig enthülsete und abschälete, wie in einem Kernhaus versteckt. Ich hatte wieder fälschlich präsumiert, er werde bloß von seinem Jubel handeln: im ersten Teil vom Amtsjubel, im zweiten vom Silberjubel, im Elenchus vom Adjunktus, nachdem er vorher im Eingang den Sonnabend berühret hätte. Aber er ließ, wie gesagt, sein Ich an seinen Ort gestellt, der (nach Sömmering) der Gehirnhöhlen-Weiher für diesen Flußgott ist. Der Adjunktus saß neben der Mutter im Pfarrgitterstuhl und fing mit der Falle seiner aufgespannten Gehörknochen jedes Wort des Alten weg, nicht als Kritikus, sondern als gehorsamer Pfarr- und Beichtsohn: ich bin überzeugt, manche Predigt des Alten besserte ihn aus, ob er sie gleich beurteilen konnte. Ja da der Jubilar im zweiten Teile sich wie ich zu einem kleinen Extrablatt und Hirtenbrief entschloß und mit dem Laodizeischen Konzilium und mit Augustin gegen das unschuldige Sonntagstanzen einen geistlichen Kriegstanz machte: so bemerkt ich nicht, daß der Sohn den Kopf geschüttelt hätte, ob er gleich in seiner Kritik der kirchlichen Liturgik nach kantischen Grundsätzen, als Waffenträger und Brautführer der Schönen, natürlicherweise auch der Vorbitter und Protektor ihrer Tänze geworden war. Auf der Kanzel nahm der Sohn seinen Vater für den heiligen Vater.
Unter dem Kanzelliede überlegt ichs hin und her, ob ich mich gleichgültig stellen sollte und frivol als Freudenmeister Esenbeck. Anfangs schien viel dafür zu sein: ich war ein Mann aus der Residenz, und für mich schickt es sich wenig, Religion zu zeigen. Die ersten deutschen Kirchen standen in Städten auf - daher der Name Heiden, pagani (von pagus, Dorf) herkömmt -, mithin fallen sie in jenen früher wieder ein. In Norden wurden die Fürsten und Großen früher als ihre Sassen Christen (in Süden war der Weg umgekehrt); folglich konnten jene früher reifen zum Abfall: ich gedenke nicht einmal, daß die Religion wie jedes Geschöpf keinen bessern Wohnort haben kann als seinen Geburtsort, und der ist die Wüste. Aber genauer betrachtet, schien eben dieses ein Motiv zu sein, warum ich mich zwar nicht aufmerksam, aber ebensowenig taub anzustellen verbunden war, sondern bloß kalt. Denn der gute Ton fodert, daß man von der Religion wie von sich weder etwas Gutes noch etwas Schlimmes sage; ja man würde den Verdacht, daß man welche hege, eher bestärken als vermeiden, wenn man sie nicht mit derselben höflichen Achtsamkeit betriebe und beschauete, die man den Silber-Sponsalien des Doge mit dem polygamischen Meere oder einer fürstlichen Fußwäsche an grünen Donnerstagen widmet. So behält auch jeder Weltmann Hochzeit und Taufe bei, ob er gleich weiß, wo er seine wahre Frau und seine wahren Kinder zu suchen habe. Ich konnte mich also darauf verlassen, man werde meine Aufmerksamkeit auf den Jubilar für nichts Schlimmers als die gewöhnliche verbindliche Gleichstellung eines Weltmanns nehmen, der sich bewußt ist, über die Religion hinweg zu sein, und der also den Schein derselben nicht ängstlich meidet.
Doch darf ich hier eine sonderbare Besorgnis nicht bergen: wenn in Leipzig 1786 Schillers »Räuber« eine junge Knappschaft versuchten, sie nachzuahmen und sich mit den Spolien nach England reisefertig zu machen; - wenn in diesem England 1772 die Friedensrichter der Grafschaft Middlesex den großen Garrick baten, mit den Repräsentationen von Gays Bettler-Oper abzubrechen, weil sie neue Diebe erzöge; - wenn sogar der berühmte lüderliche Schauspieler Baron in Paris, sooft er einen Helden von Corneille gespielet hatte, sich halbe Wochen lang außerstand gesetzt sah, seinen parisischen und theatralischen Ausschweifungen vorzustehen; wenn das alles und mithin die allmächtige Reaktion des Scheins auf das Sein so unbezweifelt ist: so kann niemals, dünkt mich, ein Mann zu belachen (wohl aber zu beherzigen) sein, der Höfen und Residenzstädten die Frage vorlegt, ob sie gewiß sind, daß religiöse Anstellung nicht am Ende in Wahrheit umschlage. Ich gebe diesen Fall für nichts aus, als was er ist, für eine bloße Möglichkeit.
Aber zurück! - Jedoch noch ein Wort über diese wichtige Sache sei mir zugelassen: hängen nicht die Großen, sogar die lutherischen, gerade dem schwersten Fundamentalartikel aus dem Papismus an, nämlich dem übermäßigen Fasten? - Ja fasten sie nicht in den lichtesten Zeiten geradeso, wie mans in den schattigsten tat? Der Große im Mittelalter nämlich tat das Gelübde eines dreijährigen Fastens und erfüllte dasselbe in ebenso vielen Tagen, indem er bloß 700 Menschen statt seiner fasten ließ. Lassen nicht gerade die Großen, sogar die Fürsten, die doch genug zu essen haben, jahraus jahrein für sich fasten durchs Lumpenvolk, und ist wohl ihre Enthaltsamkeit von der übertriebnen einiger Juden, die in der ganzen Woche nur einmal, nämlich am Schabbes essen, weit entfernt, wenn sie ihre Fasten-Plenipotenziars (wozu wohl gar jene Juden mit gehören) nur am Sonntag essen lassen? -
Zurück! - Ich entschloß mich also, meine wahre Aufmerksamkeit auf den guten Jubelgreis hinter eine scheinbare zu verstecken. Übrigens blieb mir noch allemal in dem Fall, daß mich der Greis zu sichtbar rührte, nämlich bis zu Tränen, unbenommen, den Kopf auf den Arm zu legen und zu tun, als sänk ich in Schlaf.
Gobertina würde mich des scheinbaren durch ihren wahren überhoben haben, wenn man sie in Ruhe gelassen hätte. Kaum war der Lärm des Kanzelliedes gedämpft, so kam der Wecker des Klingelbeutels in die Loge. Daher sollte man diese Personensteuer des Christenschutzes - wie es einen Judenschutz gibt - schon unter dem Hauptliede oder wie die Kalvinisten an der Kirchtüre zu erlegen haben, um nicht in der Predigt beunruhigt zu werden wie Yorick durch Stationsgelder in seiner Chaise. Kaum war dieses Wandel- und Sturmglöckchen hinaus und im dritten Kirchengeschoß, so wurden dem Fräulein, das vor Getöse die Augen kaum schließen konnte, diese wieder aufgezogen durch einen rasselnden Wagen, der durchs Dorf so heftig donnerte, daß ich dachte, der Fürst sitze darin, weil Fürsten gern alles schnell wie ihr Leben haben wollen, besonders Fahren, Referieren und Bauen. Daher ist es ein menschenfreundliches Polizeigesetz, daß in manchen Städten unter der Predigt kein Wagen das Pflaster rädern darf, weil wohl nichts eine stille Kirchenversammlung so stört als das.
Schwers stach in die hebende Schwimm- und Luftblase des Menschen, daß sie zusammenfiel und er nicht mehr stolz aufsteigen konnte. Er zeigte gut, aber sanft und warm, worauf der Mensch stolzieren könne - auf Gold und Seide so wenig als die Mine und die Raupe, die beides früher tragen - auf den umgehangnen schönen Körper ebensowenig, da ihn ein Judas oft habe und ein Christus oft misse und da sich in diesem Falle die verbuttete eingesunkne Hausmutter vor ihrer blühenden Tochter neigen müßte - man könne aber auch ferner ebensowenig auf Talente wie auf Ahnen prahlen, da beide ein Neujahrsgeschenk wären, aber kein Arbeitslohn und da der Ingenienstolz (Geniestolz) so ungerecht als der Bauernstolz (der Ahnenstolz nämlich) sei - Und worauf, mußt er natürlich weiter fragen, kann man denn sich etwas zugute tun, wenn man es auf nichts darf, was man ist, hat und wird? Darauf bloß, was man tut und will; aber ach, das ist so wenig, die Minuten des Tages oder der Woche, worin wir eine gute Tat erwählen, werden so oft vom - Sekundenweiser halbiert, daß ein Mensch, der noch seine Wünsche und seine Freuden und seine Kräfte gegen seine Taten hält, diese beschämende Rechnung gar nicht anfangen mag, sondern dem unendlichen Genius statt des goldnen Buchs bloß sein schwarzes voll eigner Schulden reichen und sagen muß: ach ich habe nichts verdient als kaum - Vergebung.
Mein innerer Mensch stand gebückt vor der schweren Wahrheit, und ich dachte gar nicht mehr an die wohltätige Fiktion meiner scherzhaften Promotion. Und dann wurde der ehrwürdige Greis immer weicher, und er kam stotternd auf den heutigen reichen Tag, der ihm alles zeigte, was er liebte und besaß, und alles belohnte, was er getan; und er sagte, obwohl nicht mit diesen Worten, aber doch dieses Inhalts: an diesem Tage, wo jedes Herz sich erhebe, sei das seinige nur erweicht, und seine Seele sei froh, aber demütig - er schaue in die 50 Jahre zurück, worin sein Lohn größer als seine Last, seine Ernte reicher als seine Saat gewesen - er schaue zurück wie von einem Grabe in die abgeernteten umliegenden Jahre hinter seinem Rücken, und er denke an die Schmerzen und Verdienste, die der Stifter des Christentums in 3 Jahren sammelte, und er blicke nieder und erröte und zähle seine nicht - Und hätt er alle die guten Taten vollbracht, nach denen sich ein redlicher Mensch in zwei Stunden so sehr sehnet, in der einen, wo er sein Amt beginnt, und in der andern, wo ers beschließet: o Gott, so wären 50 fromme Jahre mit 50 heitern und reichen gekrönt und überwogen, das Amtsjubiläum mit dem Ehejubiläum. Und hier fiel er auf die Knie und dankte dem Geist hinter den unabsehlichen Himmeln für seine zweite Feier des Herzens, für die vielen Jahre, worin er an der sanften Hand seiner Gattin über die Hügel und Berge des Lebens gehen durfte - und für seine beglückten Kinder, zwischen deren Armen fröhlich geführet er und ihre Mutter sanft und ohne Trauer und scherzend an den bedeckten Gang unter der Erde gelangten - und für sein ganzes Leben dankte er dem Ur-Geiste strömend in Worten, strömend in Tränen und dann mit sprachloser erhabener Andacht. Und da jetzt seine errötende und zerrinnende Gattin, deren Name nie mitten in einer Predigt erschienen und die heute von allen ihren geliebten Menschen und von allen ihren seligsten Erinnerungen umgeben war, gleichsam unter dem letzten, zu schweren Freudenhimmel, den das alte Herz nicht tragen konnte, zusammensank - und da alle ihre Kinder und am heftigsten ihr geliebter Ingenuin große Tränen vergossen - und da die kleinen Enkel in unschuldigem Mißverständnis die Rührung ihrer Eltern so teilten wie einen Schmerz - und da die Beichtkinder, ungewohnt, ihren alten Lehrer über sich selber in Tränen zu sehen, und beklommen, weil sie einen lauten Dank in ihrer Brust verschließen mußten, einen ebenso innigen Anteil am Feste seiner Liebe nahmen als am Feste seines Amts - und da der Greis, von fremden Herzen und von der eignen Rührung überwunden, womit der Mensch jedes Fest begeht, das er zugleich zum ersten und zum letzten Male feiert, da er seine Augen zu seinen beiden über den engen tiefen Himmel der Erde erhobenen Töchtern aufrichtete, deren verklärte durchsichtige Schwingen die Flügeldecken aus harter Erde abgeworfen hatten in zwei nahe Gräber der Kirche, und da er, gebückt vor der Hoheit der Toten, sie anredete: »Seligen Kinder, kennt ihr eure Eltern noch, sehet ihr von euern Höhen unserer Feier zu? Aber bloß eine Minute steht zwischen uns und euch, und dann feiern wir alle nur ein einziges Fest und ein unaufhörliches« - - - : o wie groß standen dann die Wünsche und Bilder der unsterblichen Welt vor jedem weinenden Auge und wie klein die Qualen und Freuden der sterblichen! Jedes Auge hatte Tränen, jede Brust hatte ein Herz, und jeder Geist hatte Flügel, und unter so vielen hundert Augen war keines so verwelkt und ausgetrocknet, aus dem nicht die heiße Quelle der Rührung aufgestiegen wäre als sanfter warmer Regen für die nächsten Blumen und für jeden bessern Keim.
Nach dem Schlusse der Rede wandte jeder eine stärkere Aufmerksamkeit auf die abgelesenen alten Gebete etc., um damit die vorige Rührung zu ernähren und zu verknüpfen; aber der Abstand war zu grell. Bloß als der Greis eine bezahlte Vorbitte für einen siechen Greis - am Schlagfluß lag er darnieder - tat, so veredelte sich die einfache Bitte zu einer doppelten, und die ganze Kirche schickte innerlich, im zweifachen Gebet, eines für den Greis hinauf, dessen Fußboden schon das Minierkorps des Todes unterhöhlte und lud: nur der Senior selber verfiel in seinen Bitten für andere nicht auf sich, ob ihn gleich die täglich aufsteigende Erde in seinen Adern und Gefäßen noch besser an sein nahes Lager in derselben erinnern konnte, als alle Erde im Purpursäckchen sonst die Kaiser ermahnte.
Langsam, gleichsam wie das letztemal, ging er von der Kanzel. Dann fing ein Orgel-Adagio an, das graue Paar wie aus einer Familiengruft an den Altar zu rufen, damit vor ihnen Engel, wie Kinder, den vorigen Fest- und Frühlingstag der Liebe auf einem großen Morgenrot vorübertrügen. Und in die von den Jahren vollgeschriebenen Gesichter fiel ein roter Widerschein vom Frühling, der vorüberzog, wie in der ewigen Nacht des Pols ein tägliches Morgenrot über die Berge geht und ohne seine Sonne verlischt. Ihr Ingenuin trat auf den Altar, um seine Eltern einzusegnen. Und als diese das Dankgebet ihres Sohnes zum Himmel steigen sahen: so durchdrang eine unerwartete erhabene Erheiterung und Erhellung das Angesicht und das Herz des Greises und machte sein ganzes Herz zu Licht, in das ganze, vom Eise seines Alters überzogene Weltgebäude wurden wie in jenen Eispalast tausend große Fackeln getragen, und es schimmerte himmelan, und vom dunkeln Krater des Grabes wurde die Asche weggetrieben, und eine Demantgrube, die im eingesognen Schimmer untergesunkner Sonnen brannte, entblößte vor ihm ihre stille Farben-Glut - und er fassete fester die Hand seiner Geliebten an, um der nachglänzenden Jugend und Liebe nachzufliegen ins Land, wo die ewige wohnt. Aber seine Gattin war unaussprechlich erweicht - die Tage der Jugend waren Träume geworden und flohen mit einem Bildergewimmel vorüber - ach viele Hoffnungen flatterten voraus und überstreueten den Lebensweg mit Blüten, und wenige Freuden kamen nach und ließen nur einiges Fallobst zurück - aber was sie über den Flug der Zeit und über die langen, hinter die Flügeldecken der Nächte verborgnen Flügel der Tage tröstete und was ihre Tränen süßer machte, ohne sie zu stillen, das war jedes glückliche Kind, das sie erzogen hatte, und jeder Schmerz, den sie ertragen hatte und der durch die stille Geduld zu einer Tugend geworden war, wie die Perlenmuschel das in sie geworfne Sandkorn, das sie drückt, mit Glanz umzieht und zur Perle macht. - -
Auf einmal hemmte eine neue Rührung Ingenuins sanften Segen, und der Strom in der Brust sperrte sich selber den Weg: Ingenuin stritt mit den unwillkürlichen Tränen und schien sein Auge vor einem Gegenstand zu hüten, der sie zu fließen zwang. Ich fand ihn: es war die arme verlassene Alithea, die sich zwischen andere Zuschauerinnen an die Kirchentüre gedränget hatte, um gleichsam von dem Nachklang und Nachhall der Äols-Harfe der Liebe einige Töne in ihr offnes Herz zu fassen. Ach diese Töne zogen Wunden darin, und jede Freude hing voll Schmerzen, und der Palmbaum bedornte seinen Palmwein mit Stacheln. Alithea war mit allen Zuschauern ihres Kummers so vertraut und befreundet, daß sie nicht errötete, ihn zu zeigen und zu erleichtern durch alle ihre Tränen.
Endlich fiel der Vorhang vor diese Szenen der weichen Erinnerung - man zog wieder aus der Kirche, aber mit einem halb erleichterten, halb erschöpften Herzen - das Getümmel der Musik und der Menschen und der freie blaue wehende wärmende glänzende Himmel umfingen die Augen, aus denen die Nebel des Grams in Gestalt eines warmen Regens gesunken waren, mit Freiheit und mit hellen offnen Alleen der Zukunft und mit Leben und Kraft - der zweite Tempel der Liebe war aufgebauet, und die Sonne warf einen breiten Glanz in ihn, und niemand blieb betrübt, nicht einmal Alithea mehr, die wieder der Tumult des Gastmahls betäubte.
Das erste, was das eingesegnete Paar im verjüngten Pfarrhause, in der neuaufblühenden Laube gaben, war ein elterlicher heißer Kuß auf Alitheens verweinte Augen. Ach in dieser Minute hätt ich die Vokation des Sohns mit allen Freuden dieses Jahrs gekauft, um das Land der Liebe zu arrondieren mit einem neuen Augarten. Unsere ganze Kirchenschiffs-Mannschaft ging ins Erdgeschoß; im zweiten Stockwerk standen die nötigen Teller und Gläser und diejenigen Sessel, worauf man das kirchliche Vorlegewerk, nämlich die erste Kleider-Rinde abwarf. Unten in unserer Stube waren beinahe über drei lange Stubenbretter die Goldblättchen des Sonnen-Barrens ausgebreitet, und an dem Plafond schwankte das Deckenstück mit dem Schattensilber des Widerscheins gemalt, der von einem vorbeiquellenden Bach aufflatterte. Ich warf in jede Ecke dieser Stube, die das Kadettenhaus und der Treibscherben dieser Kinder und das Winterhaus der funfzig Jahre war, aufmerksame antiquarische Blicke. An der Wand hingen zwei homannische Spezialkarten, eine vom Fürstentum Flachsenfingen und eine vom fränkischen Kreise. Wahrscheinlich hatten sonst die erwachsenen Söhne ihre Länderkunde auf dem klassischen Boden von beiden geholt. Die flachsenfingische Karte war durch Entdeckungsreisen der Zeigefinger so sehr geschleift und wie Manschetten durchbrochen, daß wirklich vom ganzen Flachsenfingen, das alle deutsche Kreise wie ein Einschiebessen durchschießet, nichts mehr zu sehen ist als die Kreise allein. Franken fuhr noch schlimmer: durch die ewigen forcierten Märsche und Remärsche der Finger und durch das Rochieren der lehrenden und der irrenden Hand war das schöne Bamberg und Würzburg zu einer solchen tabula rasa abgeleert - indes das Gedächtnis der Kinder eine zu sein aufhörte -, daß ich nichts mehr darauf erkennen konnte als einen neuen Fluß oder Kanal, der die Saale, die Rednitz und den Main unverhofft verband: die Fliegen hatten den Strom nach ihrer bekannten Interpunktion oder punktierten Arbeit, die eine stereographische Projektion der Flüsse auf den Karten ist, als Flußgötter mappieret. Konnt es mir unerwartet sein, daß auch die Reichsstadt Nürnberg - die so wichtig für Kinder ist, nicht sowohl durch die Spielware als durch die geographische Lage, da sie von Deutschland, wie Jerusalem nach den Juden von der Erde, der Nabel ist - völlig durch den Knochen- und Salpeterfraß der Zeit oder durch die Erdbohrer der Schreibfinger dermaßen weggebohret war, daß ich vom Solitäre nichts mehr vorfand als die preußische Fassung (die Angrenzung)? -
Ich hob im Storchennest dieser Stube jeden Stecken auf und sah ihn an. In die eine Vertiefung war eine kurze Bank gemauert, auf der sonst die Kinder saßen, wie ich an den ausgehöhlten Nischen der Lambris ersah, in deren Stampftrögen der Fallbock ihres Stiefels gearbeitet hatte. Auf der Fensterbrüstung sucht ich eingelegte Schnitzarbeit ihrer Hände auf. Auf dem Ofen stand eine aus einem Kartenblatt geschnittene Schneckentreppe, deren Zentrum auf dem Kopf einer Stecknadel ruhte und die die Wirbel der erwärmten Ofenluft umdrehten: es war die einzige tolerierte Spielkarte im Haus. Die alten Schreibbücher der Kinder lagen auf dem italienischen Dache eines Gitterbettes aufgebahret, als gingen diese morgen damit wieder zu Scheinfuß: bloß ihre Abcbücher waren als Fleißgeschenke in den Händen hausarmer Abcschützen. Die Weihnachts-Spielwarenlager der vier Herren Söhne wurden am heutigen Adjudikationstermin den zwölf Enkeln zugeschlagen und ausgehändigt, denen wie den Aposteln einer aus dem Dutzend fehlte.
Ich und der Jubelsenior gingen als die Magnaten unter den Mannspersonen miteinander vor dem Essen auf und ab und beurteilten die jetzigen Kriegs- und Friedensplane; die drei Handwerker saßen, und Scheinfuß stand, und dieser besetzte Gerichtsstand beurteilte wieder, und der höfliche Ingenuin sprang den Weibern bei und stellte nicht den elendesten grand maitre de garderobe vor: inzwischen horcht er manches von uns weg. Ich reizte den Jubilar zu Erzählungen, um meine zu behalten, d. h. meine Esenbeckschen Mythen: ich achtete ihn jetzt viel zu hoch, um ihn noch mit dem kleinsten notwendigsten Hokuspokus zu blenden. In seiner Seele war der ganze Wolken-, Sternen- und Freudenhimmel wieder licht und blau: die Gewohnheit macht in einem Geistlichen den Weg von der Rührung zur Lust gebahnt, und er rutschet die Himmelsleiter wie Matrosen einen Mastbaum so leicht herab als hinauf. Schwers gehörte ohnehin zu den Menschen, die (nicht mit einer leichtsinnigen, sondern mit einer starken Hand) das nasse Auge bald trocknen, so wie ein echter Demant nach dem Behauchen leichter wieder glänzt als ein falscher. - Er legte mir freudig den Bauriß auseinander, den er zu einem bessern Pfarrhaus von der Bauinspektion mit 30 Suppliken endlich erbettelt hatte: »Ich erlebe den Bau nicht,« sagt er ernsthaft und gutmeinend, »aber meinem Kinde, denk ich, soll es zugute kommen.« Ich sagte: »Sie sehen wie David den Aufriß des Tempels im Traum, aber sein Sohn Salomo kann ihn aufführen und betreten.« Er nickte und hielt es für Ernst und führte mich mit dem Ohrfinger in alle abgezeichnete Gemächer und Holzkammern des Architekturstücks hinein und sagte, er hoffe, darin sei schon Platz genug, etwas Hübsches aufzustellen. Er klagte, wie Landgeistliche pflegen, überhaupt über die fürstliche Kammer und führte das abgedroschene Sprichwort an: In Camera non est Justitia , und über die Regierung, die mit jener aus einer Karte spiele, und über die Erbverbrüderung der Kollegien und Machthaber in Residenzstädten, wogegen kein armer Kandidat auf den Dörfern aufkomme. Dadurch frischte er ein elendes Kriegshistörchen in meinem Kopfe auf, das ich ihm gern erzählte wie jetzt dem Leser.
Im siebenjährigen Krieg ritten durch einen Marktfleck schwarze Husaren, die, wie sich alle unsere Autoren ausdrücken - denn ihre Einkleidung ist die eines wandernden Simultan-Wachtrocks -, gern alle Blümchen pflückten, die am Lebenswege dufteten. Die Freudenblümchen, worauf die pflückenden Husaren stießen, waren Semmel und Blutwürste. Das Detachement, das vor dem Bäckerladen vorbeiritt, nahm jene, das andere, das vor der Fleischbank vorüberging, nahm diese als Geiseln mit. Als die terminierenden Detachements wieder nebeneinander ritten und jedes etwas anderes in Händen hatte, alliierten und konföderierten sie die Viktualien so: ein Held mit einer Semmel trabte auf seinem Pferd zu einem mit einer Wurst - er reichte seinem Sattel-Nachbar (man ritt immer weiter) die Semmel zu einem Abbisse hinüber und sagte: »Beiß, Kamerad!« - dieser hielt seinen Nahrungszweig, die Wurst, über das zweite Pferd und sagte: »Beiß, Kamerad!« - und so ritt und aß dieser Wehr- und Nährstand im Straßen-Pickenick unter gleichen Schritten und von einerlei und auf zwei Sätteln wie auf zwei Tellern weiter, wert, im Verse einer Borussias länger zu essen und zu reiten. - - Daran denk ich, sooft ich sehe, daß in einem Korrelationssaal zwei Dikasterien oder auch zwei Fürsten, wenn sie nebeneinander reiten, einander Wurst und Semmel alternierend über die Pferde geben und sagen: »Beiß, Kamerad!«
Endlich wurde zur Tafel weniger geläutet als gepfiffen (mit dem Munde), der Senior betete. Die Enkel hatten es bei den Müttern herausgebracht, daß sie an einer zweiten freiern Tafel, draußen am Bettische der Nebenstube, sich zusammensetzen und so viel Tunke und so wenig Brot, als sie wollten, nehmen durften, so wie bei der Krönung, aber aus schlechtern Gründen, der Kaiser mit seiner Krone an einen Tisch gesetzt wird, die Kaiserin an einen tiefern und an einen noch tiefern die Kurkonklavisten. Der Freudenmeister Esenbeck saß mit Vergnügen weit von seiner Kebs-Braut oder Speditions-Verlobten Gobertine ab, und sein rechter Tischnachbar war ein leerer Sessel oder Thron, worauf sich die schöne Adjunktussin selten setzte, weil sie tausend Dinge an der Herrentafel zu besorgen hatte und hundert an der Kinderbank.
Suppe wie Kaffee feuchten jede menschliche Sprachmaschine elend an, daß sie verquillt und stockt; und nur mit dem Rauche von beiden zieht die stumme Langweile davon: hingegen wenn die Extrakte kommen, die unsere Sprachwalzen einölen, die Bischof-, die Punschextrakte, die Trauben-Auszüge, dann laufen in den anscheinenden Koch- und Tee-Maschinen die lauten Räder einer Sprachmaschine um, und jeder will des andern Bruder und noch dazu der Bruder Redner werden, und die feurigen Zungen sind nicht mehr zweizüngig, und die welken dünnen Infusionstierchen und Kleisteraale von Ideen leben von wenigen auf sie gesprützten Tropfen wimmelnd auf und rudern sehr - und es kommt immer ein vernünftiger Diskurs zustande.
Der Langweile der Noachischen Suppenflut - oder wars dem ebenso beschwerlichen Sägeblock aus Rindfleisch? - hab ich die Schreckenspost zu danken, die damals wie ein Maifrost mitten in meinen Wonnemonat mit Eiszapfen fuhr und die noch bis diese Minute ihren Gift behalten, da ich auch den jetzigen Mai des Lesers mit diesem Schrecken erkälte. Der Jubilar erkundigte sich nämlich, um nur eine Materie zum Reden an die Hand zu geben, was für eine Kutsche unter dem Gottesdienst durchs Dorf gerasselt sei. Kein Mensch wußt es als der fatale Scheinfuß, welcher antwortete, er sei unter dem ersten Teile ein wenig auf den Gottesacker hinausgegangen, um nach den Chorjungen zu sehen, ob sie einander nicht mit Knochen erwürfen. (Welcher entsetzliche Falsarius! der Wirbelwindbeutel bleibt wie alle Kantores in keiner Predigt, er glaubt, er müsse, wie in einer andern Mühle, nur wenn der Same des Worts zusammengemahlen ist, mit seiner Orgel klingeln.) »Da hab ich mich,« fuhr er fort, »als ich etwas fahren hörte, auf ein Grab gestellt und am Wappen es gesehen, daß es die Kutsche Seiner Durchlaucht wäre, und Höchstdieselben saßen auch persönlich darin und schliefen und machten sich eine Lustfahrt nach der Insel, wie ich vom Vorreiter habe.« Es ist die bekannte Insel der Vereinigung. Ungefähr wie Gichtmaterie setzte sich diese Schreckensmaterie in mein Handgelenk, und mein Löffel sank. Es war mir alles recht faßlich - von der entlegnen Insel konnte der Fürst heute nicht wiederkommen - es war überhaupt unbegreiflich, daß ich nicht eher weder die unwahrscheinliche Unschicklichkeit bedachte, daß der Fürst mit der Vokation als sein eigner Kanzleibote aufs Land fahren werde, noch die Möglichkeit, ihm sei eine so kleine Sache und ein mit so wenigen Umständen entlocktes Versprechen entfallen. Kurz das schien gewiß, daß wenigstens heute der Adjunktus noch keiner werde und daß morgen die Geliebte weinend fliehe. Das schmerzte mich. Der so oft erledigte heilige Stuhl neben mir hielt mir immerfort ihre morgendliche Auswanderung aus dem Vaterland der Stube vor, und ich hörte sie aus der Zukunft herüber klagen, und mich nagten die Hoffnungen, wodurch ich über ihre Knochensplitterung und Exfoliation nur ein dünnes Häutchen gezogen hatte. Alithea verbarg aus unschuldiger Eitelkeit den vertraulichen Rapport nur wenig, in den sie die Temperamentsblätter und das lange Lied mit mir gesetzet hatten; aber ich war innen zu versehrt, um die Früchte von Weissagungen zu brechen, welche Lügen wurden.
In dieser Gleichgültigkeit gegen meine dürre unfruchtbare Rolle übersah ichs ganz, daß man meine zwei Schaugerichte, die Goldschleien und den alabasternen Tafelaufsatz - er stellte Tempelruinen vor -, gar nicht aufgetragen hatte.
Die freundliche Familie verstrickte sich immer inniger mit allen meinen 40 Nervenpaaren. Ich schloß mit dem Hamstergräber einen wichtigen Kaufkontrakt über zwei Scheffel Hamsterkorn : »Wir Esenbeck«, sagt ich, »essen das Brot aus einer Hamster-Verlassenschaft ungemein gern.« Ich hoffte, dieser Hamsterschatzgräber sollte mich im Handel ansehnlich betrügen; indes tat er, was in seinem Vermögen stand. Gemeine Leute meiden und hassen den Betrug, ausgenommen den, den sie in ihrem Handwerk begehen können. Der Hamster-Spion war ein guter Nachbar, ein besserer Vater und der beste Hauswirt; aber ein wenig derb und sportelsüchtig: er glich der Flachsenfinger Bürgerschaft, die Christum ersuchen würde, die Teufel lieber in sämtliche Bürger als in ihre Schweine fahren zu lassen. - Was den Buchdruckerherrn anlangt, so sagte ich ihm, ich schriebe für die gelehrte Welt jährlich einige Manuskripte, und er sollte die Freude haben, eines zu drucken, das ich dem heutigen Feste zu Ehren betiteln wollte »der Jubelsenior«: er wird sich wundern, wenn er diese Zeile hier auf dem Aushängebogen erblickt. Es ist ein ehrliebender feiner leiser Mann, der sich nichts rühmt als seiner Schwachheit, nämlich seiner Kunst, und der mit den Benediktinern täglich Gott anruft, er solle ihn nicht darüber übermütig und zum Narren werden lassen, daß er lesen kann. Er griff in die Tasche und zog vier Lot große R und ein Viertelpfund Gedankenstriche heraus: »Ich habe« (sagt er) »nur nichts bei mir; aber Sie sollen sehen, was Berliner Druck ist und was meiner. Frau, du kennst meine grobe Sabon-Fraktur, die grobe Missal-Fraktur, die kleine Missal-Fraktur, ferner die Doppel-Mittel-Fraktur, ferner die Borgeois-Fraktur, auch die Nomparel-Fraktur - Frau, sage du, was zu sagen ist!« - Sie antwortete außer allem Kontext: »Und vom Setzen laufen meinem Manne die Beine erbärmlich auf. Wenn ich glücklich niedergekommen bin, so will er selber alles verlegen und seinen eignen Buchhandel anfangen.« - »Das können wir gottlob«, sagt er ungemein zufrieden. »Im Grunde«, sagt ich, »schwillet ein Schrift-Steller so gut auf als ein Schrift-Setzer, nur jeder mit dem leidenden Teil: ich weiß das von mir.« Ich hob (um auf etwas anders zu kommen) wägend die vier Lot Kapital-R auf und nieder, um so lieber, da es mein eigner Namens-Initialbuchstabe ist und da ich schon 30 Stunden, wie Brockes ein Gedicht von 70 Versen, ohne mein R vollendet hatte, wiewohl ich das Leben in den Tagen ohne R (z. B. als Seraphinenritter im ersten Appendix) wie Krebse in den Monaten ohne R am schmackhaftesten finde. Nichts ist wohl einem Menschen schwerer, als gleich dem Rektor Uhse eine Weihnachtspredigt, oder gar wie der Neapolitaner Cardone ein Gedicht von 2000 Versen unter dem Titel: LR sbandita zu verfassen ohne ein einziges R. Unter die Vorrede dieses Appendix hab ich meinen Namen mit einem R aus jenen 4 Loten setzen lassen. -
Es ist leicht nachzuzählen und nachzuwägen, daß ich wirklich das ½ Pfund Schwersscher Gedankenstriche, dieser Gedanken-Exponenten, in gegenwärtigem kleinen Werk rein aufgebraucht: dieses Halbpfund war mir so lieb wie ein Gebind Gehirnfibern oder ein Strang und Dickicht Weisheitsbarthaare; denn Gedankenstriche sind die wahren Narben und Runzeln einer angestrengten Stirnhaut. -
- Auf diese Art hatt ich den drei Söhnen des Jubelgreises - denn der Pitschierstecher stach den Dante nach - etwas zugewendet; und der vierte war im Grunde noch immer nicht um seine Adjunktur: der Fürst hielt doch Wort, wenn auch erst übermorgen; nur ich blieb in einigen Lügen.
Jetzt fingen in diesem Sitze der Seligen die Himmelsbürger allmählich an zu glänzen und zu schreien, und das letztere geschah auch im limbus infantum in der Nebenstube - der Christophlet wiederholte seine Ronde unter lauter Anabaptisten, und nur ich entzog mich der Injektion und lauerte auf Wein - mit derselben Enthaltsamkeit ließ ich auch alle erste Gerichte, alle Mond- und Sonnenscheiben der Teller voll sauerer Karauschen, aufgerollter Plinzen, geräucherter Heringe kalt vorüberlaufen und war entschlossen, mich bloß auf den Hammelziemer, den ich unter dem Hauptliede zu einem Wildziemer überspicken sehen, einzuschränken und nachher auf den Prophetenkuchen, den der meinige (das Temperamentsblatt) und meine Prophetenschule mehr parodierte als verdiente.
Nicht ohne Vergnügen nehm ich wahr, daß ich bisher das Fräulein von Sackenbach ganz vergessen habe: denn sie gewinnt wenig dabei, wenn ich ihrer gedenke, und ich gar nichts. So traut und warm sie mir am Samstag erschienen war: so kahl und fahl kam sie mir am Sonntag vor. Ich hörte erstlich das Radschlagen ihres mit 32 Schwanzfedern besteckten Adelstolzes näher und das Rauschen ihres Stammbaums. Dazu kam zweitens, daß ihre Tabaksdose allen den jungen hübschen Weibern, die keine hatten, ein Eckstein, ein Zorngefäß und eine Pandorabüchse wurde. Es ist überhaupt ein angenehmes Schauspiel, zu bemerken, wie der bloße niedrige Stand solche Personen hindert, das Plombieren mit diesem Dinten-Pulver nur einigermaßen mit der hohen Reinheit der weiblichen Reize und der weiblichen Arbeiten zu vereinbaren: sie würden sich noch lieber mit diesem Futterkraut eine Pfeife stopfen als eine Nase. Mir hingegen war ein solches Ziborium voll Nasen-Häcksel nie ein anderes Zeichen, als der Bart der Schweizer ist , nämlich das eines schönen Alters ohne Eitelkeit, das sich aus seinen Reizen und Farben wenig mehr macht. Die Strafe, die Peter der Große auf das Schnupfen setzte, nämlich Aufschlitzung der Nasenflügel, vollziehet jeder Schnupfer nur langsamer an seinen selber; und da man noch dazu allen Blumen, die beinahe mehr für die Weiber als für die Männer zu wachsen scheinen, den kleinen Hafen durch dessen Füllen sperret oder vielmehr durch das Sandbad versanden lässet: so kann man, dünkt mich, nur von alten Damen fodern, daß sie schnupfen, von jungen kann man es höchstens wünschen. Einer alten Person stehet (wie alles Dunkle) dieses Schwarz auf Weiß, als ein Dokument des schönen Verzichttuns auf Gefallen, unbeschreiblich an, sie hält die volle Tabatiere gleichsam als das abgebrochene volle Stundenglas des Todes in Händen; der Tabak ist das reife Mutterkorn in der reifen Ähre; aber junge Damen sind selten imstande, die Dose aufzumachen und sich damit Blumen und Liebhaber miteinander zu nehmen; und die wenigen, die schnupfen, sollten nie auf die heruntersehen, die es nicht vermögen. - -
Ich hörte jetzt aus der Kinderstube die liebe Alithea zu den Dutzend Dutzenduhren sagen: »sie dürfe nicht, es gehöre dem fremden Herrn.« Ich fragte näher: es war mein Tafelaufsatz mit dem ruinierten Kathedraltempel, den die kleine Bruttafel draußen für mitgebrachte Spielware genommen hatte. Jetzt war es doch wahrlich Zeit, die zwei optischen Gaukel-Gerichte der erwachsenen Eßtafel vorzusetzen. Man trug sie herein, die Schleien und die Ruinen: »Solche Gerichte hat man« (sagte die fille dhonneur) »am Hofe alle Tage.« Der Hamstergräber dachte, als er den gläsernen Fischkasten sah, es sei eine Schüssel seltener ausländischer Karpfen, und hoffte anzuspielen, verhehlte aber nicht dabei (er hatte Christophlet im Kopfe), » die Gräten fräß er allein auf«, bis man ihn verständigte, daß solche Fische auf die Tafel kämen, nicht um gegessen, sondern um gefüttert zu werden, und zwar mit Semmelkrumen. So wenig weiß ein gemeiner Mann von den Skulptur-Viktualien der Großen, die - so ungleich den Gegenständen der groben Liebe - nicht anders genossen werden können als die der platonischen, nämlich durch anhaltendes Anschauen; Gerichte, für die es keinen elendern Koch gibt als den besten für grobe, den Hunger. Die künstlichen alabasternen Scherben des geistlichen Schafstalls (des Tempels) sah der Jubelsenior für ein gut herpassendes Modell des jerusalemitischen Tempels an, das seinen Jubel ziere.
Am Ende kam doch Wein und früher als der optische Wildziemer: ich hatte noch wenig gegessen und nichts getrunken. Wie belebte diese Feuertaufe, mit der ein Taufengel zu uns hereinflog, sämtliche Täuflinge! Die Kinder erwuchsen - die Stummen sprachen - und die Sehenden sahen mit zwei Augen - der angefeuchtete Faden der Rede spann sich leichter zwischen den Fingern durch, und der Demant des schimmernden Lebens wurde auf dieser Folie zu einem Doppelstein vergrößert, wenn nicht gar zu einem Stein vom ersten Wasser versilbert durch das bunte. Der Koadjutor Ingenuin wurde so kühn, Fragen an den Freudenmeister abzulassen und überhaupt frei zu denken in Fundamentalartikeln, z. B. der Altar-Servietten, ja sogar des heiligen Geistes. Fragt er mich nicht, ob man am Hofe redliche Heterodoxen dulde? Und konnt ich nicht zu meiner Freude antworten, man toleriere da wie in Holland gern jede Sekte, nicht nur Kopten, Lappen, Hindus, sondern auch Christen? »Zu meiner Zeit«, sagte die alte Fräulein, »glaubten wir noch viel von Helvetius und Voltaire.« Ich sagte, sogar der Unglaube sei jetzt eine Art von Frostnebel und so kalt wie der Glaube, und jeder könne sich ungestört in alle große Städte oder auch in feine Bücher wagen; so wie man über den Kot, wenn ihm der Frost Festigkeit gegeben, unbesudelt schreitet. Der Kandidat klagte, das Konsistorium denke leider anders und hälfe nur leeren Köpfen auf und vollen hinunter; »geradeso wie man«, sagt ich, »nur leere Fässer« - das Gleichnis war nicht weit hergeholet - »aufrichtet und nur volle umlegt; überhaupt nimmt man klüger die Vernünftigen statt der Vernunft gefangen, und am Ende kömmt doch diese mit jenen ins Loch.«...
Ich habe mich darüber aus meinem feurigen Perioden verlaufen. Der Hamstergräber, der seine Pillen nie anders als bloß verzinnte, konnte sie jetzt nur noch verblechen - der Buchdrucker bat mich, in meinem Manuskript vom Jubelsenior wenig zu korrigieren und auszustreichen, weil es angenehmer zu drucken sei, und die Kunstrichter begehren gerade das Widerspiel, weil es dann angenehmer zu lesen sei - Ingenuin sah seine Verlobte wärmer an und liebte sie mitten unter dem Essen, und ich tats ihm nach in beidem und hätte gern mehr getan, wäre nicht mein Sonntag im doppelten Sinn zu einem Fastensonntag geworden, der den ersten Christen das Küssen untersagte - und die kurzen Entfernungen vom Sessel und die längere vom Hause gossen Alitheen für mich und den Kandidaten zu einem Brennspiegel um, der (seine Chorda oder Sehne trug eine Elle aus) desto heißer auf uns schien, je länger der Weg seines Fokus war, so daß seine Strahlen in unserem Ich zu einem 28064mal kleinern Raum, als der Spiegel hatte, zusammengehen mußten - (Noch währet mein langer Periode fort) - Und wie wurden vollends, fast von einem Balthasar Denner, die beiden Jubelältesten auf meine Netzhaut gemalt, wie göttlich er, wie himmlisch sie! - Er, der Altvater, der glänzende Nestor, nicht nur aufgerichtet mit dem Leibe, auch mit dem Geist, er, der unter der Zahl jener wenigen Menschen stand, die der Sonnenfunke Gottes glühend aufriß vom Schmutz und Eise des Bodens, indes die andern seelenlos und wühlend auf der Erde umliegen - Sie, die fortliebende Altmutter, die von ihrem reinen Herzen nie mehr als eine Auflage von nicht mehr als einem Exemplar für nicht mehr als einen guten Freund gemacht hatte - diese beide, noch so unzerrüttet, unter so vielen Kindern, aber selber keine, da doch sonst Alter und Kindheit sich in einem Geiste berühren, wie man Vorrede und Ende des Buchs (und in diesem vielleicht) auf einem Bogen abdruckt - Sie beide, die nun, mit dem aufgewärmten Brautkuchen in der Hand und vor dem Abhub des vorigen Liebesmahls auf ihrem Teller, das weite, nie brach liegende Zuckerfeld ihrer alten Liebe um sich blühen und wallen sehen - sie, die noch einander die steifen, aber arbeitsamen Hände drücken und unter grauen Wimpern in Augen schauen können, in denen sonst die Flammen der ersten Liebe und vor denen sonst die Blüten-Reize der nun entlaubten Gestalt gewesen waren, sie, die jetzt, unter der nachsprossenden bunten Welt um sich, noch allein um ihre vorige Ähnlichkeit mit dieser und um ihre von der Zeit vermischten Schönheitslinien wußten, die aber ihre ausgelöschten Züge und Wünsche mit elterlichem Entzücken auf den Angesichtern ihrer lieben Kinder wiederfanden und die nun auf der einbrechenden Erde nichts mehr brauchten als jeder Gatte die treue Brust des andern, die so lange einerlei Banden und Freuden, eiserne und Blumenketten an die andere geschlungen hatten und die nun die Schlange der Ewigkeit vereint umwinden soll, gleichsam als der letzte, obwohl kühlste Ring der Erde....
Nein, ich vermag und verdien es noch nicht, die Erinnerungen und Freuden und Herzen eines stummen Paars zu malen, das, gebückt unter der niedrigen Todespforte der andern Welt, an der kalten langen Katakombe die Hände nicht auseinander lässet - - aber irgendeinen Greis oder eine Matrone, der oder die mich lieset, will ich erfreuen mit der innigen Teilnahme an ihrem verkannten Gefühle, mit der Hochachtung für verstummende Menschen, die das junge laute Jahrhundert vergisset, und mit der herzlichen Liebe für jede Brust, die einmal warm gewesen, und für jedes Auge, das einmal geweint hat. - - -
Gerade diese Phantasien warfen mich an der Schwersschen Eßtafel, fast wie jetzt am Schreibtisch, aus meiner Fröhlichkeit in eine höhere.... Denn obgleich der Vexier-Wildziemer schon eingelaufen und dem Hamstergräber unter das Skalpell seiner Schneidemühle gestellet war: so kehrt ich mich doch an nichts, sondern stand mit einem Ordensbecher auf, um die Tisch-Kommunikanten zu einem gratulierenden Toasten aufs Wohl der alten Leute zu befeuern, und sagte, weit vom Becher: »Auf Ihre künftigen schönen Tage, Sie guten Alten!« und hier standen alle Kinder auf - »und darauf, daß alle Ihre Stunden still und froh vergehen - und daß alle Ihre Kinder glücklich sind - und daß alle Ihre Enkel gut und glücklich werden -- und auf Ihr langes, langes Wohlergehn!« - Der Greis sah erhaben auf und fügte bei: »und auf unser sanftes Sterben.« Seiner Gattin gingen die Augen über, und sie sagte: »so schön, wie meine seligen Töchter gestorben sind.« Hier umfaßten sich die zwei Alten sanft in ergebener Rührung, und kein Mensch sprach, und jeder weinte.
Der Schulmeister suchte seine eigene Erweichung dadurch zu verkleiden und zu steigern, daß er anriet: »man sollte die alten Hochzeit-Carmina, die damals auf die Vermählung des Herrn Seniors gedruckt wurden, jetzt vorlesen, weil darin die schönsten Wünsche ständen.« Er hoffte, sie selber vorzulesen. Die Seniorin brachte sie erfreuet. Der Buchdrucker rief seinen kleinen Karl her und sagte zu ihm: »Dein Großvater will hören, ob du lesen kannst.« - »Ja wohl kann ichs schön«, sagte das herandringende frohe, aber ein wenig blasse Kind und nahm das Hochzeitgedicht und stellte sich zwischen die Großeltern und las es laut und langsam ab. Ich beschreib es nicht, wie tief jedes Wort und jeder Tonfall des unschuldigen Enkels in lauter weiche Herzen ging, da er jetzt neben dem vollendeten Lustschloß der Alten den prophetischen und dichterischen Bauriß desselben aufschlug und aus der Vergangenheit die frühen Bilder und Wünsche der jetzigen Gegenwart heraufzog. Die Stimme des unbefangnen Kindes, das den poetischen Wunsch zahlreicher Enkel ohne die Beziehung auf sich ablas, klang rührend wie ein redendes Herz; und zu den zwei veralteten Menschen, die schon so tief drunten unter der dumpfigen Erde standen, wehten die Töne und Lüfte der freien hellen Jugend hinab, wie sich in die Bergwerke der Blütenduft des äußern obern Frühlings zieht. - Ein fliegender Sonnenglanz, den entweder eine aufgehende Fenstertafel des Schlosses oder ein blendender Spiegel eilig über das fromme stille Angesicht des Greises zog, ließ eine solche Verklärung darauf zurück, daß ich hingehen und mich näher an den verschönerten Alten und den kleinen Leser drängen mußte. - - Und hier trat Alithea, für die Nachmittagskirche aufgeschmückt, röter vom Putzen und Schämen herein; und als sie in Amandens, in meinen und in den alten Augen so viele Tropfen stehen sah: brachen ihre gern in die lang bezwungnen Tränen aus, und sie weinte mit, ohne zu wissen worüber, und das überladene Herz konnte nicht unterscheiden, zerrinn es vor Freude oder vor Schmerz. Nein, sie konnt es nicht eher unterscheiden, als bis die Mutter ihre Hand ergriff und sie mit einer neuen Liebe drückte.
O wenn es schon das Herz bewegt, nur zwei Menschen zu erblicken, die sich einander an den kindlichen - oder elterlichen - oder freundschaftlichen - oder verschwisterten Busen fallen, wenn der Akkord oder das Duodrama eines harmonischen Menschenpaares schon so himmlisch in uns widertönt: mit welcher gewaltsamen Wonne wird unser Innerstes erschüttert, wenn das ganze vollklingende Doppelchor eines Familienschauspiels der Liebe unser zitterndes Herz mit tausend Tönen fortzieht! Der Einsame mit dem vergeblichen Wunsche der Liebe erquicket mich schon, aber er erzürnt mich gegen die Menschen, unter denen er verarmt; allein dann kann ich schöner alle Menschen lieben, wenn ich statt eines glühenden Herzens ein Sonnensystem verwandter Herzen sich aneinander ziehen und zusammen brennen sehe. - -
Der Tropfen der Rührung verdunkelt das Auge, indem er die Gegenstände vergrößert und verdoppelt; und in dieser schönen mikroskopischen Verfinsterung wollt ich den erweichten Vater bitten, seine tugendhafte leidende Tochter morgen nicht aus dieser heiligen Stätte auferstandner Freuden zu verweisen, da sich gewiß ein schöner Wechsel ihres Schicksals nahe; aber als ich meine Bitte anfing, unterbrach sie der seltsamste Zwischenfall...
Ein vergoldeter Wagen rasselte um die Fenster und hielt an. »Wahrhaftig der Fürst!« sagt ich warm (denn künstlich-kalt hätt ichs gesagt, wenn ich ihn noch vermutet hätte). Die Söhne blieben alle stehen und setzten nur die Gläser nieder, doch nehm ich den Prosektor des Hammelziemers aus. Viele fuhren hinaus - Scheinfuß hinein (in die Kinderstube) - die zwei Alten und ich und das zuckende Fräulein gingen entgegen - nur der Hamstergräber allein verharrte am Tische und kredenzte im Sturme den Ziemer - Alithea weinte vor freudiger Angst und ängstlicher Freude und glaubte an wahre Propheten.... Endlich hob ein Bedienter und der Adjunktus den glasierten, getäfelten, appretierten Herrn heraus - ach Gott, es war der bloße echte Esenbeck. In wenig Epopöen von Bodmer und Blackmore steckt eine Hyperbel für meinen Todesschrecken über eine solche Konfrontation des Zufalls...
Das Jämmerlichste war allezeit die rote Stirn-Arabeske und Kosekante des Muttermals... denn unsere purpurne Magnetnadeln deklinierten verschieden, seine östlich, meine (wie im 16ten Jahrhundert) nach Abend - im Spiegel wich zwar auch meine östlich ab, aber (das hatt ich am Morgen nicht erwogen) eben weil er von allem umgekehrte Gemälde gibt - - Der Original-Esenbeck wurd ein wenig beschämt über den roten nachgemachten Elektrizitätszeiger am Pseudo-Esenbeck; aber er verbiß das Staunen und sagte aus Vergessenheit oder Bosheit, wer er sei, und gab mir, was er brachte: es war freilich ein fürstliches Handbillett und die Vokation. Aber o Himmel, wer schildert die unähnlichen Pulse staunender - erzürnter - erfreueter - verdutzter Menschen ab! Niemand als Doktor Gaubius, der einen wallenden Puls (undosum) - einen zweischlägigen (dicrotum) - einen aufhüpfenden (caprizantem) - einen krabbelnden (formicantem) - einen ausgezackten (serratum) - einen versinkenden (myurum) kennt und nennt. Am meisten mußte mich Amandens Erschrecken - erschrecken: ihr echter Amoroso stand mit seinem redenden Stirn-Wappen gegenüber dem Falschmünzer, der gestern ihre Vergangenheit vernommen hatte und in dessen Händen nun ihr erotisches Brieffelleisen war. Die Jubelleute hielten heimlich in ihren Köpfen den Lügen-Esenbeck mit dem Lügen-Lederer zusammen und zogen Schlüsse. -
Noch immer sagt ich nichts von der Vokation. Der genuine maitre de plaisirs ging höflich, unter der gleichgültigen Erwartung des langweiligen Effekts, den die abgegebene Vokation unter allen mache, zum Fräulein von Sackenbach und freute sich höchstens, solches einmal zu sehen. Amanda, die ihn jetzt recht leicht von seinem Kopisten und Postiche-Namensvetter absonderte, konnte vor Grimm und Staunen die Zunge nicht heben. Der Hofmann fand in der Langweile des Erstaunens wenig Kurzweile. Niemand als ich und er wußte den Inhalt der Vokation voraus. Ich sagte jetzt zu dem Fräulein und der Jubel-Genossenschaft: »ich hätte keine bessere Charaktermaske gewußt, um meinen Prophezeiungen einer Beförderung des Herrn Kandidaten Glauben zu erwerben, als eben die des Herrn von Esenbecks, der für alle meine alttestamentlichen Weissagungen die neutestamentliche Erfüllung gütig mitgebracht habe.« Das neue unwissende Staunen amüsierte Esenbecken nicht sonderlich. In der Eile wußte das Jubelpersonale nicht recht, was es mit dem vornehmen gütigen einsilbigen Herrn vornehmen solle; aber er selber wußte noch weniger, was er mit dem Personale anzufangen habe - da er nun zu dem Verdruß, den ihm meine Stirn schon gemacht, sich von Amanden noch neuer Zuschüsse versah: so nahm er einen verbindlichen Abschied und setzte sich froh in seinen Wagen, besonders da er, wie er sagte, noch heute auf die Insel nachmüsse. Ich kann nicht behaupten, daß mir seine Auswanderung und Kotzebuische Flucht (nach Paris) äußerst zuwider war: denn außer dem, daß er in dem lymphatischen System unserer Empfindsamkeit nichts war als ein Extravasat, so wurde durch ihn, durch Gobertinen und mich ein erbärmliches dürres Zölibats-Kleeblatt formiert, das - denn Esenbecks kontrakte Kontrakte von Kebs-Ehen zähl ich für nichts - so wenig Kinder vorzuweisen hatte als das kanonische Kleeblatt der drei geistlichen Kurfürsten.
Nun war es Zeit, geheimnisvoll zum Fräulein zu treten und solches zu beruhigen und zu verständigen: ich sagte ihm geradezu, ich sei nichts als ein Bücherschreiber und also insofern nur mein eigner maitre de plaisirs, hielt um Ablaß für meine bisherige Kühn- und Falschheit an, beteuerte aber zweierlei: »erstlich sie werde sogleich hören, daß durch den kurzen Gebrauch des Esenbeckschen Namens dem ganzen Pfarrhaus großes Heil widerfahren sei - zweitens sei ihr (Amanden) selber die Rückkehr ihrer Briefe assekuriert, da ich nun durch den Besitz der seinigen imstande wäre, ihn mit der Promulgation derselben zu bedräuen und zu ängstigen.« Denn in der Tat konnt ich jetzt ihn - aber sie konnt es vorher nicht -, wenn er nichts herausgab, zum Helden eines Lust- und Mokierspiels erheben, da keine Muskeln einem Weltmann größere Narben stoßen als Lachmuskeln und keine scharfe Spitze tiefere als die am Epigramm. Kurz er mußte. - Am Ende konnte die Sackenbach - so groß die Risse und Frakturen ihres Adelsdiploms und so klein mein papierner und gelehrter Adel war - doch mit dem gegenwärtigen Epopten in ihren eleusinischen Mysterien voll Göttergeschichten und mit dem Schutzheiligen und Messias des erretteten Pfarrhauses nichts weiter machen als - Friede.
Jetzt war es meine Pflicht, endlich einmal die Vokation zu promulgieren. Ich promulgierte und verlas solche und setzte bei, dem Fräulein von Sackenbach habe jeder von ihnen bei der Sache das meiste zu danken. Die Sippschaft war sprachlos - dann gab ich dem Senior das Dekret und die Brille - und als ers halblaut vor uns allen gelesen hatte, sagt er: »Ja, Gott hat geholfen - du, mein jüngster Sohn, trittst in meine Fußstapfen und bist jetzt zum zeitigen Adjunktus in Neulandpreis aus Gnaden voziert.« - Ingenuin nahm das Blatt eilig, aber er konnt es nicht lesen und fassen, das rote Titelblatt der Entzückung stand auf seinem Gesicht, er mußte ohne Besinnen es mir verbeugend geben. Nun blieben auf allen Zungen die Laute aus, aber in keinem Auge die Tränen. Der alte Vater nahm freundlich seiner Tochter Hand und sagte: »Du kömmst also morgen nicht von mir, und nun bleibst du bei deinen Eltern, bis sie sterben.« - Die Mutter fiel freudetrunken dem beglückten Sohn ans Herz und sagte: »Gott schenkt mir heute mehr Freude, als mein altes Herz wird tragen können.« - Und Alithea fassete dankbar weinend meine Hand und sagte mir: »Ja wohl haben Sie heute recht geweissagt«, aber sie besann sich schnell - denn eine Verlobung hatt ich prophezeiet - und setzte dazu - »Aber das wußten Sie doch nicht voraus, was wir Ihnen zu danken kriegten.« - Und dann blickte mich die alte Mutter mit dem redlichsten weichsten Auge voll überschwenglichen Lohnes an. - O ihr guten Alten, die ihr gleich den Federnelken tief in das Erdenbeet (nur wenige Blätter liegen noch auswärts) eingesenket seid, ihr guten Kinder, denen das Schicksal, wie gefüllten Hyazinthen, bei dem Versetzen den Boden recht hart zusammentrat, wie unbeschreiblich schön und schimmernd und erquickt steht ihr alle unter der Wässerung der Freudenzähren - und ein laues Wehen spült die Tropfen weg, und eine ganze heiße helle Sonne liegt auf eueren Blumenkelchen!...
Aber das Saitenspiel der Entzückung mache nun kleinere Schwingungen! Unser aller voriger Bund war zertrennt - ein neuer geknüpft - das Glockenspiel der innern nachklingenden Entzückungen machte taub, und der Leuchtregen der frohen Tränen machte blind - die Kinder lachten lauter und liefen schneller - Scheinfuß läutete heftig zum Nachmittagsgottesdienst, und niemand hörte und gehorchte - - - Aber endlich gingen doch schon beim vierten Verse die zwei Jubelleute in die Kirche.
Hingegen die überraschten erhitzten Professionisten blieben sämtlich sitzen und wollten kein Gebet mehr tun als das nach dem Essen und suchten sich an den oft angezognen Ziemer (er stand bisher wie ein alter Klassiker oder wie ein neuer ungenossen da und wurde kalt unter Warmen) gleichsam wie an ihre Kiblah, an ihre Handwerkslade zu halten, oder wärs ihr Schwerpunkt und primum mobile. Der neue Adjunktus selber wäre freudig bei der lustigen Brüdergemeine verblieben, hätt ihn das Zuggarn des Jubilars (es war aus einigen Mienen gestrickt, die dem Neuvozierten statt der profanen Werkstatt eine heiligste zeigten) nicht weggeschleppt. Gobertina wollte nach; Alithea mußte nach.
Nur mich brachte niemand in die Kirche: nachmittägige Kirchenandacht kömmt mir oft vor wie vormittägige Abendmusik. Jede Vesperrührung, die etwan zu gewinnen war, wurde nicht nur durch die größere des Morgens verschattet und verbauet, sondern auch durch das Magenfieber vom Mittags-Kleefutter: die mit dem Honig der Nahrung verpichten Bienen-Flügel tragen die Seele auf keine Blume.
Aber die Wahrheit zu sagen, die Sache war die, ich wollte gern den - gegenwärtigen fünften offiziellen Bericht des Appendix schließen: noch ist er nicht geschlossen, die Sonne steht schon tief und mehr an der Feder als auf dem Papier, und jede Minute muß ich aufsehen, daß Alithea aus dem Pfarrhause heraufkommt und mich fragt, ob ich ewig sitzen und schreiben will.
Man muß nämlich wissen, daß ich vor drei Stunden, als die Kirchleute noch sangen, mit dem vollen Herzen meines Bocks und mit gegenwärtigem Papier auf den bekannten Birkenhelikon gestiegen bin und mich vor ein eingewurzeltes Tischchen auf die um die drei Hängebirken wie ein Kragen gekrümmte Zirkelbank gesetzt habe, wo ich - eben sitze und den heutigen Sonntag abschatte. Ich bat den Buchdrucker, niemand auf den Berg zu lassen, und es werde sein eigner Schade nicht sein. - Er tats.
Nun sitzt der Leser vor dem vollendeten Sonntagsstück und vor der stereographischen Projektion erhabener Fakta - - - und jetzt seh ich nicht ein, warum ich nur noch einen Strich dem Tableau geben soll. Ingenuin ist voziert - Alithea ist adjungiert - der Senior ist das erstere von neuem - die Seniorin das zweite von neuem - das Fräulein ist in integrum restituiert - die drei Handwerker haben Arbeit von mir - - - wahrhaftig wenn ein Autor es so weit gebracht hat mit seiner Mannschaft und Kolonie, daß er sie alle auf eine solche Ruhe- und Fürstenbank niedergesetzt, so darf er schon von seiner aufstehen und fortgehen. Als Artist lös ich mich von der Familie ab, als Mensch und Gast verquick ich mich erst recht mit ihr: denn ich gehe vor acht Tagen nicht aus Neulandpreis, die ich auf eine kritische Beschneidung des Herzens, der Ohren und Lippen dieses Werkleins verwenden will, und trage noch, wo Ausschweifungen fehlen, die nötigsten gleichsam als Extravasate und Speckgeschwülste im mystischen Körper nach, oder in einer schönern Metapher, ich putz ihn mit Garnituren von Barockperlen.
Dennoch würd ich mir nichts daraus machen, den Malern nachzuschlagen, die das arrondierte Gemälde mit einem Besatz und Anschrot fremder Gegenstände vom Rahmen isolierend entfernen wollen: aber ich will bekennen, was ich fürchte. Ach wenn alte eingewinterte Herzen schnell in der schnellen Wärme der Freudentränen wie gefrornes Obst auftauen: so hält sich die zertriebene Textur nicht lange mehr. - Der Mensch, der vor der Marter aufrecht blieb, wird oft von der auflösenden schwülen Entzückung gebeugt und bis auf die Erde, wie Klosterbilder sich krümmen, wenn man sie warm behaucht. Und wenn dann von diesem für einen Ton bestimmten Saiten-Paar der Ehe die eine Saite unter dem heftigen Anschlagen der Freude risse, so würde bald auch die andere springen. - Und diese zwei Leichen hätt ich dann in diesem meinem Sommer-Pavillon, wie in einer kalten päpstlichen Kirche, auszusetzen.
Wie toll! - Seh ich nicht jetzt drüben auf dem reparierten Straßendamm die zwei alten Leute zwischen ihren Söhnen gehen, und der Weginspektor, der Hamstergräber, zeigt ihnen, wie alles ist? Alithea fehlt, denn sie kocht; inzwischen war sie gegen vier Uhr hier auf meiner hohen Lehrstelle und Loge zum hohen (physischen) Licht gewesen, um mir, wie sie sagte, den gravierten Zahnstocher mit dem furnierten Zoilusgriff unter die Birken nachzutragen - - leider wird auch mehr als ein Leser im fünften Bericht den schattenden Durchgang einer solchen Venus durch meinen Phöbus oder auch durch die Abendsonne observieret haben. Wir sind jetzt einander viel näher, seitdem sie weiß, daß ich in der Welt gerade so viel Figur mache, als ich habe, nämlich nur meine eigne statt der des vornehmen Herrn v.Esenbeck. Ich sagte gleichwohl der Lieben, der Appendix und der Tag schlössen sich nur vereint, und darnach könnte sie in Gottes Namen wiederkommen und mit mir treiben, was sie wollte.
Und in acht Minuten (das weiß ich, da die Sonne, wie unterirdisches Schatz-Gold, immer weiter versinkt mit ihrem überirdischen, durch ein Abendrot nach dem andern) steht sie da. Überhaupt welch einem Abende seh ich entgegen! Denn das prophetische Gerüste aus Kaffeesatz, aus rastriertem Hand-Geäder und krummen Temperamentsblättern trag ich so wie die Esenbecksche rote Goldader und Stirn-Äquatorlinie ab, da nun die größte Favorita endlich fertig steht; und ich brauche weder (wer zwänge mich?) mehr zu weissagen noch zu lügen noch freizudenken, sondern kann so viel Religion haben, als wär ich zwischen meinen vier Pfählen. - Mit welcher süß schauernden Brust werd ich, halb von Morgen-Phantasien, halb von Abendwolken rotgefärbt, an Alitheens Hand, die ich heute in die weiche ihres Geliebten betten helfen, von diesem glimmenden rauschenden Vorgebürge der guten Hoffnung hinunterziehen ins geheiligte beruhigte Abendzimmer unter lauter Menschen ohne Falsch! - Noch dazu kann ich alles genießen, ohne daß ich im geringsten aufpassen oder abservieren und memorieren muß, weil dieser Appendix dann schon abgeschnappt und unfähig ist eines neuen Nachtrags von lebendigen Zügen. - Mit welcher reinerer Wonne, als ich heute fühlen konnte, werd ich die fromme der befriedigten Alten teilen, deren schlaffen Mund jetzt nur das lächelnde Entzücken, nicht der Schlagfluß verzieht und die so spät im Leben Wohllaute der Jugend, wie Sterbende Musik, vernehmen! - Und mit welcher Stärke werd ich, da die Menschen sonst füreinander nur die Echos ihrer Hiobsklagen sind, wie im Mausoleum der Cäcilia ein Widerhall als Repetierwerk der Trauerstimmen eingebauet war, unter so vielen groben und klaren, nahen und fernen Echos der Freudentöne selber eines vorstellen! - Und dann, wenn wir alle an der großen Eßtafel das sorgenvolle Herz ausgeschüttet und es wieder mit dem Labewein der Freude, der Liebe und der Tugend nachgefüllet haben, und wenn die zwei müden Alten und die abgehetzten Enkel eingeschlafen und die Handwerker stummer und träger geworden sind, mit welcher labenden Erweichung, die den schwülen Lebens-Jubel kühlt, werd ich schon ganz spät, wenn die Silbersolution des Mondes in großen Silbertropfen von den regen Birkenblättern gleitet, und wenn die Ewigkeit die Leichenfackeln der Sterne um die schwarze Bahre der verhüllten Erde stellt, werd ich so spät, sag ich, mich von den weichen, tief gerührten Brautleuten auf den Gottesacker führen lassen, wo die keuchende Menschenbrust gleichsam unter den Zypressen der Insel Kandia einen erleichterten Atem holt! - Und dann, wenn wir über die grünen Stoppeln des abgemähten Kirchhofs gehen, den die weißen Grenzsteine und die braunen Maulwurfshügel des Lebens zerstücken, über diese verschüttete Grubenzimmerung des stumm arbeitenden Todes und über diesen vollen zugedeckten untersten Schiffsraum der schwimmenden Erde, wenn alsdann das tropfende, vom Hügel niedergezogne Auge seine Träne fallen lässet, indem es aufwärts blickt unter seine Sterne hinein, und wenn uns dann der sanfte Ingenuin vor die zwei buntbestrichnen hölzernen, aber nun bleichern und morschen Schließquadrate der Lebensbücher seiner Schwestern bringt, und wenn er schon weint und seine Braut und ich, eh er noch gesprochen hat, wie süß und leicht wird dann mein Herz zergehen! - Und wenn endlich der Bruder spricht und uns die Namen und die Reize der entflohenen Schwestern sagt und wenn der volle Puls der heutigen Freude das enge Menschenherz mit dem zugegossenen Blute nicht nur voll und schwer macht, sondern auch weich, und wenn zuletzt der überwundne Jüngling die warme Hand seiner nachweinenden Alithea wie einen Trost ergreift und sagt: »Nun bist du meine einzige Schwester....« Nein, sage das nicht, Ingenuin, ich hatte ebenso viele Schwestern wie du, und die Erde hat sie verhüllt, ich will sie nicht so spät heraufsteigen sehen aus dem toten Meere der Vergangenheit...
Ach warum soll sich denn der Mensch lieber nach der Vergangenheit als nach der Zukunft sehnen, da bloß ein Gott eine vergangne Ewigkeit hat und der Mensch nur eine künftige?....
Du bist hinuntergezogen, goldne Sonne, und hast die abblühende Rose unsers Abends mitgenommen und sie den erwachten Menschen der neuen Welt als die Rosenknospe eines frischen Morgens gegeben!....
- Wie? ich hätt es nicht merken sollen, daß eine schwer atmende Brust hinter mir poche, die meine fliegenden Zeilen im Entstehen erhascht? - - Nein, nein, geliebte erste Leserin, nur sanft zusammenfahren über die Anrede sollst du jetzt vor so vielen Lesern, du beste, mit dem Monde hinter mir stehende und glänzende - Alithea!...
Ende der Geschichte
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